Samstag, 20. April 2024

Archiv


Der Koran im Schülerlabor

Corpus Coranicum heißt ein noch junges Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, das an einer kritischen Edition des Korantextes arbeitet. Schüler aus dem Grund- und Leistungskurs Deutsch sind über das Schülerlabor Geisteswissenschaften daran beteiligt - und beschäftigen sich mit Textdokumentation, Interpretation und Rezitation.

Von Bettina Mittelstraß | 01.05.2008
    "Also, der Koran ist einerseits natürlich kein Text wie alle anderen. Wir hatten auch selbst intern Diskussionen: Kann man den Koran jetzt didaktisch so vermitteln wie alle anderen Texte?"

    "Wir haben versucht, bei diesem Schülerlabor die spezifische Ästhetik des Korans auch einzubeziehen. Das ist uns wichtig. Also, der Koran wird heute ja häufig irgendwie als Pro-grammschrift für politische Unruhestifter gelesen. Er hat natürlich auch ganz andere Dimensionen, und die wollen wir vermitteln. Wir wollen seine spezifische Mündlichkeit vermitteln, und auch seine spezifische Schönheit. Und um beides zu tun, beginnen wir mit einer akustischen Darbietung: Wir spielen eine Rezitation vor, und zwar zunächst arabisch."

    Schüler aus einem Grund- und Leistungskurs Deutsch sitzen in den Räumen der Akademie der Wissenschaften am Berliner Gendarmenmarkt und lauschen. Sie wissen, sie hören eine Sure aus dem Koran. Aber was sie damit verbinden, sind allenfalls Reisen nach Istanbul oder in den Iran. Auf die Frage, warum sie denn gekommen seien, bekennen sie offenherzig eine große Ahnungslosigkeit, die sie hier gegen Wissen eintauschen möchten.

    "Ich gehöre halt auch dem muslimischen Glauben an, also, ich komm aus dem Iran, aber leider habe ich so gar nichts damit zu tun."

    "Ich muss sagen, dass ich, was Religion angeht, neutral bin, und demnach nicht viel weiß."

    "Man hört dann immer wieder mal was, und eignet sich das so an als eigene Meinung - und kann dann so drei Worte dazu sagen, und weiß eigentlich überhaupt nichts..."

    "Also, ich weiß halt auch ziemlich wenig darüber. Auch über die Geschichte weiß ich ziemlich wenig."

    Das soll sich nun ändern. Yvonne Pauly, die Leiterin des Schülerlabors an der Berlin-Brandenburgischen Akademie, hat viele praktische Arbeitsaufgaben für die Schüler vorbereitet.

    "Uns geht es ja im Schülerlabor ganz stark darum, wissenschaftliche Haltung und wissen-schaftliche Zugangsweise zu vermitteln, eben einen wissenschaftlichen Zugang auch zu dieser Art von Text. Und ich denke, es ist ein großer Gewinn, wenn man Schülern vermitteln kann, ja, dass man auch mit einem religiösen Text wissenschaftlich umgehen kann, dass er Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses sein kann. Also, das scheint mir ein ganz wichtiges Ziel zu sein eines solchen Schülerlabors."

    Ganz konkret sollen die Schüler Einblick in die Arbeit der Wissenschaftler im Corpus Corani-cum bekommen. Das ist ein noch junges Projekt an der Akademie, das sich seit Anfang 2007 auf neue Wege begibt und an einer kritischen Edition des Korantextes arbeitet. Nicolai Sinai, Mitarbeiter im Corpus Coranicum:

    "Wenn man sich das Forschungsfeld der Koranwissenschaft anguckt, fällt eigentlich auf, dass es eine sehr begrenzte Anzahl von Leuchtturmproblemen gibt, zu denen sehr viel Tinte vergossen worden ist - meistens sind das schwierige Lexema, also Worte, deren Bedeutung schwierig zu deuten ist. Also, diese Dinge greift man sich raus, da ist sehr viel dazu geschrieben worden. Aber weite Partien des Textes liegen eigentlich noch im Dunkeln. Zu denen findet man auch nichts, wenn man sich dafür interessiert. Und dieses Ungleichgewicht, das möchten wir vor allen Dingen beheben, indem wir eben den ganzen Text einmal ausführlich durchkommentieren, was es bis jetzt in den westlichen Sprachen eigentlich noch nicht gibt."

    Der literaturwissenschaftliche Kommentar ist nur eine von drei Teilaufgaben, die sich das Projekt gestellt hat. Eine andere Aufgabe ist zunächst die Textdokumentation - das heißt, alte Handschriften aus den ersten Jahrhunderten nach der Entstehung des Korantextes werden gesichtet und für weitere Forschung bereitgestellt. Das klingt nach klassischer Editionsarbeit - wären da nicht die mündlichen Lesetraditionen des Textes, die vielfältigen Rezitationsfor-men, die auch berücksichtigt werden müssen, wenn man sich mit dem Koran beschäftigt. Die wörtliche Übersetzung "Koran" aus dem Arabischen heißt "Lesung", "Rezitation" - das lernen die Schüler als erstes. Der Koran, das bedeutet immer auch ein Hörerlebnis.

    "Das muss man sich so vorstellen, wie es auch in der jüdischen Tradition Rezitationsformen gibt, wie man die heiligen Texte liest. Im Christentum gibt es das auch, das kann man noch im westlichen Christentum erkennen, wenn das Evangelium zu feierlichen Anlässen in besonderer Weise gelesen wird. In den orthodoxen, also im östlichen Christentum ist das, denke ich, ohnehin bekannt."

    Wie schwer der Umgang mit alten arabischen Texten ist, die offenbar mehr eine Gedächtnisstütze für unterschiedliche Lesungen sein sollten als fest gefügte Schriftsätze, erfahren die Schüler an einem anschaulichen Beispiel. Arabisch ist eine Konsonantenschrift, und wenn - wie in einem altarabischen Beispiel - Hinweise auf Vokale fehlen, weil der Rezitierende sie ohnehin aus dem Gedächtnis wusste, dann wird es für heutige Leser schwer. Das ist so, als hätte man im Deutschen nur eine Reihe Schriftzeichen: MNMNGTTSDS..., und so weiter. Was soll das heißen? werden die Schüler gefragt. Begeistertes Rätselraten:

    "Dürfen wir laut reinwerfen?"
    "Ja, sicher."
    "Ich würde sagen, auf jeden Fall: Im Namen Gottes."
    "Sehr gut."
    "Und des Barhmerzigen..."
    "Des Erbarmers."

    "Ja, das ging ja hier im Affenzahn: 'Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers". Das ist die deutsche Version der sogenannten Basmala. Das ist die arabische Formel 'bismilah archmai achim'."

    "Im Namen Gottes des barmherzigen Erbarmers
    Wenn sich die Sonne zusammenballt
    Wenn der Sterne leuchten verhallt
    Wenn die Berge werden bewegt
    Wenn hochträcht’ge Kamele nicht mehr gepflegt
    Wenn wilde Tiere zusammenlaufen..."


    Als die Schüler den deutschen Text der Sure 81 des Korans hören, ist nicht nur die auf den Inhalt gerichtete Neugierde befriedigt, son-dern auch die Überraschung groß. Erst erinnert die Formel, die so-genannte Basmala, die alle Suren bis auf eine einleitet, an die christliche Formel: Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes. Und dann kommt so manchem auch der weitere Inhalt der Sure bekannt vor:

    "Das erinnert einen an die Offenbarung des Johannes, die Apokalypse: der einstürzende Himmel."

    Überraschung bei Frau Pauly und dem anwesenden Philologen Nicolai Sinai. So schnell stoßen Schüler selten ins Herz der wissenschaftlichen Forschung zum Koran vor.

    "Also, es ist immer wieder überraschend festzustellen, was dann doch an Antworten ganz schnell kommt. Wo man zunächst denkt, das muss man sich lang und breit erarbeiten, und dann kommt das so wie aus der Pistole geschossen. Also, das war schon eine sehr angenehme Erfahrung mit dieser Gruppe. Und so zeigt sich auch, dass im Grunde so ein Grundinteresse an intensiver Textlektüre - was man als eine Art Außenseiterinteresse vielleicht erstmal verstehen würde - dass das eigentlich da ist, dass man da auch Unbe-teiligte irgendwie mit hineinnehmen kann, dass das erklärbar ist und gar nichts Esoterisches."

    Bereitwillig und sehr konzentriert stürzen sich die Schüler weiter in die intensive Textlektüre. Was in der relativ kurzen Sure Nummer 81 im ersten Moment an die Apokalypse in der Bibel erinnert, transportiert bei näherer Betrachtung eine ureigene Botschaft. Schon am Beispiel der Eingangsformel, der Basmala, wird klar gemacht, dass hier im frühen 7. Jahrhundert - also in der Entstehungszeit des Korans - dem christlich oder jüdisch geprägten Umfeld etwas Neues erzählt werden soll.

    Eine neue Botschaft wird verbreitet, die anders deutet, was offenbar als bekannt vorausgesetzt werden kann. Es heißt eben nicht mehr "Im Namen Gottes, des Sohnes und des heiligen Geistes", auch wenn der Stil der Formel daran erinnert. Aber: "Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers" betont den einen Gott.

    "Ein klares Insistieren auf die Einheit Gottes. Auf diesen klaren Monotheismus, der im Islam so eine wichtige Rolle spielt. Das heißt, man hat beides: Man hat sozusagen gemeinsamen Hintergrund, geteiltes Sprach- und Traditionsgut. Und vor diesem Hintergrund hebt sich dann die inhaltliche, theologische Eigenaussage des Korans noch umso klarer ab."

    Das macht die Texte des Korans für eine vom Christentum geprägte Gesellschaft um einiges verständlicher. Und dahin zielt auch die wissenschaftliche Arbeit im "Corpus Coranicum". Man will klar machen, dass die Weltreligion Islam nicht irgendwo in einsamer, wüstenähnlicher Fremde und so völlig anders alle anderen Religionen entstanden ist, sondern kulturell sehr wohl in einen Kulturraum gehört, den Europa als seine Wiege beansprucht.

    Konkret sieht das so aus: Die Wissenschaftler stellen den für zukünftige Forschung ausge-wählten Textstellen des Korans sogenannte Intertexte in einer Datenbank zur Seite. Das sind vorwiegend christliche und jüdische Textstellen aus der Zeit bis etwa zum 10. Jahrhundert. Die Schüler bekommen eine ähnliche Aufgabe. Im Koran selbst oder in der Bibel sollen sie Stichworte nachschlagen, die ihnen in Sure 81 nicht sofort klar sind. Von was für Büchern ist zum Beispiel da die Rede?

    "Wenn die Bücher werden aufgeschlagen
    Wenn der Himmel wird abgetragen
    Wenn das Höllenfeuer wird angefacht
    Wenn der Garten wird nahe gebracht
    Dann weiß die Seele, was sie vollbracht"


    "Das nächste, in 20, ist: 'Siehe ich glaubte, meiner Rechenschaft zu begegnen.' Das ist, was wir gerade gesagt haben, dass man mit dem Leben konfrontiert wird."
    "Das Buch entscheidet sozusagen, ob du in den Himmel kommst oder in die Hölle."

    "Und so zwei, drei Deutungsalternativen, die dann vorgeschlagen wurden, über die war ich mir selbst noch gar nicht klar geworden. Das wird jetzt auch irgendwie in diesen Kommentar reinkommen. Zwei, drei Beobachtungen, die fand ich wirklich neu, und da habe ich insofern auch selber von profitiert. Also, das hätte durchaus auch ein Unikurs sein können."

    Und auch die Schüler fühlen sich am Ende um wichtige Perspektiven bereichert. Ruth Lechner und Johanna Kreutz:

    "Ich dachte eigentlich, bevor ich hierher gekommen bin, dass es sehr große Unterschiede gibt, auch so allgemein, von dem was man glaubt. Und jetzt, dadurch, dass ich gesehen habe, dass es wirklich auch Parallelen gibt und dass man mithilfe von beiden Religionen eigentlich die ein oder andere verstehen kann - das finde ich schon sehr hilfreich."

    "Jüngstes Gericht, Leben nach dem Tod, auch mit dem Teufel sich zu beschäftigen, mit dem Böse und so was alles, und mit Gott und seinen Vertretern, den Propheten und so - also es gibt natürlich auch inhaltliche Unterschiede, das haben wir auch so ein bisschen besprochen. Dass zum Beispiel diese Dreifaltigkeit, dass man im Islam glaubt, dass das nicht vertretbar ist mit diesem monotheistischen Glauben, also so was haben wir auch erfahren."

    "Also, wir haben eine Freundin, die auch islamisch ist. Und mit ihr darüber zu reden, ist doch jetzt noch mal spannender, weil man jetzt einfach eine Grundlage hat, von der man diskutieren könnte. Vorher habe ich mich nicht so in der Lage gefühlt, wirklich eine Meinung drüber zu äußern, weil ich einfach kaum etwas wusste."