Archiv


Der Kniefall von Warschau

Mehr als 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, schrieb Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau Geschichte: Er kniet 30 Sekunden lang vor dem Denkmal des Warschauer Ghettoaufstandes nieder. Die Geste, die längst überfällig war, das sich Verneigen vor den Opfern des Holocaust, kam ausgerechnet von einem Mann, der selbst gegen die Nationalsozialisten gekämpft hatte.

Von Andreas Baum |
    "So wird das alles nicht in den Geschichtsbüchern stehen: dieses wilde, Füße scharrende Geschubse der Photographen, plötzlich, die Sekunde der Atemlosigkeit, das Erschrecken. Wo ist er? Was ist passiert? Ist er gestürzt? Ohnmächtig geworden?"

    Reporter, die dabei waren, wie Hermann Schreiber vom SPIEGEL, rangen noch Tage später um Worte, die beschreiben sollten, was passiert war. Der Staatsmann Willy Brandt mit den Knien auf dem nassen Asphalt, den Kopf geneigt, die Hände vor dem Leib zusammengelegt wie zum Gebet: Wenn dieses Bild inszeniert war, war es gut inszeniert. Bis heute sind sich die Augenzeugen uneins darüber, ob der Bundeskanzler am 7. Dezember 1970 seinen Kniefall vor dem Warschauer Ghetto-Denkmal geplant hatte. Brandt selbst gab später zu, dass ihm am Morgen zuvor klar gewesen war, dass hier ein besonderes Zeichen dringend nötig war. Die Delegation der Bundesregierung war in Polen, um den Warschauer Vertrag zu unterschreiben, in dem das Verhältnis der beiden Staaten normalisiert werden sollte. Dazu gehörte, dass Bonn die Westgrenze Polens anerkannte - ein Schritt, den deutsche Konservative bis zum Schluss zu verhindern versucht hatten. Der Besuch Brandts am Ghettodenkmal war eigentlich nur eine protokollarische Pflichtübung - auch Rundfunkreporter waren dabei, hörbar ergriffen.

    "Der Kanzler schritt langsam mit dem Kranz der Bundesregierung zum Ghettodenkmal, dem Denkmal das inmitten jener - das in jenem Stadtteil gebaut ist, der 1943 beim Aufstand jener Juden, die sich nicht wehrlos nach Auschwitz transportieren lassen wollten, niedergewalzt worden ist. Als der Kanzler dann vor dem Denkmal stand, fiel er, ja man muss es wirklich so sagen, fiel er plötzlich auf die Knie. Niemand konnte sich diesem Augenblick entziehen. Auch der Nüchternste war gebannt von diesem Augenblick."

    Es ist viel spekuliert worden über den Charakter des Kniefalls. War das ein Schuldbekenntnis, ein wohlüberlegtes gar? Eine Bitte um Vergebung? Wenn ja, in wessen Namen? Denn der Bundeskanzler gehörte nicht zu den Tätern im Dritten Reich, er war Exilant und im Widerstand, Willy Brandt war sein nom de guerre. Gerade deshalb, so schreibt der Spiegel-Reporter, war er und kein anderer zu dieser Geste fähig.

    "Wenn dieser nicht religiöse, für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabei gewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durchs ehemalige Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet - dann kniet er da nicht um seinetwillen. Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für all die, die es nötig haben, aber nicht da knien."

    Zu Hause, in Deutschland, waren viele anderer Ansicht.

    "Knien darf man nur vor Gott!"

    So titelte das Berliner Springer-Blatt BZ, worauf Brandt geantwortet haben soll:

    "Wissen diese Leute, vor wem ich gekniet habe?"

    Von der konservativen Presse derart angeheizt, wurden Deutschlands Medien in den Tagen nach dem Kniefall überhäuft von Briefen aufgebrachter Leser. Am wütendsten waren die Vertriebenen. Es fanden sich Schmähungen und sogar Morddrohungen unter den Einsendungen. In der Regel wurde Brandts Geste absichtlich falsch verstanden als die eines Mannes, der vor den Machthabern des Warschauer Paktes in die Knie gegangen ist.

    "Großer Genosse Brandt! Sie und Genosse Heinemann sind die großen Geister des Westens. Sie haben die Voraussetzung geschaffen für ein einiges Eurasien unter slawischer Führung."

    Das internationale Echo auf den Besuch in Warschau war dagegen fast durchgehend positiv. Willy Brandt gelang es, den ersten Schritt zur Versöhnung mit den osteuropäischen Ländern zu gehen - seine Vorgänger, insbesondere Konrad Adenauer, der die kompromisslose Westbindung des Bonner Teilstaates wollte, hatte dies sträflich vernachlässigt. Brandt dagegen wollte schon in seiner Regierungserklärung des Jahres 1969 eine andere Politik – ohne die Drohgebärde gen Osten.

    "Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben manche in diesem Land befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je, nein, wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an, wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Inneren und nach außen."

    Das Bild von Willy Brandts Kniefall gehört zu den Ikonen des 20. Jahrhunderts. Es hat wesentlich dazu beigetragen, Deutschland vor den Augen der Welt zu rehabilitieren.