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"Der Kult des Schönen"

"Aesthetic Movement ist eine Bewegung vor gut 150 Jahren, die die Kunst von allen religiösen oder politischen Botschaften befreien wollte. Denn das Aestheic Movement umfasste neben Kunst und Kunsthandwerk auch die Literatur. Eine große Ausstellung im Londoner Victoria-and-Albert-Museum erinnert nun an diese Bewegung.

Von Hans Pietsch | 29.04.2011
    Er hätte einem der Gemälde an der Wand entstiegen sein können: wallendes Cape, Samtanzug mit Knickerbockern und Seidenstrümpfen, seidener Schal, nach oben gezwirbelter Schnurrbart, weißer Spitzbart. Kurator Stephen Calloway lebt seinen Traum vom Dandy der Mitte des 19. Jahrhunderts. Als eine Art Oscar Wilde, der das Sprachrohr der Ästheten war. Wie sein Lehrer Walter Pater plädierte er für eine Befreiung der Sinne, für "Kunst um der Kunst willen”. Rebellion stand auf dem Programm - gegen die Steifheit der Viktorianer und gegen die Hässlichkeit ihrer Kunst.

    Frederic Leightons Bronzestatue "The Sluggard” von 1885 stimmt ein - der nackte Athlet, der einen Wettkampf gewonnen hat, streckt sich lässig und selbstbewusst, fast als sei er gerade aus dem Schlaf erwacht. Vorbei an Dante Gabriel Rosettis melancholischer Schönen "Bocca Bacciata”, die zum ersten Mal den neuen Frauentyp mit vollen Lippen und rotem Haar vorstellt, geht es zu James McNeill Whistlers "Symphony in White” mit seinem ätherischen jungen Mädchen in Weiß, und dann zu einem mit Edelsteinen besetzten Schlangenarmband, das Lawrence Alma-Tadema für seine Frau entwarf. Und immer wieder die Schönheit suggerierenden Symbole: die Pfauenfeder, eine Feder umrahmt die üppige Haarpracht von Leightons "Pavonia”, die Lilie als weibliche, die Sonnenblume als männliche Schönheit.

    Nicht nur ihre Kunst und den Schmuck ihrer Frauen stellten sie auf den Kopf, sondern auch ihre Behausungen - Schöner Wohnen der Ästheten. Sie ließen sich ganze Einrichtungen entwerfen, weg von den verhassten schweren Mahagonymöbeln, leichtere Materialien und Formen, die Wohnkultur Japans und Chinas stand Pate.

    Das 1852 gegründete Victoria und Albert Museum ist der passende Ort, den "Kult des Schönen” zu zeigen. Seine Schätze sollten Künstler und Designer zu Höhenflügen anspornen, und der "Grüne Saal” von William Morris war das erste Museums-Restaurant der Welt. Ein paar Straßen weiter beginnt das Viertel Holland Park, wo sich Frederic, später Lord Leighton ein opulentes Atelierhaus bauen ließ. Und um die Ecke liegt Chelsea, wo unter anderem Rosetti, dessen winzigen Schlafraum die Schau nachstellt, und Whistler residierten.

    Es ist heute kaum vorstellbar, mit welchem Schock die zugeknöpften Viktorianer auf die Farben der Ästheten reagierten: das grelle Orange der Tuniken der drei Grazien auf Albert Moores "Mittsommer” oder das Pink des Seidengewands, in das derselbe Maler seine "Vorleserin” kleidet. Sie machten sich aber auch lustig über die Ästheten: auf einer Karikatur wirft sich der Dichter Algernon Swinburne in Pose und betet eine Sonnenblume an.

    Doch nach einer Weile hat man genug von den hingegossenen Schönen mit ihren wallenden Gewändern, flammenroten Haaren und sinnlichen Lippen. Im letzten Raum zeigen die nun schon älteren Herren noch einmal, was sie können. Nicht mehr viel eigentlich, ihr Draufgängertum ist zur Routine geworden, die Bewegung sackt in hedonistische Dekadenz ab. Kein Wunder, dass Leightons Ladies sich auf Pralinenschachteln und Geburtstagskarten wiederfanden.

    Was bleibt, sind vor allem Möbel und Gebrauchsgegenstände von Designern wie Edward William Godwin und Christopher Dresser, deren Eleganz den Jugendstil ankündigt. Was bleibt, ist eine Aura von jugendlichem Überschwang und Rebellion, der man sich nicht entziehen kann. Und natürlich Kurator Stephen Calloway als Dandy.

    The Cult of Beauty: The Aesthetic Movement 1860 - 1900. Bis 17. Juli 2011.