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Der krankhafte Ehrgeiz eines Malers

Der britische Maler William Turner hatte ein sehr spezielles Verhältnis zu großen Künstlern: Er versuchte stets, besser zu sein als sie. Eine Ausstellung in der Tate Britain beschäftigt sich mit seinem Werk aus dem 19. Jahrhundert - und dem seiner Vorbilder.

Von Hans Pietsch |
    William Turner war ein überaus emotionaler Mensch - leicht erregbar, jähzornig, fast krankhaft ehrgeizig. Sein Mäzen John Julius Angerstein beobachtete den 24-jährigen Maler, der gerade die Londoner Kunstszene im Sturm erobert hatte, wie er vor dem Gemälde "Seehafen mit der Einschiffung der Königin von Saba” des großen Claude Lorrain in Tränen ausbrach. Der Grund? "Weil ich nie in der Lage sein werde, ein solches Bild zu malen.”

    Maßlose Übertreibung? Nun, der brennende Ehrgeiz jedenfalls war vorhanden, es den Altmeistern gleichzutun, ja sie gar zu übertreffen. Der Ehrgeiz des Malers aus einfachen Verhältnissen, Sohn eines Londoner Barbiers, der schwer verständlichen Londoner Dialekt sprach, und wahrscheinlich Legastheniker war, der Ehrgeiz also, in den Olymp der Kunst aufzusteigen. Ja, er bewunderte die alten Meister, doch er machte sich ihr Können zur Befriedigung dieses Ehrgeizes zunutze.

    Die Schau in der Tate Britain zeigt, wie Turner vorging, um sein Ziel zu erreichen: in seinem Jahrhundert wie ein Altmeister zu malen, ohne zu imitieren. Er hielt es mit dem von ihm bewunderten Gründungspräsidenten der Royal Academy, Sir Joshua Reynolds, der in einer seiner Vorlesungen die großen Meister als Vorbilder anpries, jedoch davor warnte, sich "von ihrer herrischen Autorität überfahren zu lassen.” Daran hielt sich Turner, immer darauf aus, die Vorbilder möglichst zu übertreffen. Als ein anderer seiner Sammler 1801 bei ihm ein Pendant zu einem stürmischen Seestück von Willem van de Velde in Auftrag gab, stach er den niederländischen Marinemaler aus: seine Leinwand ist auf beiden Seiten um einen Fuß größer, die aufgewühlte See noch aufgewühlter, das schlingernde Boot rückt er in den Mittelpunkt, die Menschen auf Deck klammern sich fest. Van de Veldes Werk wirkt im Vergleich zahm, Turner wirft seinen Betrachter fast ins brodelnde Wasser.

    Überall blickt er hin, absorbiert, überhöht: zu Nicholas Poussin und Claude Lorrain, um die Landschaftsmalerei wiederzubeleben. Zu den Venezianern des 16. Jahrhunderts – Tizian, Veronese – um die Verwendung von leuchtenden Farben zu meistern. Zu Rembrandt wegen der dramatischen Verwendung von chiaroscuro – Gravitas zu erreichen mithilfe von gedämpften Farben, Szenen mit mehreren Lichtquellen zu beleuchten. Rembrandts "Flucht nach Ägypten” von 1647, die Turner bei seinem Mäzen Richard Colt Hoare gesehen hatte, hängt neben seinem "Kalkofen” von 1797 – beide Szenen werden vom Mond und der künstlichen Lichtquelle eines Feuers beleuchtet. Und bei Lorrain lernte er unter anderem die Bedeutung, die Licht, Atmosphäre und Farbe dabei spielen, die Natur und den Menschen auf einer Leinwand zusammenzubringen. 1828, während eines Aufenthalts in Rom, malte er "Palestrina – Komposition”, nicht als Pendant zu, sondern als eine Art Liebeserklärung an Lorrains "Landschaft mit Jakob, Laban und seinen Töchtern”, das er bei seinem Freund Lord Egremont gesehen hatte: aus dem Gedächtnis gemalt, "con amore”, wie er schrieb.

    Dass sie nicht nur Turners Triumphe zeigt, gereicht der Schau zu Ehren. Da ist etwa "Jessica”, 1830 als Antwort auf Rembrandts charmantes "Mädchen am Fenster” entstanden: verkrustete Farbe und ein knalliges Gelb, ein "Mädchen in einem Senftopf”, so ein Kritiker abschätzig. Oder sein Versuch, der Frivolität Antoine Watteaus gleichzukommen: "What You Will” von 1822 wirkt neben dem Vorbild artifiziell. Turner konnte weder Figuren malen noch aus vollem Herzen lachen.

    Doch am Schluss triumphierte er, zumindest was seine Selbsteinschätzung angeht. In seinem Testament vermachte er der National Gallery zwei seiner Landschaftsdarstellungen, mit der Auflage, sie gleichberechtigt zwischen zwei Gemälde des verehrten Lorrain zu hängen, das eine die zu Beginn genannte "Einschiffung der Königin von Saba”. Sie hängen noch heute so.