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Der Konflikt als Chance des Fortschritts

Für Studenten der 68er-Generation war es unmöglich, von Ralf Dahrendorfs "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" nicht gefesselt zu sein. Die Begeisterung damals erinnert auch daran, dass seinerzeit Liberale wie Dahrendorf den Intellektuellen im Lande etwas zu sagen hatten.

Von Dieter Jepsen-Föge |
    Als Dahrendorfs Buch 1965 erscheint, ist Konrad Adenauer seit zwei Jahren nicht mehr Kanzler und die gemeinsame Regierung von CDU/CSU und FDP unter Kanzler Ludwig Erhard sollte wenig später der Großen Koalition Kiesinger/Brandt Platz machen. Dahrendorf gehörte zu den Kritikern der Adenauer-Ära. So steht am Ausgangspunkt seiner Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse die Frage: "Was muss geschehen, damit auch Deutschland ein Land liberaler Demokratie werden kann?" Dabei will er nicht etwa der Geschichte des deutschen Liberalismus ein weiteres Kapitel hinzufügen. Es gehe ihm um die "Verfassung der Freiheit", die er so beschreibt:

    Es gibt einen liberalen Zweifel, der den Herrschenden vor allem Schranken zu setzen, nicht Brücken zu bauen sucht. Es gibt eine Auffassung von Freiheit, die diese für das Individuum nur dort gewährleistet findet, wo experimentelle Gesinnung, konkurrierende soziale Kräfte und liberale politische Institutionen sich verbinden. Diese Auffassung hat in Deutschland nie recht Fuß fassen können. Warum nicht? Das ist die deutsche Frage.

    Die Sorge, die Dahrendorf damals umtrieb war die nach der Festigkeit der Demokratie im Nachkriegsdeutschland. Wie verwurzelt sind die demokratischen Institutionen in der Gesellschaft? Könnte die Bonner Republik doch das Schicksal der Weimarer Republik erleiden?

    Dahrendorf holt weit aus, um zu ergründen, warum sich Deutschland schwerer tut als etwa die angelsächsischen Demokratien. Er beschreibt die verspätete und beschleunigte Industrialisierung in Deutschland, die aber nicht dazu geführt habe, dass Deutschland bürgerlicher geworden sei. Die deutsche Gesellschaft sei feudal geblieben mit einem starken Staat, der streng und fürsorglich zugleich war:

    Das kaiserliche Deutschland hat es manchem seiner Bewohner schwer gemacht; im Großen und Ganzen aber konnte man in ihm in einiger Freiheit leben. Nur eines erlaubt der autoritäre Wohlfahrtsstaat nicht: Die Entfaltung des Untertanen zum vollen Staatsbürger mit allen Rechten. Seine Basis ist die Unmündigkeit derer, die in ihm leben und die wie die Kinder der patriarchalischen Familie gehalten werden.
    Die Entwicklung zu Staatsbürgern fordere gesellschaftliche Gleichheit. Dahrendorf meint damit natürlich die Chancen-, nicht die Ergebnisgleichheit:

    Gleiche Chancen bei der Auswahl für die höheren Bildungseinrichtungen sind ein Gebot der Staatsbürgerschaft, gleiche Schulabschlüsse für alle sind dies nicht.
    Die Beispiele mangelnder Chancengleichheit in der deutschen Nachkriegsgesellschaft lesen sich noch immer sehr aktuell. So etwa die Zahlen, die belegen, dass Kinder aus Arbeiterhaushalten nur zehn Prozent der Studenten stellten und mehr als ein Drittel aller deutschen Studierenden Kinder von Beamten waren. Von der besonderen Situation der Migrantenkinder konnte Dahrendorf Mitte der 60er-Jahre noch nichts ahnen. Dahrendorf staunt darüber, dass diese "halbierte Gesellschaft", wie er sie nennt, nicht nur von denen Oben, sondern auch von denen Unten so hingenommen werde.
    "Konflikt und Freiheit" ist eines der wichtigsten Kapitel überschrieben, eines, das an Gültigkeit nichts eingebüßt hat:

    Wo immer es menschliches Leben in Gesellschaft gibt, gibt es auch Konflikt.
    In anschaulichen Beispielen belegt er die deutsche Abneigung gegen politische Konflikte, die Sehnsucht nach der Synthese, nach einer Autorität, die über den Wassern des Streits schwebt, beschreibt den Mythos des Staates, der es richten soll. Dahrendorf plädiert geradezu leidenschaftlich dafür, den politischen Konflikt als Kriterium der Freiheit zu betrachten:

    Konflikt und Auseinandersetzung sind nicht Notlösung, schon gar nicht ein Mechanismus, um die eine, endgültig richtige Lösung – den einen Führer - zu finden, sondern Chance des Fortschritts ... Konflikte geben dem Wandel sein Tempo, seine Tiefe und seine Richtung. Wer sie durch Anerkennung und Regelung bändigt, hat damit den Rhythmus der Geschichte in seiner Kontrolle ... Liberale Demokratie ist Regierung durch Konflikt.
    Bis heute sind Konflikte und politischer Streit unpopulär. Wohl nur so sind die übersteigerten Heilserwartungen an einen Bundespräsidenten zu erklären, der über den Parteien steht. Auch die Denunzierung jeder Diskussion als "Streit" oder "Gezänk" verrät viel über die Sehnsucht nach Harmonie und das Verlangen nach einer autoritären Lösung von Konflikten. So ist Dahrendorfs Analyse besonders in diesen Teilen noch immer ein Spiegel deutscher Befindlichkeiten.

    Seine kritischen Beobachtungen und Befürchtungen klingen auch nach 45 Jahren noch aktuell:

    Ein Kartell der Angst regiert wider Willen; die große Zahl der Menschen verzichtet wissentlich auf die Teilnahme am politischen Prozess. Wesentlich Neues geschieht nicht ... Parlamentarische Institutionen bestehen fort, ohne noch mit Leben erfüllt zu sein, für das sie einmal ersonnen waren. Auch sonst wird das Ritual der demokratischen Prozedur durchaus beachtet. Aber es ist eben bloßes Ritual geworden, hinter dem weder eine soziale noch eine politische Wirklichkeit steht.
    So sei diese vielleicht immer noch wichtigste und tiefgründigste Analyse der Gesellschaft und Demokratie in Deutschland auch heute, zwanzig Jahre nach der deutschen Einheit und 45 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, zur Lektüre empfohlen. Institutionen und Verhältnisse haben sich zwar geändert. Die Grundmuster politischen Denkens und Handels aber bleiben erkennbar.

    Dieter Jepsen-Föge über Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Die 516 Seiten starke Originalausgabe ist 1965 im Piper Verlag erschienen und – wie auch alle Nachauflagen - nur noch antiquarisch erhältlich.