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Der kranke Tiger

Noch im Frühjahr 2008 schilderten "Gesichter Europas" im Deutschlandfunk "Irlands neuen Reichtum". Das ungestüme Wachstum der Wirtschaft auf der grünen Insel hatte einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Erste Risse in der Wohlstandsfassade waren erkennbar. Die internationale Finanzkrise allerdings brachte den jähen Absturz binnen Jahresfrist.

Mit Reportagen von Martin Alioth, am Mikrofon: Bettina Nutz |
    Ein Spediteur, der für den Umzug geplatzter Träume bestellt wird:

    "Die vergangenen 18 Monate waren für alle von uns eine ziemliche Herausforderung. Aber ich denke positiv und deswegen erlaube ich mir nicht, depressiv zu sein. Das ist nicht leicht, wenn ich meine Kunden sehe, die in ihrer Not auswandern müssen, um Arbeit zu finden."

    Und eine Ärztin, die sich um die irische Seele sorgt:

    "Wir haben es immer mehr mit Depressionen zu tun. Und wenn die Abende wieder dunkler werden im Herbst, und die Leute immer noch arbeitslos sind, dann werden wir noch wesentlich öfter die Diagnose Depression stellen müssen."

    "Der Tiger ist tot" - Gesichter Europas handeln an diesem Samstag vom "großen Katzenjammer in Irland". Eine Sendung mit Reportagen von Martin Alioth. Am Mikrofon begrüßt Sie Bettina Nutz.

    "Irland ist heute eine mustergültige Gesellschaft der Besitzenden, die weder Bedauern noch Skrupel kennen. Andererseits entschädigen sich die Iren immer noch für jahrhundertelange Armut und Unterdrückung. Sie wurden von abstrakten Kräften beherrscht, von Fremden und von Hungersnöten, von Auswanderung, Isolation und fehlenden Bodenschätzen. Sie sind ein Volk, das eine Verschnaufpause redlich verdient hat. Die Iren genießen ihre neue materielle Freiheit, aber ich frage mich manchmal, ob sie wissen, was sie sich damit antun."

    Noch vor einem Jahr beschrieb der deutsch-irische Schriftsteller Hugo Hamilton in unserer Sendung den neuen Reichtum in Irland, die Iren als "glückliche" Kapitalisten. Heute ist die "goldene" Verschnaufpause vorbei. Der Traum vom irischen Wirtschaftswunder ist ausgeträumt - der gerade erst gewonnene Wohlstand zusammengeschmolzen. Der keltische Tiger - in ganz Europa Sinnbild für schnellen wirtschaftlichen Aufschwung - geriet mitten im Sprung in die gefährliche Manege einheimischer Spekulanten. Und da Irland an der engen Leine von US-Firmen und -Fonds hängt, zog die amerikanische Banken- und Immobilienkrise den Tiger in rasantem Tempo nach unten. Zurück bleibt ein sieches Häufchen Elend, zusammengeschnurrt auf Katzenformat.

    Jetzt können sich viele Iren noch nicht einmal mehr Hauskatzen leisten. Die Tierheime zwischen Belfast und Cork sind überfüllt - viele Haustiere werden einfach ausgesetzt. Auch im Provinzstädtchen Drogheda sind Katzenjammer und Hundelamento nicht mehr zu überhören:

    Twinkle - oder was vom "Keltischen Tiger" übrigblieg
    Jasper, ein freundlicher Mischling mit einem Bearded Collie in der nahen Verwandtschaft, macht seiner Ungeduld Luft.

    Seine Meisterin, Elizabeth Doran, kümmert sich seit neun Jahren um herrenlose, ausgesetzte, verlassene und andere missliebige Hunde in der irischen Provinzstadt Drogheda. Freiwillig und kostenlos, natürlich. Ist Jasper denn auch ein Findelkind?

    Jetzt gehört er ihr, aber er wurde einst im Alter von vier Monaten mitten im Verkehrsgewühl des nahen Städtchens Ashbourne gefunden. Seine ursprünglichen Besitzer wurden nie ausfindig gemacht. Jetzt ist er dreieinhalb und arbeitet als Maskottchen für Drogheda Animal Rescue, das gemeinnützige Tierheim.

    In der Krise gibt es mehr zu tun: Erst letzte Woche musste sie sich eines Terriers annehmen, dessen rumänischer Meister seine Stelle verloren hatte und zurück nach Hause musste.

    Und dann gab es mehrere Hunde von Leuten, die ausgewandert sind, zum Beispiel nach Australien, wo man nur ein kleines Haustier mitnehmen darf. Alle diese Tiere wurden ordentlich übergeben. Aber es gibt auch immer mehr andere, bestürzende Fälle. Unlängst musste sie sich eines Cavalier-Spaniels annehmen, der aus einem weißen Lieferwagen ausgesetzt wurde. Das Fahrzeug wurde beobachtet, machte sich aber aus dem Staub.

    Selbst Jasper ist über derartige Herzlosigkeit bekümmert. Die meisten dieser ausgesetzten Hunde beginnen ihr zweites Leben in der Tierklinik. Annemarie Horgan führt seit drei Jahren eine Praxis für Kleintiere in Drogheda.

    "Leute kommen mit angeblichen Streunern. Sie wollen aber einfach den Tierarzt nicht bezahlen, denn es handelt sich klar um ihre eigenen Tiere. In der Krise, so scheint es, werden die Schlitzohren unverschämt."

    Andere Kunden behaupteten, sie seien arbeitslos, könnten sich das Honorar nicht leisten und verlangten Rabatt. Aber wenn man dann anrufe, der Hund könne abgeholt werden:

    "Dann heiße es, der saubere Herr könne erst nach Arbeitsschluss um fünf kommen."

    Wieder andere weigern sich, für Labortests zu bezahlen, sodass die Tierärztin widerwillig ihren Instinkten folgen muss. Und gelegentlich kommt nach der Operation eines Hundes die böse Überraschung: Wenn sie Bezahlung verlangt, bevor sie den Patienten übergibt, wie das überall üblich ist, dann sagen gewisse Leute: In dem Fall können sie den Hund gleich behalten.

    Diese verratenen Tiere enden dann im Tierheim, wo die freiwilligen Helfer ein neues Plätzchen für sie suchen. In einem Käfig sitzt Twinkle, eine pechschwarze, hochschwangere Katze; weniger als ein Jahr alt.

    "Twinkle, die Glitzernde, wurde von zwei Katern übel zugerichtet", erklärt Trudy, eine der Helferinnen, die sonst als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei arbeitet. Deshalb sei ihr Ohr aufgeschlitzt, daher die Schramme unter dem Auge.

    Die Eigentümer brachten das schmale Kätzchen zwar zum Tierarzt, aber drei Wochen später war Twinkle immer noch dort. Die Besitzer hoben ihr Telefon nicht mehr ab, und so endete das Tier bei Trudy.

    Das also ist vom Keltischen Tiger, wie das irische Wirtschaftswunder stets - halb spöttisch, halb stolz - genannt wurde, übrig geblieben. Die beiden aggressiven Kater, so darf man mutmaßen, das waren die Bauspekulanten und die Banker. Die haben den Tiger so übel zugerichtet.


    Die Iren gaben sich in den fetten Jahren einem zügellosen Kaufrausch hin. Doch nicht alle ließen sich anstecken. Noch bevor der große Katzenjammer ausbrach, brachten irische Graffiti-Künstler ihre Zweifel am immerwährenden Wirtschaftsboom auf den Rollläden einer Dubliner Galerie zum Ausdruck. Wenn sie abends heruntergelassen wurden, kam ein Tiger zum Vorschein, der in seinem Blut liegt. Um seinen Hals ein Band der italienischen Luxusmarke "Gucci". Unter die Zeichnung schrieben die Künstler: "Keltisches Kätzchen, ruhe in Frieden".

    Das Bild ist längst übermalt. Der Tiger tatsächlich tot. Die Ernüchterung ist groß. Die Iren schwanken zwischen Wut und Ohnmacht angesichts einer umfassenden Krise, deren Ende noch lange nicht abzusehen ist. Der Volkszorn richtet sich gegen die Regierung, die weder Konjunkturpakete schnürt noch Perspektive oder Sicherheit vermittelt. Stattdessen müssen Staatsbedienstete Lohnkürzungen hinnehmen und alle Bürger höhere Steuern zahlen.

    Die Wut gilt ebenso den Banken. Erst verspielten die Finanzjongleure Anlagen und Pensionsfonds der kleinen Leute im irischen Immobilienkasino. Heute hängen ihre Institute am Tropf der Steuerzahler. Einen Satz zitieren die Iren in diesen Zeiten der Depression so häufig wie kaum einen anderen:


    "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?"

    Das Zitat ist schon in die Jahre gekommen und doch scheint es mitten in die irische Gemütslage zu treffen. Es stammt aus der berühmten Dreigroschenoper. Und die hat der deutsche Dramatiker Bertolt Brecht bereits 1928 geschrieben; ein Jahr vor der ersten großen Weltwirtschaftskrise.

    "Da preist man uns das Leben großer Geister
    Das lebt mit einem Buch und nichts im Magen
    In einer Hütte daran Ratten nagen -
    Mir bleibe man vom Leib mit solchem Kleister!
    Das simple Leben lebe, wer da mag!
    Ich habe (unter uns) genug davon.
    Kein Vögelchen von hier bis Babylon
    Vertrüge diese Kost nur einen Tag.
    Was hilft da Freiheit? Es ist nicht bequem.
    Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!"

    Abschied vom Wohlstand - Irland geriet als erstes unter den europäischen Euro-Ländern in die Rezession: die schlimmste seit Kriegsende. Der unerwartet heftige Einbruch spülte auch die Gewissheiten fort. Die Erwartung, dass es den Menschen von nun an immer besser gehen werde. Besonders bitter ist die Erkenntnis, dass nicht nur Banken und Bauspekulanten an der Misere Schuld tragen. Aus dem Exportboom der 90er war der Bau- und Konsumrausch der 2000er-Jahre geworden. Die Iren verlebten, was sie gerade erst geschaffen hatten.

    Noch vor einigen Monaten befanden sich die Immobilienpreise in grotesken Höhen, wurden Häuser mit fünf Badezimmern gebaut - Luxus auf Pump. Auf tönernem Fundament: Die Banken vergaben 100-Prozent-Hypotheken an Kunden, die sich das nicht leisten konnten. Ganze Städte wurden so aus irischen Äckern gestampft.


    Doch dann platzte die Blase. Mit der Krise der Immobilienbranche war der Rausch vorbei. Am Bau gab es die ersten Arbeitslosen. "For Sale", "Ausverkauf" - in Dublin hängen Verkaufsschilder in jedem Straßenzug. Die Bewohner mussten gehen, weil sie die Hypotheken schuldig geblieben sind.

    Gastarbeiter kehren nach Hause zurück. Einheimische wandern aus. Ein Land zieht um in alle Richtungen. Für alle beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Und die irischen Spediteure sind die Kronzeugen für den Neubeginn: eine schwierige Rolle.


    Ein Kubikmeter Leben - Rob Gilbert muss den Umzug geplatzter Träume organisieren
    In einem Land wie Irland, mit seiner akuten Immobilienkrise, müsste man erwarten, dass die Umzugsfirmen Hochkonjunktur haben.

    Rob Gilbert ist Miteigentümer der Firma Oman. Deren Umsatz ist um fast 40 Prozent eingebrochen. Denn "die professionelle Umzugsfirma, die jeden Haushaltgegenstand bis auf den Spülstein sorgfältig verpackt, gilt in knappen Zeiten als Luxus", erläutert Gilbert.

    Rob Gilbert kritzelt auf einen Schreibblock, bevor er zugibt, die Firma Oman sei selbst ein klassisches Produkt der wirtschaftlichen Überhitzung. Vor etwa fünf Jahren verkaufte seine Familie die alteingesessene Firma an eine Aktiengesellschaft.

    Die AG sei auf dem Rücken des Keltischen Tigers geritten, verschuldete sich billig und massiv - und kaufte Betriebe, die sie zu einem größeren Ganzen zusammenfügen wollte. Dabei zielte sie auf den Luxusmarkt. Aber die Steine des Mosaiks passten nicht zusammen, die Kosten rannten davon.

    Und so kaufte die Familie Gilbert das, was übrig geblieben war, wieder zurück. Mit einem tapferen Lächeln stellt Rob fest, jetzt müsse er eben mitten in der Krise wieder von vorne anfangen und die Unternehmung in eine ganz normale Umzugsfirma verwandeln. Aber es gebe da ein historisches Vorbild:

    "Die älteste Vorläuferfirma wurde 1846 gegründet, mitten in der großen irischen Hungersnot, mitten in einer Zeit der Angst und der Bedrängnis. Damit ist die heutige Krise natürlich nicht zu vergleichen, aber die Firma hat offensichtlich schon Schlimmeres gesehen."

    Immer hat sie einen Logenplatz bei umwälzenden Veränderungen, wie Rob Gilbert lapidar formuliert:

    "Wir helfen den Leuten, ins Land zu kommen, und helfen ihnen auch, es wieder zu verlassen."

    In der großen Lagerhalle, die - aus Kostengründen vermutlich - inmitten verschlafener Weiden in der Grafschaft Kildare steht, werden Kartonkisten mit Klebeband zugepappt. Der Eigentümer legt selbst mit Hand an. Dann hält er kurz inne und erinnert sich an typische Kunden in den Zeiten des Überflusses:

    "Das war vielleicht ein Privatmann, der Teile seines Haushaltes in ein zweites Haus in Südfrankreich oder Portugal verlegte. Da wurden dann die wertvollen Objekte teilweise in die zweite Residenz verschoben - irgendwohin auf der Welt."

    Ja, die Iren kauften damals mächtig ein, in der Algarve und an der Côte d'Azur. Heute sieht die Kundschaft der Firma Oman etwas anders aus.

    Jetzt würden die Umzüge durch wirtschaftliche Sachzwänge ausgelöst, die Mittel fehlten, weil die Leute ihre Stellen verlören - gerade im Baugewerbe. Rob strafft die Schultern beim Gedanken daran, dass er jetzt täglich die Notlagen anderer Leute erlebt.

    Die letzten anderthalb Jahre seien für alle schwierig gewesen, aber als Frohnatur erlaube er sich nicht, deprimiert zu sein. Es sei allerdings nicht einfach, positiv zu bleiben, wenn die Kunden in ihrer Bedrängnis auswandern müssten, um Arbeit zu finden.

    Der Gabelstapler hievt gerade eine riesige Holzkiste in eine andere Ecke der Lagerhalle. Oman packt Container mit einem Fassungsvermögen von 60 Kubikmetern und verfrachtet sie nach Australien oder Neuseeland. Oft teilten sich bis zu 30 Kunden den Platz. Einzelne nähmen nur einen Kubikmeter ihres Lebens mit.

    Und was, wenn man neugierig fragen darf, findet denn Aufnahme in diese persönliche Selektion, in dieses Lebenssubstrat?

    "Foto-Alben, Geschenke, ein Kristallpokal vielleicht. Und Schallplatten, oftmals alte Vinylscheiben von Rory Gallagher zum Beispiel."

    In 40 Jahren, wenn diese Faustpfänder für Erinnerungen und Geborgenheit ihre Funktion verloren haben, wird man sie, vermutet Rob Gilbert, in Kuriositätenläden auf der ganzen Welt bestaunen können.


    "Die Abenteurer mit dem kühnen Wesen
    Und ihrer Gier, die Haut zu Markt zu tragen
    Die stets so frei sind und die Wahrheit sagen
    Damit die Spießer etwas Kühnes lesen
    Wenn man sie sieht, wie das am Abend friert
    Mit kalter Gattin stumm zu Bette geht
    Und horcht, ob niemand klatscht und nichts versteht
    Und trostlos in das Jahr 5000 stiert -
    Jetzt frag ich Sie nur noch: Ist das bequem?
    Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!"

    Hunger, Armut, Unterdrückung - Krisenzeiten gehörten von jeher zu Irlands Geschichte. Zu jenen dunklen Flecken, die Iren wie ein nationales Trauma mit sich tragen. Sie kämpften fortwährend um ihre Existenz, um politische Unabhängigkeit von jahrhundertelanger britischer Vorherrschaft; ums Überleben während der Great Famine, der großen Hungersnot, in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

    Mit der wachsenden Verelendung formierte sich der Widerstand gegen die Besatzer. Im 20. Jahrhundert erkämpfte sich Irland die eigene Republik. 1973, mit dem Eintritt in die Europäische Union, beginnt auch ökonomisch eine neue Ära. EU-Gelder fließen in die Infrastruktur, niedrige Löhne und Körperschaftssteuern locken Unternehmen wie Investoren ins Land. Irland wird - 20 Jahre nach dem Beitritt zur EU - mit ausländischem Kapital zum internationalen Finanzzentrum, zum Vorbild für Osteuropa und zur europäischen Computerschmiede!


    Dell stand fast als Synonym für den irischen Aufschwung. Der US-Konzern brachte seine Produktion in die alte Industriestadt Limerick und schuf dort wie in der ganzen Region Tausende Stellen. Dell wandert - wie viele andere internationale Konzerne auch - weiter im globalen Wirtschaftszirkus; ausgerechnet nach Osteuropa und in die noch billigeren Produktionsstätten in Fernost. Zurück bleiben Menschen, die wieder ihre Existenz verlieren.

    Arbeiterführer Wider Willen - Denis Ryan wehrt sich gegen den Multi Dell
    Denis Ryan wird den 8. Januar nicht so schnell vergessen: Es ist nämlich auch der Geburtstag seiner Verlobten, die er Ende Juni heiraten wird.

    Der 53-jährige Ryan arbeitet seit zehn Jahren für Dell. Wie viele seiner Kollegen war auch er empört über die Knauserigkeit der Abfindungen, die Dell nach vielen Jahren stattlicher Profite anbot. Aber was tun?

    "Es gibt ja keine Gewerkschaften bei Dell. Die Firma duldet weder Gewerkschaften noch Medien."

    In der Tat erwies es sich als unmöglich, mit einem Vertreter von Dell ins Gespräch zu kommen. Und so machte sich Ryan daran, einen Arbeiterausschuss einzuberufen. Die erste Vollversammlung am fünften Februar wählte diesen Ausschuss. Am selben Tag verbesserte Dell auch sein Angebot - der Widerstand hatte damit schon Früchte getragen.

    Ryan ist ein großer Mann mit der Statur eines Rugbyspielers und dem ruhigen Auftreten eines wohlwollenden Bären. Man kann sich gut vorstellen, ihn zum Freund zu haben. Von radikaler Militanz ist keine Spur zu erkennen, wohl aber von zähem Zielbewusstsein. Was er rückblickend über Dell zu sagen hat, ist nicht schmeichelhaft.

    "Man wurde ausgenutzt. Alles drehte sich um Flexibilität."

    "Man arbeitete rund um die Uhr und erhielt sehr wenig zurück", sagt Ryan. Er selbst wählte vor fünf Jahren die Wochenendschichten, drei Mal zwölf Stunden, Freitag, Samstag, Sonntag. Da arbeitet er im Warenlager, stellt sicher, dass alle Bestandteile rechtzeitig am richtigen Ort sind. Und was erhält er dafür?

    420 Euro erhält er für seine 36-Stunden-Woche, oder umgerechnet knapp 22.000 Euro im Jahr - einschließlich der Schichtzulage. Und das nach zehn Dienstjahren. Warum blieben die Löhne so tief?

    "Das ging zu wie bei einer Drehtür. Es gab immer welche, die für diesen Lohn arbeiten wollten."

    Er erinnert sich, wie er einen Direktor fragte, ob denn Aussichten auf eine Lohnerhöhung bestünden? Und der antwortete: Solange Leute durch diese Türen kommen, bleibt alles gleich.

    Im Gegensatz zu anderen Hochtechnologie-Betrieben in Irland stellte Dell keine hohen Ansprüche an den Ausbildungsgrad.

    "Diese 1900 Fabrikarbeiter verrichteten ziemlich gewöhnliche Arbeit. Die finden so leicht nichts Neues. Die Flexibilität bezog sich immer nur auf Dells Wünsche, nicht auf die Arbeiter."

    Aber es war nicht allein das Geld, das nicht stimmte. Im April berief Denis Ryan eine weitere Vollversammlung ein. Ein Arbeiter mit einer beinahe leninistisch anmutenden Mütze behauptete, es wären viel mehr Leute, als die etwa 300 Anwesenden gekommen, wenn sie nicht so Angst davor hätten, was die Firma ihnen noch antun könne.

    Sie wurden bearbeitet, zu Tränen und in die Krankheit getrieben. Jetzt könne ihnen Dell nichts mehr anhaben. Es sei an der Zeit, selbst zornig zu werden.

    Im Saal regte sich Zuspruch, ja eine rebellische Stimmung kam auf, exakt 90 Jahre, nachdem Limerick eine Woche lang von einem Arbeiter-Sowjet verwaltet worden war. Der Mann mit der Mütze hatte praktische Vorschläge:

    "Dell geht nach Polen, mit Arbeitern, die eigens von irischen Arbeitern ausgebildet wurden. Weshalb, fragte er rhetorisch, sollten wir jetzt noch Angst davor haben, einer Gewerkschaft beizutreten?"

    In der Tat beschlossen die Anwesenden an jenem Abend einstimmig, doch noch einer Gewerkschaft beizutreten; eine Trotzgebärde, um vielleicht doch noch höhere Abfindungen auszuhandeln, denn:

    "Es war einfach zu schäbig", sagt Denis Ryan, "denn die Multis wurden ja in Irland sehr gut behandelt"; zum Beispiel mit einer Körperschaftssteuer von 12,5 Prozent.

    Aber Dell zeigt, dass das Wirtschaftswunder nicht alle Iren reich machte. Die Wachstumsraten hatten ihren Preis. Denis Ryan selbst weiß schon lange, dass er bei Dell nicht alt werden will. Er nutzte seine freien Wochentage für einen Neubeginn:

    Er ließ sich in Landschaftsgestaltung ausbilden und erhielt auch schon erste Aufträge. Jetzt ist er seiner Entlassung sogar zuvorgekommen. Statt im Oktober geht er von selbst schon im Juni - noch vor der Hochzeit. Denn er hat gespart, keine Schulden. Eine neue Familie und ein neues Leben warten.

    Er bereitete sich in den guten Zeiten auf die schlechten vor. Das war einfach Glück, sagt er bescheiden.


    "Ja, renn nur nach dem Glück
    Doch renne nicht zu sehr!
    Denn alle rennen nach dem Glück
    Das Glück rennt hinterher.
    Denn für dieses Leben
    Ist der Mensch nicht anspruchslos genug
    Drum ist all sein Streben
    Nur ein Selbstbetrug"
    Das Ende einer der größten ökonomischen, politischen und sozialen Erfolgsgeschichten der Europäischen Union kam binnen eines Jahres. Jeder neue Tag beginnt heute mit neuen Krisennachrichten: Stellenabbau, klamme Pensionskassen, überschuldete Eigenheime, Horrorzahlen für die nahe Zukunft.

    Bei neun Prozent könnte das Minuswachstum bis Ende des Jahres liegen. Die Arbeitslosenquote hat zur Jahreshälfte schon die elf Prozent überschritten.


    Doch in jeder Krise soll bekanntlich eine Chance liegen. Jedenfalls versucht die angeschlagene Regierung unter Premierminister Brian Cowen dem siechen Tiger ein wenig Leben einzuhauchen; mit Hilfe der Europäischen Union. Nur die Mitgliedschaft in der Euro-Zone habe dem Land den Staatsbankrott à la Island erspart, betonen Premier und Finanzminister vor allem jetzt zu den Europawahlen. Und eine Mehrheit der Iren scheint daran zu glauben.

    Das irische Nein zum Vertrag von Lissabon scheint sich binnen eines Jahres in ein Ja verwandelt zu haben. Die Zustimmung liegt - laut Umfragen - jetzt bei 54 Prozent. Und im Herbst kommt es zu einem neuen Referendum.


    Mit Blick auf die trüben wirtschaftlichen Aussichten stehen die Iren jetzt wie einst vor der Frage: bleiben oder auswandern? Wer bleibt, sollte schon eine gute Geschäftsidee haben. Manch einer profitiert von der zurückgekehrten Bescheidenheit seiner Landsleute.

    Dem Tiger geht die Puste aus - Darren Ferguson haucht ihm wieder Luft ein
    Vor der Werkstatt von Darren Ferguson in Gormanstown werden neue Autoreifen abgeladen. Der 25-Jährige flickt seit vier Jahren abseits der Hauptstrasse, die Dublin mit Belfast verbindet, Plattfüße.

    Bekanntlich ist auch der irischen Wirtschaft die Luft ausgegangen. Merkt er das? "Klar", sagt er, "früher war das alles anders".

    "Wenn der Schaden auch nur im Entferntesten die Sicherheit gefährdete, wurde gleich der Reifen ersetzt. Sicherheit ging über alles. Jetzt aber muss der alte Reifen herhalten, wenn er sich nur rund dreht und hart bleibt."

    So kann sich Darren nicht über den Geschäftsgang beschweren, obwohl die Importe von Neuwagen um 70 Prozent eingebrochen sind, denn die Leute pflegen jetzt ihre Autos besser:

    "Reparaturen, Reifen, Karosserie-Arbeiten laufen gut. Ja eigentlich geht es ihm sogar besser als in den Zeiten des Wirtschaftswunders."

    Wie kommt denn das?

    "Da kauften die Leute immer wieder ein neues Auto. Der alte Wagen ging zurück zum Händler, und der erneuerte dann die Reifen vor dem Weiterverkauf. Jetzt müssen die Leute ihre Fahrzeuge länger behalten."

    Am älteren Auto müsse man dann eben gelegentlich die Reifen ersetzen. Deshalb verkaufe er mehr neue Reifen als früher. Hier ist ein Mann mit einer guten Nase für Geschäfte. Im Mai eröffnete er nämlich noch einen zweiten Betrieb, diesmal für Schäden am Rest des Autos, also eine Karosserie-Werkstatt.

    Denn er betrieb ja schon zwei Bergungsfahrzeuge für Autos nach Unfällen: Sie brachten ja die geborgenen Wracks zu anderen Garagen. Da erkannte er eine Chance im Markt. Jetzt repariert er sie selbst.

    Darren wuchs gewissermaßen mit Autos auf. Sein Vater, Mike Ferguson, betrieb nämlich 15 Jahre lang eine altmodische Tankstelle mit einem kleinen Tante-Emma-Laden an der Hauptstraße. Darren, seine drei Geschwister und seine Mutter halfen mit, verkauften Zeitungen und Süßigkeiten, vermittelten den Dorfklatsch und flickten Reifenpannen.

    Als die Tankstelle an eine moderne Kette verkauft wurde, behielt Darren das Reifengeschäft. Jetzt klatscht niemand mehr an der neuen Tankstelle, die Bedienung wechselt fast wöchentlich, aber die Kunden der Familie Ferguson sind dem aufgeweckten Kleinunternehmer treu geblieben.

    So gibt es immer findige Köpfe, die in der Krise eine Chance erkennen. Aber natürlich laufen gewisse Geschäftszweige jetzt weniger gut. Für frivolen Luxus sind die Geldbeutel zu schmal geworden:

    "Als die Leute noch mehr Geld in der Tasche hatten, verkauften wir viele Alu-Felgen. Die werden jetzt entfernt, die alten Stahlfelgen werden wieder montiert, weil die Reifen dafür billiger sind."

    Heutzutage seien seine Kunden viel mehr an einem preisgünstigen Transportmittel interessiert. John Woods, ein Angestellter Fergusons, der einst auch in der alten Tankstelle arbeitete, gibt die Preisliste bekannt:

    "Fünfzehn-Zoll-Felgen gibt's ab 445 Euro, einschließlich Reifen im Sonderangebot. Die größeren Durchmesser kosten 850; ebenso die Kopien von Audi oder Mercedes Felgen. Die echten, die man nur beim Fachhändler erwerben kann, kosteten bis zu 2000","

    …gibt John mit Verschwörermine bekannt.

    Es ist ja nicht bittere Armut, wenn man sich keine Aluminium-Felgen mit einem kopierten Markenzeichen mehr leisten kann, eher eine gesunde Verschiebung der Prioritäten, eine Neubesinnung auf das, was wichtig ist. Und die Leute sind umsichtiger geworden. Sie erkundigen sich nach Preisen, vergleichen, wägen ab, und dann schreiten sie zur Tat:

    ""Sie kommen erst am Freitag wieder, denn das ist Zahltag, während früher einfach die Kreditkarte gezückt und das Geschäft besiegelt wurde","

    …erklärt Darren. Das ist der Grund, weshalb die irischen Konsumenten inzwischen europäische Tabellenführer bei Kreditkartenschulden sind.


    Bertolt Brecht hatte eine korrupte bürgerliche Gesellschaft im Visier, als er 1928 die Dreigroschenoper schrieb; eine Gesellschaft, deren Werte von ihrem aktuellen Preis abhingen.

    ""Meine Damen und Herren. Sie sehen den untergehenden Vertreter eines untergehenden Standes. Wir kleinen bürgerlichen Handwerker, die wir mit dem biederen Brecheisen an den Nickelkassen der kleinen Ladenbesitzer arbeiten, werden von den Großunternehmen verschlungen, hinter denen die Banken stehen. Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank. Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes? Mitbürger, hiermit verabschiede ich mich von euch. Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind."

    Auch Irland verliert im Jahr 2009 nicht nur wirtschaftliche Substanz. Das Vertrauen in die Kompetenz und Glaubwürdigkeit der Politiker ist so dramatisch geschwunden, wie die Anlagerenditen. Die Iren verlieren zudem ihren Glauben an die einst größte moralische Instanz im Land: die katholische Kirche.

    Vor einigen Tagen brachte der Abschlussbericht einer Expertenkommission Entsetzliches zutage. Plötzlich wurde das öffentlich, was man bislang nur ahnte. Zehntausende Kinder wurden über Jahrzehnte hinweg systematisch misshandelt. Vor allem in der Zeitspanne zwischen 1936 und 1970 hatten Kinder aus überwiegend armen Verhältnissen in katholischen Anstalten und Heimen unbeschreiblich zu leiden, wurden gequält und vergewaltigt; mit der stillschweigenden Duldung des irischen Staates.


    Die Menschen, ob gläubige Katholiken oder nicht, haben nicht nur ihre Jobs, ihre Häuser oder ihr Vertrauen in die Kräfte der eigenen Republik verloren. Fort ist auch der moralische Halt, den die Iren stets in der katholischen Kirche zu finden geglaubt hatten. Die keltischen Wunderjahre sind Vergangenheit, der Tiger ist tot, die irische Seele schwer angeschlagen. Krise und Verlust machen krank und bereiten Ärzten wie Claire McNichols große Sorgen.

    Diagnose Depression - Claire McNichols macht sich Sorgen um die irische Seele
    Die kleine Hannah wird geimpft und protestiert entsprechend heftig: Alltag im Einfamilienhaus in Rathmines, wo in einer altmodischen Praxis die Gegend verarztet wird. Claire McNichols, die Allgemeinpraktikerin, versucht, sich Rechenschaft abzulegen, wie sich das Wirtschaftswunder und der jetzige Absturz in ihrem beruflichen Alltag widerspiegeln. So viel Geld sei verschwendet worden, viele hätten jetzt Alkoholprobleme.

    "Wir haben alle von den betrunkenen Nächten in den Kneipen gehört, wir wussten alle, dass das Land zu viel trank. Das war bedauerlicherweise ein Symptom der vorherrschenden Maßlosigkeit","

    …folgert die Ärztin nüchtern. Aber das war nicht alles.

    ""Der Kokain-Konsum habe enorm zugenommen, besonders in der Altersgruppe um die 30. Da gab es diese Gruppe von meist jungen Leuten, die fabelhafte Einkommen verdienten und dann Zuflucht im Kokain suchten."

    So wird in dieser Arztpraxis der Preis des plötzlichen Wohlstandes greifbar. Claire McNichols erklärt kurz das gemischte irische Gesundheitssystem: Für das ärmste Drittel der Bevölkerung ist die Versorgung kostenlos, der Rest ist privat versichert. Jetzt, in der Krise, können mehr Patienten die staatlichen Leistungen in Anspruch nehmen, während die Privatpatienten aus Spargründen ihre Arztbesuche rationieren und eher direkt in die Apotheke eilen.

    So ist auch sie betroffen: mehr Arbeit für weniger Geld. Aber während der Boom-Jahre explodierte die private Medizin in Irland. Geschäftsleute bauten glitzernde neue Gemeinschaftspraxen.

    Auch sie wurde angefragt, ob sie mitmachen wolle. Aber sie ließ sich nicht verlocken: Man könne für eine Konsultation nicht beliebig viel verlangen, gerade als Hausärztin. Da lägen höchstens Aufschläge um fünf Euro alle zwei Jahre drin. Also hätte sie ihren Einsatz nur durch Quantität zurückgewinnen können. Es hätte sich nicht rentiert.

    Aber zwischen den Zeilen ist herauszuhören, dass diese Ärztin nicht nur aus unternehmerischen Gründen darauf verzichtete, ihre Praxis in eine glitzernde Fabrik zu verwandeln, sondern auch, weil es sich nicht mit ihren Werten und ihrem Berufsverständnis vereinbaren ließ. Claire McNichols war eben nicht gierig, und damit unterschied sie sich vom Durchschnitt während der Jahre der Maßlosigkeit.

    Die Praxis-Schwester wäscht gerade gynäkologische Instrumente. Etwa ein Viertel von Claires Tätigkeit gilt ihrem Spezialgebiet als Frauenärztin. Ihre Vertrauensposition erstreckt sich dann gelegentlich über vier Generationen. In einem Fall betreut sie eine Urgroßmutter und alle dazwischen bis zum Urenkel.

    Ältere Patienten sparten in Rentenfonds, deren Wert nun verschwunden sei. Die hätten ihre Renten verloren. Aber es gibt auch umgekehrte Fälle: In einer Familie wurden der Sohn und die Schwiegertochter arbeitslos. Die betagten Eltern, die wohl sogar auf finanzielle Unterstützung von ihrem Nachwuchs gehofft hatten, müssten nun selbst ihren Kindern helfen, die Mitte 40 sind. Das sei natürlich bedrückend und führe zu Depressionen und dergleichen.

    Aber das, so befürchtet die Ärztin, könnte erst der Anfang sein.

    "Wenn die Abende wieder dunkler werden im Herbst, und die Leute immer noch arbeitslos sind, dann werde sie noch wesentlich öfter mit Depressionen konfrontiert werden."

    In der Tat, gewisse Prognosen sehen im nächsten Jahr eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 16 Prozent für Irland voraus. Selbst die vernünftige und nüchterne Claire McNichols, die in der Krise durchaus auch ein Werkzeug sieht, der Vermessenheit der Vergangenheit wieder Grenzen zu setzen, flüchtet sich in die Metaphysik - zumindest in ihren Vergleichen.

    "Vielleicht ist da ja ein Gott, der einen warnenden Zeigefinger erhebt."


    Das waren "Gesichter Europas" an diesem Samstag: "Der Tiger ist tot" - eine Sendung über den "großen Katzenjammer in Irland". Mit Reportagen von Martin Alioth und Texten von Bertolt Brecht. Redaktion hatte Thilo Kössler. Die Musikauswahl traf Babette Michel. Die Literaturpassagen las Ernst-August Schepmann. Und am Mikrofon verabschiedet sich Bettina Nutz!