Archiv


"Der Krieg als Ganzes"

Zahllose Studien gibt es bereits zu einzelnen Aspekten des Ersten Weltkriegs, doch kaum eine Gesamtdarstellung. Der britische Historiker David Stevenson hat 2004 zum 90. Jahrestag des Kriegsbeginns eine solche Untersuchung, die alle Voraussetzungen und Folgen des Ersten Weltkriegs in den Blick nimmt, auf Englisch vorgelegt. Nun ist diese voluminöse Arbeit auf Deutsch erschienen.

Von Volker Ullrich |
    David Stevenson ist Professor für Internationale Geschichte an der renommierten London School of Economics, und international ist auch seine Weltkriegsgeschichte angelegt. Der Ehrgeiz des Autors richtet sich darauf, wie er einleitend betont, "den Krieg als Ganzes darzustellen", das heißt in allen seinen militärischen, politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Aspekten, und dies gleichermaßen für alle kriegführenden Parteien – für die Alliierten, Frankreich, Russland und Großbritannien, wie auch für die Mittelmächte, das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn, sowie für die mit beiden Lagern verbündeten Staaten. Das ist ein gewaltiges Programm, denn die Literatur allein für jedes einzelne kriegführende Land füllt mittlerweile ganze Bibliotheken. Dennoch hat Stevenson den vergleichenden Ansatz konsequent durchgehalten. Das zeichnet sein Buch in besonderer Weise gegenüber anderen Darstellungen zum Ersten Weltkrieg aus, die sich zumeist von einer engeren, nationalzentrierten Sicht leiten lassen.

    Bereits das erste Kapitel "Zerstörter Friede" zeigt die Fruchtbarkeit der vergleichenden Perspektive. Der britische Historiker zeichnet darin noch einmal den Weg nach, der in den Ersten Weltkrieg führte. Er macht deutlich, dass beide Bündnisblöcke - die Zweibundmächte ebenso wie die Triple-Entente - ihren Teil dazu beigetragen hatten, dass sich die internationalen Spannungen vor 1914 ständig verschärften und der Friede immer brüchiger wurde. Dennoch stellt er klar, dass es im Sommer 1914 keineswegs zum großen Konflikt hätte kommen müssen, wenn nicht Österreich-Ungarn und Deutschland das Attentat von Sarajewo zum Vorwand genommen hätten, um endlich die entscheidende Kraftprobe mit den Ententemächten herbeizuführen. Dabei schreibt Stevenson, durchaus im Einklang mit dem Mainstream der deutschen Forschung zur Julikrise 1914, der deutschen Reichsleitung den aktiveren Part zu. Zwar sei es ihr nicht um die vorsätzliche Auslösung eines Eroberungskrieges à la Hitler gegangen, wohl aber habe sie von Anfang an das Risiko eines Weltkriegs in Kauf genommen, und dies vor allem aus Angst vor einem Verlust der eigenen Großmachtstellung. Die Hervorhebung der besonderen Verantwortung des Deutschen Reiches für den Kriegsausbruch verführt den Autor allerdings nicht dazu, den Anteil der anderen Mächte gering zu veranschlagen. Von einem ungewollten "Hineinschlittern" in den Krieg könne auf keiner Seite die Rede sein.

    Damit hat Stevenson sein Leitthema intoniert. Ihm geht es darum, deutlich zu machen, dass der Epochenbruch des Ersten Weltkriegs kein unvermeidliches Naturereignis war, sondern "eine von Menschen durch politisches Handeln hervorgerufene Katastrophe". Ein besonderes Gewicht legt er deshalb auf die Prozesse und Entscheidungen, die diesem Handeln zugrunde lagen und es über vier Jahre steuerten. Dabei ist immer wieder die Verwunderung darüber zu spüren, wie die Regierungen und Völker Europas sich in einen solchen selbstmörderischen Konflikt verbeißen konnten.

    "Es mag heute kaum glaublich erscheinen, dass vor nur 90 Jahren Europäer die Grenzposten abrissen, um einander in Massen niederzumetzeln, und auch in der damaligen Zeit war das Schauspiel wohl kaum weniger beunruhigend. Dennoch brachten die meisten ihre inneren Vorbehalte zum Schweigen. Bereits am 4. August marschierten deutsche Soldaten in Belgien ein, und das Morden - einschließlich der Hinrichtung von Zivilisten - begann."

    Obwohl Stevenson auch den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Weltkrieg Aufmerksamkeit zuwendet, gehört seine eigentliche Leidenschaft doch der militärischen Geschichte. Man kann es dem Autor kaum verdenken, dass seine Sympathien eher auf Seiten der Alliierten liegen, die sich ja nicht zu Unrecht als Opfer einer deutschen Aggression sahen, doch auch der Kriegführung der Mittelmächte bringt er ein erstaunliches Maß an Objektivität entgegen. Besonders den Leistungen des deutschen Heeres zollt er unverhohlene Anerkennung:

    "Das große Schwungrad, dessen Bewegung den Krieg am Laufen hielt, blieb die deutsche Armee, deren Selbstvertrauen zwar 1916 abgenommen hatte, deren Disziplin jedoch außergewöhnlich war; bei Angriff und Verteidigung war sie nach wie vor ein starker und furchterregender Gegner."

    Ausführlich, manchmal bis ins kleinste operative Detail, schildert Stevenson die großen Schlachten an der West- und Ostfront: den deutschen Rückzug an der Marne und den Sieg Hindenburgs und Ludendorffs bei Tannenberg 1914, die erfolgreiche Sommeroffensive der Mittelmächte in Russland 1915 und die großen Abnutzungsschlachten vor Verdun und an der Somme 1916. Über die europäischen Kriegsschauplätze hinaus weitet sich der Blick auf die Auseinandersetzungen in Ostasien, in den afrikanischen Kolonien und im Vorderen und Mittleren Orient. Neben den Kampfhandlungen zu Lande werden auch die zur See behandelt. Dabei wechselt der Autor immer wieder die Perspektive: von den Generalstäben hin zu den einfachen Soldaten, die zum tödlichen Kampf gegeneinander aufgerufen waren. Weihnachten 1914 an der Westfront, als deutsche und britische Soldaten aus ihren Gräben stiegen und eine Waffenruhe vereinbarten, nennt Stevenson "einen der ergreifendsten Augenblicke" des Kriegs.

    "Die Episode ist ein beredtes Beispiel dafür, dass viele Soldaten in vorderster Front keinen Groll gegeneinander hegten, dass sie sich vielmehr nun, da der Rausch der ersten Tage verflogen war, durch den Druck von oben in einer Tötungsmaschinerie gefangen sahen."

    In dem "Druck von oben", dem Eingebundensein in ein Zwangssystem von Disziplin und Gehorsam, sucht der Autor auch die Antwort auf eine immer wieder gestellte Frage: Wie konnten die Soldaten die ungeheuren Belastungen aushalten, die mit den Materialschlachten an der Westfront, etwa bei Verdun, verbunden waren?

    "Es findet sich in der Geschichte kein Vergleich zu einer solchen massiven Konzentration von Feuerkraft und menschlichem Leid auf so kleinem Raum und über eine so lange Zeit - und mit so dürftigen militärischen Ergebnissen."

    Der britische Historiker beschreibt das, was sich hier und später auch an der Somme abspielte, ungeschminkt als "massenhaftes Abschlachten". Vor allem das Maschinengewehr erwies sich als ein furchtbares Mordinstrument.

    "Ein schweres Maschinengewehr konnte bis zu sechzig Schuss in der Minute abgeben - so viel wie 40 Gewehrschützen. Der Wirkungsbereich war größer; die Waffe hatte einen elliptischen Wirkungsbereich von 2275 Metern in der Länge und 455 Metern in der Breite. So lange die Bedienungsmannschaft die Patronengurte nachschob und das Kühlwasser nachfüllte, konnte das schwere MG seine tödlichen Schwenks ohne Unterbrechung fortsetzen."

    Das mechanisierte, industrialisierte Töten - das war die grundlegend neue Erfahrung der Kriegführung im Ersten Weltkrieg, und sie warf ihre Schatten weit voraus. Stevenson macht deutlich, dass es gerade die Pattsituation nach dem Scheitern des Bewegungskrieges im Herbst 1914 war, die für eine unvorhersehbare Eskalation des Krieges sorgte. Jede Seite versucht, die andere zu übertrumpfen, um doch noch den militärischen Sieg zu erringen: durch restlose Mobilisierung aller ökonomischen Ressourcen, durch eine enorme Steigerung der Rüstungsproduktion, durch eine intensive Feindpropaganda, auch im populären Medium des Films, vor allem aber durch die Erfindung immer neuer, schrecklicherer Waffensysteme. In diesem auf die allmähliche Zermürbung und Erschöpfung des Gegners angelegten totalen Krieg besaßen die Alliierten einen Vorteil: Sie konnten, weil sie die Seeherrschaft errungen hatten, auf ihre Ressourcen in den Kolonien und überseeischen Gebieten zurückgreifen, während sich die Mittelmächte durch die alliierte Seeblockade von Zufuhren weitgehend abgeschnitten sahen. Dennoch war der Ausgang des Krieges nach dem Urteil des Verfassers auch in den Jahren 1916 und 1917 noch keineswegs entschieden. Dass sich die Waage schließlich zuungunsten der Mittelmächte neigte, führt Stevenson in erster Linie auf Fehlentscheidungen der deutschen Führung zurück. Zu den gravierendsten zählt er den Entschluss zum uneingeschränkten U-Bootkrieg im Januar 1917. Denn dadurch wurden die Vereinigten Staaten in den Krieg hinein provoziert, eine entscheidende Voraussetzung für den alliierten Sieg. Zu Recht zieht der Autor hier eine Parallele zum Juli 1914:

    "Wie bereits 1914 forcierte Berlin das Problem und setzte alles auf eine Karte, anstatt zu warten und auf eine Verbesserung der Situation zu hoffen... Die deutsche Führung unterschätzte ihr Gegenüber, forderte aber das Risiko eines Krieges mit Amerika sehenden Auges heraus."

    Dasselbe Muster wiederholte sich im Frühjahr 1918, als Erich Ludendorff, der starke Mann der seit 1916 amtierenden dritten Obersten Heeresleitung, nach dem Separatfrieden mit dem revolutionären Russland in Brest-Litowsk noch einmal alles auf eine Karte setzte, um die Entscheidung im Westen zu erzwingen.

    Einer der großen Vorzüge dieser eindrucksvollen Darstellung ist, dass sie nicht nur über Entstehung und Verlauf des Ersten Weltkriegs umfassend informiert, sondern in einem Schlusskapitel auch auf die Nachwirkungen eingeht. Dazu zählte ein bald aufblühender Kult um die Kriegstoten, der in jedem Land ein spezifisches Gepräge annahm. Noch wichtiger freilich war die Veränderung der Mächtekonstellation im Gefolge des Konflikts. Der Erste Weltkrieg bahnte nicht nur den Vereinigten Staaten den Weg zur Weltmacht, er wurde auch zum Geburtshelfer der kommunistischen Diktatur der Sowjetunion, unter deren Nachwirkungen Osteuropa noch lange leiden wird. Auch das Aufkommen des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus wäre ohne die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges kaum denkbar. Niemand vermochte die durch das Trauma der Niederlage und die Demütigung des Versailler Vertrags entstandenen Ressentiments so wirkungsvoll zu bündeln wie der Führer der NSDAP, der Weltkriegsgefreite Adolf Hitler. In seinen paramilitärischen Verbänden kämpften Männer, die im Krieg ans Töten gewöhnt worden waren und die keine Hemmungen kannten, Gewalt gegen den politischen Gegner einzusetzen.

    Stevenson verweist aber noch auf eine andere Hinterlassenschaft: Die Konflikte auf dem Balkan, von wo der Krieg seinen Ausgang genommen hatte, wurden nach 1918 nicht entschärft, im Gegenteil. Und auch in der Region des Nahen und Mittleren Ostens wurde die Ordnung, auf die Briten und Franzosen sich im Kriege verständigt hatten, zum Ausgangspunkt von Konflikten, welche die Welt noch immer in Atem halten. Es sind nicht zuletzt die weltpolitischen Langzeitwirkungen der europäischen Katastrophe von 1914 bis 1918, die der britische Historiker im Auge hat, wenn er am Ende seiner grandiosen Geschichtserzählung davor warnt, allzu leichtfertig mit der militärischen Option zu spielen:

    "Jede Entscheidung zum Krieg muss mit der historischen Tatsache konfrontiert werden, dass der Krieg ein schrecklich stumpfes Instrument ist; seine Nachwirkungen können nicht zuverlässig vorausgesagt werden - und er kann die Dinge nur noch schlimmer machen. Alle militärischen Unternehmungen, so legitim ihre Motive auch sein mögen, bergen das Risiko, dass sie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und Mittel verletzen und dass sie zu einem schlechten Krieg und zu einem schlechten Frieden führen werden."

    David Stevenson: Der Erste Weltkrieg 1914 - 1918
    Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006
    799 Seiten
    39,90 Euro