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Der kultivierte Affe

Sie sind der Mittelpunkt in jedem Zoo, ziehen die Besucher magisch an: Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans. 400 Jahre ist es her, seit die ersten Menschenaffen aus den exotischen Regionen Afrikas und Asiens nach Europa kamen. Die Geschichte ist geprägt von Zerrbildern und Verklärungen.

Von Peter Leusch | 11.10.2012
    "Ungeheuer, welche in diesen Waldungen leben und in höchstem Maße gefährlich sind. Der Pongo hat den Gliederbau eines Menschen, ähnelt aber eher einem Riesen als einem Manne. Niemals kann man diese Pongos lebend erhalten, weil zehn Männer nicht imstande sind, sie festzuhalten."

    1625 schildert ein gewisser Andrew Battel in seinem Reisebericht jene unbekannten monströsen Wesen, wahrscheinlich Gorillas oder Schimpansen - denen er in Afrika begegnet ist.

    "Man musste erst einmal nach der Entdeckung herausfinden, was ist denn das eigentlich: ein Teufel oder ein Monster oder vielleicht ein Waldmensch oder ein Pygmäe. Und wir mussten überhaupt erst einmal einen Namen finden für dieses Wesen. Und das ist der Anfang der Primatologiegeschichte, der Geschichte der Menschenaffen. Und heute stehen wir da, dass wir sagen, das könnte sogar unser Bruder sein oder es könnte eine Person sein. Und der ich jetzt irgendwie versuche, nahezukommen."

    Vom Monster zur Person, so umreißt Hans Werner Ingensiep, Philosoph und Biologe von der Universität Duisburg-Essen, wie sich das Bild des Menschenaffen in den letzten 400 Jahren gewandelt hat. Es ist keine geradlinige Karriere, sondern eine Geschichte mit Auf und Ab, voller Zerrbilder und Verklärungen. Der Affe wechselt die Rollen: Er ist Karikatur des Menschen, guter Wilder bei Rousseau, Bestie a là King Kong oder Freund des Menschen wie Tarzans Cheeta. Nicht nur das populäre Bild, auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Affen hat sich gewandelt und weiterentwickelt. Vom 17. Jahrhundert, als die ersten nach Europa importierten Exemplare von den Ärzten seziert wurden, bis hin zur modernen, experimentellen Primatologie. Und nicht erst seit Darwin geht es vor allem darum, die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Affe zu bestimmen.

    "In den 50er-Jahren wird vor allem die Kreativität von Menschenaffen untersucht: Können sie malen wie wir - wie kleine Menschenkinder? Können sie farblich abstrakte Bilder hervorbringen? – Und dann ab den 70er-Jahren wird vor allem gefragt: Können sie sprechen wie wir? Können sie sozial kommunizieren wie wir? Das heißt, wir stellen immer nähere, persönlichere Fragen."

    Menschenaffen erscheinen nicht länger als beliebige Exemplare ihrer Gattung, sondern als Individuen mit je besonderen, unverwechselbaren Eigenschaften. Sie besitzen eine Persönlichkeit, erhalten Eigennamen. Aber – so fragt die Forschung - sind die Menschenaffen nicht darüber hinaus mit einem Geist, mit einem Bewusstsein ausgestattet, wie man das bisher nur dem Menschen zuschrieb? Könnten sie von ihrer Intelligenz her vielleicht auch eine Sprache lernen und mit uns kommunizieren? Den Beweis lieferte Ende der 60er-Jahre die Schimpansin Washoe. Als erstes Tier lernte Washoe mehrere Hundert Zeichen der amerikanischen Gebärdensprache und konnte sie kreativ kombinieren. Berühmt durch seine geistigen Leistungen wurde auch das Gorillaweibchen Koko.

    "Koko ist einer der wenigen Gorillas, die es auf die Titelseite von National Geographic gebracht haben. Und zwar mit einem Bild, wo sie, die Gorilladame, die seit etwa 30 Jahren mit einer Primatologin zusammenlebt in Amerika, wo diese Gorilladame mit einem Fotoapparat sich selber im Spiegel fotografiert – ein berühmtes Bild, eine Ikone der modernen Primatologie. Und das bedeutet aus der Sicht der Primatologin: Sie besitzt Selbstbewusstsein, sie ist intelligent, sie ist kreativ, sie kann sozial kommunizieren, sie kann Englisch verstehen, hat vielleicht sogar Todesbewusstsein. Wenn man sie fragt, fürchtest du dich vor dem Tod? Dann kommen so metaphorische Antworten, wie "Schwarzes Loch", "Goodbye"."

    Aufrechter Gang, Werkzeuggebrauch, Sprache, Selbstbewusstsein - ein Kriterium nach dem anderen, an dem der Mensch seine Überlegenheit gegenüber dem evolutionsbiologisch nächsten Verwandten festmachen wollte, kippte wie ein Grenzstein um. Auch die anthropologische Annahme, allein der Mensch könne zwischen wahr und falsch unterscheiden, wurde von den Ergebnissen der Verhaltensforschung widerlegt. Denn, so der Philosoph Michael Weingarten von der Universität Stuttgart, auch Schimpansen können wischen Wahrheit und Lüge unterscheiden und machen sich diese Kenntnis zunutze.

    ""Ein Schimpanse kann bewusst einen anderen Schimpansen täuschen, um beispielsweise an die Nahrung heranzukommen, die der andere Schimpanse gerade hat. Indem er die Aufmerksamkeit des Schimpansen auf etwas anderes lenkt, indem er einen Warnausruf ausstößt, es kommt ein Löwe. Es kommt aber keiner. Und dadurch verhält er sich menschlich, indem er sich durch einen kleinen Betrug einen Vorteil verschafft. Das ist doch eine Eigenschaft, die wir von uns sehr gut kennen."

    Manche Philosophen wenden ein, dass das menschliche Wahrheitsverständnis viel komplexer sei als ein simples Lügen-Können. Hans Werner Ingensiep dagegen erklärt, dass diese Art von Vergleich, diese Operation mit menschlichen Wertmaßstäben in die Absurdität führe.

    "Brauchen Menschenaffen überhaupt den Begriff der Wahrheit? Ist das nicht schon eine etwas überdrehte Konfiguration, wieder typisch europäische Kultur? Fragen, die wir stellen, weil wir in unserer Kultur, immer nach der Wahrheit suchen und sie nicht finden, drängen wir das in diese Primatendebatte hinein."

    Hier zeigt sich das grundsätzliche Problem des Anthropomorphismus. Dass die Wissenschaft letztlich den Menschen als Maßstab nimmt, an dem sie andere Lebewesen misst und bewertet. Vermutlich würden Menschenaffen andere Kategorien anlegen. Statt Wahrheitsfähigkeit vielleicht Kletternkönnen - und dementsprechend die eigene Spezies über den Menschen stellen. Der Mensch aber erachtet sich nur theoretisch als Krone der Schöpfung, er hat sich auch praktisch zum Herrn über die Natur aufgeschwungen. Und er hat sich in der Menschenrechtserklärung besondere Grundrechte verbriefen lassen, die den Tieren nicht zustehen. Tierrechtsschützer haben das als menschlichen Artegoismus, als Speziesismus, gegeißelt. Und die Philosophen Paola Cavalieri und Peter Singer fordern deshalb seit 1993 im sogenannten "Great Ape Project" Menschenrechte für die großen Menschenaffen.

    "Gleichheit von Grundrechten heißt aus der Sicht des Great Ape Project, angestoßen durch Cavalieri und Singer, vor allem im angelsächsischen Raum: erstens Recht auf Leben, zweitens Freiheit und drittens auf jeden Fall auch Freiheit von Folter. Und im weitesten Sinne fallen hier nicht nur Tierversuche drunter, sondern auch Zoos, dass sie in Zoos eingesperrt werden, ohne dass ihre Grundrechte berücksichtigt würden."

    Die Bemühungen der Tierrechtsethiker drohen in einer juristischen Sackgasse zu enden: Um nicht länger wie eine Sache behandelt zu werden, müsste Affen der Status einer quasi-menschlichen Person zugesprochen werden, damit sie ihr Schutzrecht einklagen könnten. Aber tut diese Gleichsetzung den Affen nicht ebenso unrecht wie den Menschen? Hans Werner Ingensiep plädiert deshalb für einen anderen Weg, für eine Verantwortungskultur, die den Menschen gegenüber den genetischen nächsten Verwandten stärker in die Pflicht nimmt. Sein ethischer Appell lautet:

    "Du hast eine Verantwortung, aber nicht deshalb, weil der Affe dir so ähnlich ist, sondern vielleicht gerade, weil er dir nicht ähnlich ist. Eine besondere Verantwortung im Rahmen deines expandierenden Humanismus, der letztlich vom Menschen als Verantwortungsträger ausgeht. Diese Verantwortung musst du wahrnehmen - der Mensch ist insofern nicht wegzudenken aus der Ethik als zentrale Figur, als zentraler Akteur."