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Der Künstler der Körperlichkeit

Der italienische Maler Francesco Clemente polarisiert. Kritiker werfen ihm vor, bei seiner Kunst handele es sich um philosophisch verbrämte Pornografie. Die Frankfurter Kunsthalle Schirn zeigt eine Werkschau seiner traumähnlichen Visionen in Sepia.

Christina Vielhaber im Gespräch mit Christoph Schmitz |
    Christoph Schmitz: Während Massera ins Innere der Gesellschaft schaut, schaut der italienische Maler Francesco Clemente ins Innere des menschlichen Körpers. Die drastische Art, mit der Clemente die Körperlichkeit darstellt und sich alle Öffnungen genau anschaut, hat phasenweise einen Streit darüber ausgelöst, ob es sich bei seiner Kunst letztlich nicht doch nur um philosophisch verbrämte Pornografie handelt. Francesco Clemente aus Neapel - er wird im nächsten Jahr 60 Jahre alt -, seine Bilder und Farben sind vitalistisch geblieben, obwohl er mit der "Arte Povera" begonnen hat. Er hat Joseph Beuys getroffen in Rom, ihn gut kennengelernt, mehr oder weniger, mit der Pop Art war er erfolgreich, in der Frankfurter Kunsthalle Schirn sind nun 40 Werke aus vielen Jahrzehnten, aus drei Jahrzehnten zu sehen, von 1978 bis 2011. – Christiane Vielhaber, welche herausragenden Arbeiten aus diesen drei Jahrzehnten gibt es denn zu sehen, die einen direkt so anspringen?

    Christiane Vielhaber: Die Arbeit ist dreigeteilt und der erste große Raum ist einfach umwerfend schön. Es sind 15 große Aquarelle, groß, damit man eine Vorstellung hat: Sie sind 1,80 Meter hoch und über 3,60 Meter breit und sind auf Stoß gehängt. Es ist eine solche Farbenpracht und so eine Wucht, wenn Sie in diesen Raum reinkommen, dass Sie erst mal gar nicht sehen, um was geht es hier, sondern Sie sind wirklich von dieser lichten, von dieser wässrigen Farbe umfangen. Und dann kann man ja auf Augenhöhe so praktisch an diesen mannshohen Bildern vorbeigehen. Die erzählen eine Geschichte, sie erzählen die Geschichte des Herzens auf drei Regenbogen. Nicht auf jedem Bild ist ein Regenbogen, aber Sie erkennen überall Herzen. Sie erkennen gebrochene Herzen, dann war zum Beispiel ein Blatt, da sieht man ein Schloss von oben mit so Dornen bewachsen darum herum, dass keiner draufkommt, und oben liegt dann ein zerbrochenes Herz, und dann denkt man natürlich gleich an Dornröschen, dass niemand zu diesem gebrochenen Herzen raufkommt.

    Schmitz: Das ist der erste Saal mit 15 Bildern?

    Vielhaber: Ja.

    Schmitz: Im zweiten, gibt es da auch ein zentrales Motiv? Nicht die Herzen, sondern?

    Vielhaber: Der zweite Saal ist sein Leben, auch das Bilder, und zwar hat er eine Auswahl getroffen von Fotos aus seinem Atelier. Sie haben Fotos von Briefen, Sie haben Fotos zum Beispiel von Allen Ginsberg, den er sehr geschätzt hat, Sie sehen auf einem Foto, wo er de Kooning, den amerikanischen Maler, der schon längst tot ist, in seinem Atelier besucht hat, Sie sehen eine Skulptur von Beuys, und er hat das ganze zu einer Wandtapete gebaut, die 16 Meter lang ist und sich um die Rotunde zieht, die oben in der Schirn ist. Das ganze ist so mit Sepia eingefärbt, darum haben Sie so eine verschattete Vorstellung von der Stimmung in seinem Atelier: Afrikanische Plastiken, indische Miniaturen, er hat sich oft in Indien aufgehalten, dann eine Skulptur von Beuys, und das ganze gibt so etwas Literatur, Musik, also das ist was ganz Merkwürdiges. Und dann kommt der Raum mit großer Malerei, unter anderem, was man selten sieht, ein großes Porträt von seiner Frau Alba, mit der er vier Kinder hat, ein großes Porträt von der Fotografin Annie Leibovitz. Es ist also auch richtig Malerei und eben nicht nur das mit den Körperflüssigkeiten und Körperöffnungen.

    Schmitz: Wie Sie das so beschrieben haben, sind das traumähnliche Visionen, Fantasien, Porträts allerdings auch, erotische Anspielungen gibt es vielleicht auch, oder Spirituelles, wenn man an diese Herzen denkt.

    Vielhaber: Durchaus wie bei diesen Herzen natürlich.

    Schmitz: Aber welcher Bildkosmos ist das insgesamt? Was sagt er, was will er, welches Theater will er vorführen? Ein Welttheater der Emotionen, oder wie kann man das beschreiben?

    Vielhaber: Nein, es sind die Einflüsse der vielen Kulturen, die er erlebt hat. Er führt ein sehr nomadisches Leben von Anfang an, er hat eben nicht nur in Italien gelebt, sondern in den 70er-Jahren schon in New York, wo er auch regelmäßig lebt, und er ist schon ganz früh regelmäßig nach Indien gegangen. Also diese ganzen Geisteswelten, da ist ganz viel Pseudo- dabei. Diese vielen Selbstporträts, die es von ihm gibt, da sagt er dazu, das ist kein Spiegel, das ist eine Wiedergeburt. Er wird also immer wieder geboren. Das muss man alles nicht so furchtbar ernst nehmen. Oder der ganze philosophische Überbau, den er in Interviews von sich gibt, oder auch psychologisch, das muss man nicht lesen. Man kann einfach diese Bilder als wirklich gute, geheimnisvolle, erzählerische, bunte, figurative Malerei genießen. Dass das was mit dem Unbewussten und mit dem Unterbewussten zu tun hat, erschließt sich sofort, aber dass man das jetzt ausdeutet, das will er auch gar nicht.

    Schmitz: Christiane Vielhaber, vielen Dank für diese Beschreibung der Ausstellung "Palimpsest" von Francesco Clemente in der Schirn in Frankfurt.