Schöller: "Als Wissenschaftler ist für uns natürlich Gott kein Faktor, der kommt in unserem Denkrahmen nicht vor. Wir gehen natürlich davon aus, dass der Koran irgendwann mal von einem Menschen oder von mehreren aufgeschrieben ist. Wir wissen ja nicht mal wo. Göttlichkeit kommt da als Faktor nicht vor."
Özsoy: "Ich glaube, dass der wesentliche Unterschied zwischen der nicht muslimischen Islamwissenschaft und der islamischen Theologie darin besteht, dass die wissenschaftliche Beschäftigung der Muslime mit ihrer eigene Religion, mit Koran, mit Sunna eigentlich die Offenbarung voraussetzt. Während die Islamwissenschaft so eine Voraussetzung nicht kennt. Und den Koran zum Beispiel als Autobiografie des Propheten Mohammed zu lesen versucht. Das empfinde ich als eine Selbstverständlichkeit, das ist letztendlich Glaubenssache."
Westliche Islamwissenschaft und muslimische Theologie haben sich gewöhnlich wenig zu sagen. Mit aufgeklärtem Blick überprüfen Islamforscher die Glaubensgrundsätze der Muslime: Woher weiß man, wann der Prophet was gesagt hat? Hat Mohammed überhaupt existiert? Bei den Muslimen wiederum steht der Glaube an die Wahrheit des Koran vor aller nüchternen Beschäftigung mit dem heiligen Text. Nichtmuslime behaupten deshalb oft, der Islam sei aufklärungsresistent. Weil er von seinen Gläubigen verlange, die Botschaften, die Mohammed von Gott empfing, unbefragt zu übernehmen. Und diese stehen oft quer zu unseren modernen Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde. Oder auch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen. So wird zum Beispiel Darwins Einsicht, dass der Mensch vom Affen abstamme, abgestritten, weil sie sich nicht mit der Botschaft des Koran verträgt. Prof. Tilman Nagel, emeritierter Islamwissenschaftler von der Universität Göttingen:
"Es ist schon so, dass die islamische Welt mit der modernen Wissenschaft ihre Probleme hat. Im Moment, dass die Sonne sich um die Erde dreht, ein Thema, das in Saudi-Arabien der große Mufti Ibn Bas in einem ganzen Buch behandelt hat, um nachzuweisen, dass der Koran recht hat. Und in Malaysia gibt es ein Institut, dass sich mit der Islamisierung der Naturwissenschaften beschäftigt. Das ist das Problem. Der orthodoxe Islam sagt, zwischen Glauben und Wissenschaft darf es keinen Unterschied geben."
Tilman Nagel veröffentlichte im vergangenen Jahr zwei umfangreiche Bücher über das Leben und die Wirkung Mohammeds. Und zeigt darin, dass schon der Prophet den Anspruch hatte, eine ewige Ordnung für das menschliche Zusammenleben zu verkünden:
"Mohammed ist aufgetreten mit dem Anspruch, eine Ordnung zu verkünden, die einen ewigen Bestand hat. Und die umfasst Regelungen, die wir nicht zur Religion zählen würden. Also er ist ja auch als Heerführer aufgetreten und gilt ja auch darin als vorbildhaft. Das muslimische Selbstverständnis ist doch von dem Gedanken geprägt, dass die ganze Welt islamisch werden soll und das dies auch bedeutet die Errichtung eines vollkommenen Reiches hier auf der Erde, das ist ganz klar. Und dieses Gedankengut, das kann man zurückhaltender auslegen oder bis hin zu den terroristischen Auslegungen, das ist ja das Problem."
In den ersten Jahrhunderten nach Mohammeds Tod im Jahr 632 allerdings hat es durchaus Versuche gegeben, dessen Botschaft aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Doch schnell ist die Überlieferung der Heiligen Schriften dogmatisiert worden.
Nagel: "Für den Muslim ist klar, dass es so und nicht anders von Mohammed gesagt und getan wurde, lebt die Zeit Mohameds weiter und reicht bis in die Gegenwart. In der islamischen Welt des neunten, zehnten Jahrhunderts, da hat man gesagt, klar Mohammed ist von Allah berufen worden. Aber alles, was Allah im Koran sagt, bezieht sich auf dessen spezielle Lebenssituation und kann gar keinen verpflichtenden Charakter haben. Das ist dann im elften ´Jahrhundert nur noch eine Denkweise, die von wenigen Minderheiten gepflegt wurde. Und das ist bis heute dabei geblieben."
Professor Ömer Özsoy, der an der Universität Frankfurt lehrt, gehört zu einer solchen Minderheit. Er ist der erste muslimische Theologieprofessor auf einem deutschen Lehrstuhl. In der Türkei gehörte er zur sogenannten Schule von Ankara, einer Reformströmung im Islam. Ömer Özsoy arbeitet an einer zeitgenössischen, modernen Koranauslegung. Und das, indem er auf frühe muslimische Gelehrte zurückgreift.
"Im frühen Islam war es eine Selbstverständlichkeit, dass man den Islam als etwas Historisches sah, es gab so ein historisches Bewusstsein aufgrund der Vorgeschichte des Korantextes. Aber das ist irgendwie in Vergessenheit geraten. Die zeitgenössischen Denker oder Theologen, die den Koran historisch-kritisch bearbeiten wollen, - was sie machen, besteht nur darin, zu erinnern an das, was vergessen worden ist. Das ist leichter, als Neues auf die Welt zu bringen."
Vor über 1000 Jahren versuchte die muslimische Schule der sogenannten "Mutasiliten" zwischen dem göttlichen Wort und der menschlichen Vernunft eine Brücke zu schlagen. Der Mensch, so hoben die Theologen damals hervor, ist der Adressat der göttlichen Botschaft. Der Mensch aber ist immer in Geschichte verstrickt.
"Übergeschichtlich sein kann nur Gott. Also in Bezug auf den Koran ist dann nur der Sender des Koran - nämlich Gott - übergeschichtlich. Aber den Koran können wir lesen, verstehen, begreifen. Aber wenn wir etwas begreifen, ist das nicht mehr absolut. Daher finde ich auch die Bezeichnung des Koran interessant, nämlich "Herabsendung" also vom Göttlichen ins Menschliche, daher trennt sich der Koran als Text in einer menschlichen Sprache auf, als arabische Sprache vom Wort Gottes."
Wenn also der Mensch der Adressat des heiligen Textes ist, dann muss dieser Text in einer menschlichen Sprache abgefasst sein. In der Sprache der Araber des 7. Jahrhunderts also. Das göttliche Wort hält sich demnach an die Regeln und Formen dieser Sprache. Und deshalb ist der Koran zwar eine Schöpfung Gottes, so Ömer Özsoy, aber eben nicht dessen ewige, wörtliche Äußerung. Der Koran ist keine zeitlose Offenbarung, sondern die aktuelle Rede Gottes an eine bestimmte Gruppe Menschen in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit. Auch wenn gerade das von vielen muslimischen Theologen bestritten wird.
"Im Koran spricht nicht Gott, weil Gott weder arabisch noch deutsch sprechen würde. Also, wenn er spricht, wird es hell, das ist bekannt. Aber wenn er in einer menschlichen Sprache spricht, dann muss das interpretiert werden, dann lässt er sich begrenzen durch Grammatik und andere Regeln. Daher sind die Regelungen, Bestimmungen eigentlich menschliche Bestimmungen. Also die Gesetzgebung ist an sich menschlich und kann auch nicht anders sein. Und das ist die Folge: Was wir im Koran lesen, das ist eher Spiegel dessen, was da eigentlich der Fall war, die Situation, die damals aktuell war, ist nicht unsere Situation."
Er habe viele Freunde in der Geschichte, meint Ömer Özsoy zweideutig. Freunde in den Büchern und Texten vergangener Epochen, die ähnlich dachten, wie der türkische Theologe heute. In der Gegenwart, so muss man wohl ergänzen, gibt es nicht so viele davon. - Trotzdem, meint wiederum der Münsteraner Islamwissenschaftler Professor Marco Schöller, macht der Westen es sich zu einfach, wenn er meint, in der muslimischen Welt gebe es keine moderne Lesarten des Koran, sondern nur die Verfolgung von kritischen Theologen.
"Es gibt den nordafrikanischen Bereich, wo sehr rege Diskussionen geführt werden auch durch die enge Nähe zu Frankreich. Es gibt eine riesige innerislamische Streitliteratur auf Französisch, die hier in Deutschland gar nicht ankommt. Es gibt Indonesien, wo es eine sehr rege Debatte gibt über islamische Werte. Und auch die Streitkultur und innerislamische Auseinandersetzung im Iran ist sehr viel heftiger, als wir es uns vorstellen und es uns in den Medien verkauft wird. Natürlich können Sie keine grundsätzlichen Dinge behaupten, wie, ich glaube nicht, dass Gott existiert oder dass es den Propheten gegeben hat, dann haben Sie möglicherweise doch ein Problem. In Nordafrika auch nicht unbedingt, im Iran schon."
Marco Schöller weist darauf hin, dass es auch den muslimischen Theologen durchaus klar sei, wie vieldeutig und interpretationsbedürftig die Botschaft des Koran ist. Allerdings gebe es zunehmend den Versuch, solche Vieldeutigkeiten zugunsten einer allgemeinverbindlichen, letztgültigen Interpretation zu unterdrücken.
"Es ist nicht so einfach diese Buchstabengläubigkeit, so einfach ist das nicht. Sie können den Koran nicht einfach buchstabengläubig rezipieren, wenn Sie nicht mal wissen, was da eigentlich steht. Also, was bedeutet das eigentlich? Also es geht nicht mal um die Frage, was will uns damit gesagt sein, sondern es geht darum, was bedeuten diese arabischen Worte, auf dieser Ebene ist es. Auch der schlimmste Fundamentalist wird das im Prinzip anerkennen. Alle wissen, dass auch die Überlieferung sprachlich schwer fassbar ist. Der Punkt, in dem sie sich unterscheiden, ist der Punkt, inwieweit sie dann glauben, dass sie zur richtigen Deutung gelangen."
Özsoy: "Das rührt natürlich nicht daraus her, dass sie dumme Menschen sind, sondern dass sie Bedenken haben. Dass sie, weil es um das Wort Gottes geht, wenn Gott was bestimmt hat, muss das für alle Zeiten gültig sein. Man fürchtet sich vor Vermenschlichung der Gesetzgebung."
Der Fundamentalismus reagiert auf eine als bedrohlich empfundene Moderne, in der alle Normen und Werte im Treibsand der Geschichte relativiert werden. In der Gott weiter und weiter zurück weicht hinter Ordnungen, in denen man immer nur Menschliches entdeckt. Für Ömer Özsoy müssen sich die Muslime trotzdem der Erkenntnis stellen: Dass es keine unabänderlichen Ordnungen gibt, kein ein für allemal festgelegtes Verhältnis zwischen Männern und Frauen, keine Scharia, die ein ewiges göttliches Gesetz ausdrückt.
" Das mit Frauen zum Beispiel, das mit Körperstrafen. Nämlich dass der Koran auf die Geschichte, in der er zustande gekommen ist, bezogen wird. Er hat weitere Schritte gemacht in Richtung Verbesserung der Stellung der Frau in der Gesellschaft und der Familie. Und was die Sklaven angeht ist das genau so. Verkehrt ist und eine krankhafte Vorstellung ist bei Muslimen, die leider sehr verbreitet ist, dass man die Aussagen des Koran oder die Bestimmungen des Koran als die für alle Zeiten gedachte Vorschriften sieht."
Aber was bleibt von den göttlichen Wahrheiten, wenn sie stets durch den Filter der Geschichte getrieben werden müssen? Welche übergeschichtliche Moral lässt sich dann noch im Koran finden, welche universale Verbindlichkeit, modern gesprochen?
Özsoy: "Also wenn wir etwas vom Koran wissen können nämlich die Existenz Gottes, Glaubensgrundlagen, die aus drei Prinzipien bestehen: Existenz Gottes, Einigkeit, Einzigkeit und Jenseitsglaube. Also dass der Mensch das Bewusstsein haben soll, eines Tages zur Rechenschaft gezogen zu werden. Und davon leitet natürlich die Ethik ab, dementsprechend muss ich mich verhalten. Die muslimischen Gelehrten sind der Frage nachgegangen. Eine ethische Norm soll zu diesen Zwecken dienen, nämlich Schutz vom Leben, vom Eigentum, von Freiheit, also Glauben- und Gedankenfreiheit, Schutz von Generationen, also der menschlichen Generationen und Schutz von Vernunft." Der Koran muss interpretiert werden. Und das setzt menschliche Vernunft voraus. So müssen sich die Botschaft des Koran und die Moderne keineswegs widersprechen. Allerdings, darauf weist der Münsteraner Islamwissenschaftler Prof. Marco Schöller hin, wird im Namen einer absoluten Wahrheit das Andere schnell zum Falschen, das bekämpft werden muss. Deshalb neigen alle monotheistischen Religionen zum Fundamentalismus. Auch das Christentum hatte gewalttätige Züge, bis es endlich von der Aufklärung in seine Schranken gewiesen wurde.
Eine Aufklärung allerdings ist im Islam derzeit wirklich nicht in Sicht. Aufklärer wie Ömer Özsoy allerdings schon. Marco Schöller:
"Ich würde sagen, der Fundamentalismus liegt dem Islam genau so nahe wie dem Judentum. Jetzt kann man sich mal fragen, wo gibt's im Judentum Fundamentalismus? Den hat's immer mal wieder gegeben, aber es ist keine dominante Strömung. Judentum und Islam sind sehr vergleichbar. Was hier am besten bekannt ist, ist diese Rabbikultur, die es leider gar nicht mehr gab nach dem Holocaust. Das sind diese Rabbis, die zusammensitzen und den ganzen Tag diskutieren, die ganze Woche lang. Jeder hat eine Meinung, sie zerstreiten sich, am Ende kommt nix dabei raus, jeder bleibt bei seiner Meinung, das ist die islamische Kultur. Bis in die Neuzeit, bis ins 19., 20. Jahrhundert war das eigentlich der Zugang zur Überlieferung. Und der Fundamentalismus versucht natürlich genau das zu verhindern: Da ist eine Dogmatisierung im Gange, dass man sagt, wir hören jetzt auf mit dem Diskutieren, wir wissen dass die Überlieferung vielschichtig ist, aber wir glauben jetzt das und das und zwar aus folgenden Gründen. Also es ist eine Möglichkeit, die dem Islam inhärent ist und zwar qua monotheistischer Religion. Dass es eigentlich ein islamtypisches Phänomen ist, würde ich abstreiten."
Özsoy: "Ich glaube, dass der wesentliche Unterschied zwischen der nicht muslimischen Islamwissenschaft und der islamischen Theologie darin besteht, dass die wissenschaftliche Beschäftigung der Muslime mit ihrer eigene Religion, mit Koran, mit Sunna eigentlich die Offenbarung voraussetzt. Während die Islamwissenschaft so eine Voraussetzung nicht kennt. Und den Koran zum Beispiel als Autobiografie des Propheten Mohammed zu lesen versucht. Das empfinde ich als eine Selbstverständlichkeit, das ist letztendlich Glaubenssache."
Westliche Islamwissenschaft und muslimische Theologie haben sich gewöhnlich wenig zu sagen. Mit aufgeklärtem Blick überprüfen Islamforscher die Glaubensgrundsätze der Muslime: Woher weiß man, wann der Prophet was gesagt hat? Hat Mohammed überhaupt existiert? Bei den Muslimen wiederum steht der Glaube an die Wahrheit des Koran vor aller nüchternen Beschäftigung mit dem heiligen Text. Nichtmuslime behaupten deshalb oft, der Islam sei aufklärungsresistent. Weil er von seinen Gläubigen verlange, die Botschaften, die Mohammed von Gott empfing, unbefragt zu übernehmen. Und diese stehen oft quer zu unseren modernen Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde. Oder auch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen. So wird zum Beispiel Darwins Einsicht, dass der Mensch vom Affen abstamme, abgestritten, weil sie sich nicht mit der Botschaft des Koran verträgt. Prof. Tilman Nagel, emeritierter Islamwissenschaftler von der Universität Göttingen:
"Es ist schon so, dass die islamische Welt mit der modernen Wissenschaft ihre Probleme hat. Im Moment, dass die Sonne sich um die Erde dreht, ein Thema, das in Saudi-Arabien der große Mufti Ibn Bas in einem ganzen Buch behandelt hat, um nachzuweisen, dass der Koran recht hat. Und in Malaysia gibt es ein Institut, dass sich mit der Islamisierung der Naturwissenschaften beschäftigt. Das ist das Problem. Der orthodoxe Islam sagt, zwischen Glauben und Wissenschaft darf es keinen Unterschied geben."
Tilman Nagel veröffentlichte im vergangenen Jahr zwei umfangreiche Bücher über das Leben und die Wirkung Mohammeds. Und zeigt darin, dass schon der Prophet den Anspruch hatte, eine ewige Ordnung für das menschliche Zusammenleben zu verkünden:
"Mohammed ist aufgetreten mit dem Anspruch, eine Ordnung zu verkünden, die einen ewigen Bestand hat. Und die umfasst Regelungen, die wir nicht zur Religion zählen würden. Also er ist ja auch als Heerführer aufgetreten und gilt ja auch darin als vorbildhaft. Das muslimische Selbstverständnis ist doch von dem Gedanken geprägt, dass die ganze Welt islamisch werden soll und das dies auch bedeutet die Errichtung eines vollkommenen Reiches hier auf der Erde, das ist ganz klar. Und dieses Gedankengut, das kann man zurückhaltender auslegen oder bis hin zu den terroristischen Auslegungen, das ist ja das Problem."
In den ersten Jahrhunderten nach Mohammeds Tod im Jahr 632 allerdings hat es durchaus Versuche gegeben, dessen Botschaft aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Doch schnell ist die Überlieferung der Heiligen Schriften dogmatisiert worden.
Nagel: "Für den Muslim ist klar, dass es so und nicht anders von Mohammed gesagt und getan wurde, lebt die Zeit Mohameds weiter und reicht bis in die Gegenwart. In der islamischen Welt des neunten, zehnten Jahrhunderts, da hat man gesagt, klar Mohammed ist von Allah berufen worden. Aber alles, was Allah im Koran sagt, bezieht sich auf dessen spezielle Lebenssituation und kann gar keinen verpflichtenden Charakter haben. Das ist dann im elften ´Jahrhundert nur noch eine Denkweise, die von wenigen Minderheiten gepflegt wurde. Und das ist bis heute dabei geblieben."
Professor Ömer Özsoy, der an der Universität Frankfurt lehrt, gehört zu einer solchen Minderheit. Er ist der erste muslimische Theologieprofessor auf einem deutschen Lehrstuhl. In der Türkei gehörte er zur sogenannten Schule von Ankara, einer Reformströmung im Islam. Ömer Özsoy arbeitet an einer zeitgenössischen, modernen Koranauslegung. Und das, indem er auf frühe muslimische Gelehrte zurückgreift.
"Im frühen Islam war es eine Selbstverständlichkeit, dass man den Islam als etwas Historisches sah, es gab so ein historisches Bewusstsein aufgrund der Vorgeschichte des Korantextes. Aber das ist irgendwie in Vergessenheit geraten. Die zeitgenössischen Denker oder Theologen, die den Koran historisch-kritisch bearbeiten wollen, - was sie machen, besteht nur darin, zu erinnern an das, was vergessen worden ist. Das ist leichter, als Neues auf die Welt zu bringen."
Vor über 1000 Jahren versuchte die muslimische Schule der sogenannten "Mutasiliten" zwischen dem göttlichen Wort und der menschlichen Vernunft eine Brücke zu schlagen. Der Mensch, so hoben die Theologen damals hervor, ist der Adressat der göttlichen Botschaft. Der Mensch aber ist immer in Geschichte verstrickt.
"Übergeschichtlich sein kann nur Gott. Also in Bezug auf den Koran ist dann nur der Sender des Koran - nämlich Gott - übergeschichtlich. Aber den Koran können wir lesen, verstehen, begreifen. Aber wenn wir etwas begreifen, ist das nicht mehr absolut. Daher finde ich auch die Bezeichnung des Koran interessant, nämlich "Herabsendung" also vom Göttlichen ins Menschliche, daher trennt sich der Koran als Text in einer menschlichen Sprache auf, als arabische Sprache vom Wort Gottes."
Wenn also der Mensch der Adressat des heiligen Textes ist, dann muss dieser Text in einer menschlichen Sprache abgefasst sein. In der Sprache der Araber des 7. Jahrhunderts also. Das göttliche Wort hält sich demnach an die Regeln und Formen dieser Sprache. Und deshalb ist der Koran zwar eine Schöpfung Gottes, so Ömer Özsoy, aber eben nicht dessen ewige, wörtliche Äußerung. Der Koran ist keine zeitlose Offenbarung, sondern die aktuelle Rede Gottes an eine bestimmte Gruppe Menschen in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit. Auch wenn gerade das von vielen muslimischen Theologen bestritten wird.
"Im Koran spricht nicht Gott, weil Gott weder arabisch noch deutsch sprechen würde. Also, wenn er spricht, wird es hell, das ist bekannt. Aber wenn er in einer menschlichen Sprache spricht, dann muss das interpretiert werden, dann lässt er sich begrenzen durch Grammatik und andere Regeln. Daher sind die Regelungen, Bestimmungen eigentlich menschliche Bestimmungen. Also die Gesetzgebung ist an sich menschlich und kann auch nicht anders sein. Und das ist die Folge: Was wir im Koran lesen, das ist eher Spiegel dessen, was da eigentlich der Fall war, die Situation, die damals aktuell war, ist nicht unsere Situation."
Er habe viele Freunde in der Geschichte, meint Ömer Özsoy zweideutig. Freunde in den Büchern und Texten vergangener Epochen, die ähnlich dachten, wie der türkische Theologe heute. In der Gegenwart, so muss man wohl ergänzen, gibt es nicht so viele davon. - Trotzdem, meint wiederum der Münsteraner Islamwissenschaftler Professor Marco Schöller, macht der Westen es sich zu einfach, wenn er meint, in der muslimischen Welt gebe es keine moderne Lesarten des Koran, sondern nur die Verfolgung von kritischen Theologen.
"Es gibt den nordafrikanischen Bereich, wo sehr rege Diskussionen geführt werden auch durch die enge Nähe zu Frankreich. Es gibt eine riesige innerislamische Streitliteratur auf Französisch, die hier in Deutschland gar nicht ankommt. Es gibt Indonesien, wo es eine sehr rege Debatte gibt über islamische Werte. Und auch die Streitkultur und innerislamische Auseinandersetzung im Iran ist sehr viel heftiger, als wir es uns vorstellen und es uns in den Medien verkauft wird. Natürlich können Sie keine grundsätzlichen Dinge behaupten, wie, ich glaube nicht, dass Gott existiert oder dass es den Propheten gegeben hat, dann haben Sie möglicherweise doch ein Problem. In Nordafrika auch nicht unbedingt, im Iran schon."
Marco Schöller weist darauf hin, dass es auch den muslimischen Theologen durchaus klar sei, wie vieldeutig und interpretationsbedürftig die Botschaft des Koran ist. Allerdings gebe es zunehmend den Versuch, solche Vieldeutigkeiten zugunsten einer allgemeinverbindlichen, letztgültigen Interpretation zu unterdrücken.
"Es ist nicht so einfach diese Buchstabengläubigkeit, so einfach ist das nicht. Sie können den Koran nicht einfach buchstabengläubig rezipieren, wenn Sie nicht mal wissen, was da eigentlich steht. Also, was bedeutet das eigentlich? Also es geht nicht mal um die Frage, was will uns damit gesagt sein, sondern es geht darum, was bedeuten diese arabischen Worte, auf dieser Ebene ist es. Auch der schlimmste Fundamentalist wird das im Prinzip anerkennen. Alle wissen, dass auch die Überlieferung sprachlich schwer fassbar ist. Der Punkt, in dem sie sich unterscheiden, ist der Punkt, inwieweit sie dann glauben, dass sie zur richtigen Deutung gelangen."
Özsoy: "Das rührt natürlich nicht daraus her, dass sie dumme Menschen sind, sondern dass sie Bedenken haben. Dass sie, weil es um das Wort Gottes geht, wenn Gott was bestimmt hat, muss das für alle Zeiten gültig sein. Man fürchtet sich vor Vermenschlichung der Gesetzgebung."
Der Fundamentalismus reagiert auf eine als bedrohlich empfundene Moderne, in der alle Normen und Werte im Treibsand der Geschichte relativiert werden. In der Gott weiter und weiter zurück weicht hinter Ordnungen, in denen man immer nur Menschliches entdeckt. Für Ömer Özsoy müssen sich die Muslime trotzdem der Erkenntnis stellen: Dass es keine unabänderlichen Ordnungen gibt, kein ein für allemal festgelegtes Verhältnis zwischen Männern und Frauen, keine Scharia, die ein ewiges göttliches Gesetz ausdrückt.
" Das mit Frauen zum Beispiel, das mit Körperstrafen. Nämlich dass der Koran auf die Geschichte, in der er zustande gekommen ist, bezogen wird. Er hat weitere Schritte gemacht in Richtung Verbesserung der Stellung der Frau in der Gesellschaft und der Familie. Und was die Sklaven angeht ist das genau so. Verkehrt ist und eine krankhafte Vorstellung ist bei Muslimen, die leider sehr verbreitet ist, dass man die Aussagen des Koran oder die Bestimmungen des Koran als die für alle Zeiten gedachte Vorschriften sieht."
Aber was bleibt von den göttlichen Wahrheiten, wenn sie stets durch den Filter der Geschichte getrieben werden müssen? Welche übergeschichtliche Moral lässt sich dann noch im Koran finden, welche universale Verbindlichkeit, modern gesprochen?
Özsoy: "Also wenn wir etwas vom Koran wissen können nämlich die Existenz Gottes, Glaubensgrundlagen, die aus drei Prinzipien bestehen: Existenz Gottes, Einigkeit, Einzigkeit und Jenseitsglaube. Also dass der Mensch das Bewusstsein haben soll, eines Tages zur Rechenschaft gezogen zu werden. Und davon leitet natürlich die Ethik ab, dementsprechend muss ich mich verhalten. Die muslimischen Gelehrten sind der Frage nachgegangen. Eine ethische Norm soll zu diesen Zwecken dienen, nämlich Schutz vom Leben, vom Eigentum, von Freiheit, also Glauben- und Gedankenfreiheit, Schutz von Generationen, also der menschlichen Generationen und Schutz von Vernunft." Der Koran muss interpretiert werden. Und das setzt menschliche Vernunft voraus. So müssen sich die Botschaft des Koran und die Moderne keineswegs widersprechen. Allerdings, darauf weist der Münsteraner Islamwissenschaftler Prof. Marco Schöller hin, wird im Namen einer absoluten Wahrheit das Andere schnell zum Falschen, das bekämpft werden muss. Deshalb neigen alle monotheistischen Religionen zum Fundamentalismus. Auch das Christentum hatte gewalttätige Züge, bis es endlich von der Aufklärung in seine Schranken gewiesen wurde.
Eine Aufklärung allerdings ist im Islam derzeit wirklich nicht in Sicht. Aufklärer wie Ömer Özsoy allerdings schon. Marco Schöller:
"Ich würde sagen, der Fundamentalismus liegt dem Islam genau so nahe wie dem Judentum. Jetzt kann man sich mal fragen, wo gibt's im Judentum Fundamentalismus? Den hat's immer mal wieder gegeben, aber es ist keine dominante Strömung. Judentum und Islam sind sehr vergleichbar. Was hier am besten bekannt ist, ist diese Rabbikultur, die es leider gar nicht mehr gab nach dem Holocaust. Das sind diese Rabbis, die zusammensitzen und den ganzen Tag diskutieren, die ganze Woche lang. Jeder hat eine Meinung, sie zerstreiten sich, am Ende kommt nix dabei raus, jeder bleibt bei seiner Meinung, das ist die islamische Kultur. Bis in die Neuzeit, bis ins 19., 20. Jahrhundert war das eigentlich der Zugang zur Überlieferung. Und der Fundamentalismus versucht natürlich genau das zu verhindern: Da ist eine Dogmatisierung im Gange, dass man sagt, wir hören jetzt auf mit dem Diskutieren, wir wissen dass die Überlieferung vielschichtig ist, aber wir glauben jetzt das und das und zwar aus folgenden Gründen. Also es ist eine Möglichkeit, die dem Islam inhärent ist und zwar qua monotheistischer Religion. Dass es eigentlich ein islamtypisches Phänomen ist, würde ich abstreiten."