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Der lange Weg der Kabylen

Die Berber sind die eigentlichen Ureinwohner Nordafrikas. Mit etwa zehn Millionen Menschen stellen sie in Algerien ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Die größte Gruppe dieser ethnischen Minderheit sind die Kabylen. Die arabische Zentralregierung verweigert ihnen die volle Anerkennung ihrer Kultur und Sprache, des Tamazight.

Von Claudia Altmann |
    Dieser Tage erinnern sich die Kabylen an die erste Protestbewegung vor 30 Jahren und fordern dabei einmal mehr die Gleichstellung ihres Berbertums. Kaum einen Kabylen hält es dieser Tage zu Hause. Wie hier in Tizi Ouzou, der größten Stadt der Kabylei, wird überall bei Konzerten, Theater, Demonstrationen und Konferenzen an den sogenannten Berberfrühling 1980 erinnert. Das Verbot einer Lesung in Tamazight an der Universität Tizi Ouzou hatte damals die Studenten auf die Straßen getrieben und in der ganzen Region einen Aufstand entfacht.

    Bei der gewaltsamen Niederschlagung gab es viele Verletzte und Verhaftete. Von Anfang an gingen die Forderungen weit über die ethnische Dimension hinaus und waren immer auch politisch. Bei den Machthabern im damaligen diktatorischen Einparteiensystem riefen sie daher auch Misstrauen und Ablehnung hervor. Für Youcef Merahi, heute Vorsitzender des staatlichen obersten Rates für Berberangelegenheiten, ist jedoch beides nicht voneinander zu trennen. Er gehört zu den Kämpfern der ersten Stunde.

    "Die Ereignisse vom Frühling 1980 hatten eine soziale Triebkraft, die die gesamte Kabylei erfasst hat. Es ging im Wesentlichen um drei Dinge. Das waren: der Ruf nach mehr Demokratie und politischer Öffnung, nach der Durchsetzung freiheitlicher Grundrechte in allen Bereichen, das heißt, sowohl die Freiheit des Individuums als auch des Denkens, der Presse und so weiter. Und an dritter Stelle haben wir gefordert, endlich mit der Verweigerung der amazighischen Identität, unseres Berbertums, Schluss zu machen."

    Dass Algerien seit 1989 ein Mehrparteiensystem hat, ist nicht zuletzt auch den Kabylen zu verdanken. Sie gehörten auch zu jenen, die in den 1990er-Jahren den extremistischen Islamisten am heftigsten Widerstand leisteten. Sie sagten Nein zum Gottesstaat und zur Militärdiktatur. Teilerfolge in eigener Sache haben sie jedoch erst erreicht, nachdem sie dafür einen hohen Blutzoll gezahlt haben. Beim Berberaufstand in den Jahren 2001 und 2002 starben 126 junge Kabylen.

    Die Massenproteste, die auch Algier erfasst hatten, zwangen die Regierung, sich mit den Berbern an einen Tisch zu setzen. Zwar sind die Schuldigen für die Morde bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Aber das Berbertum wurde als eine der drei Säulen des Staates neben dem Arabertum und dem Islam anerkannt. Tamazight darf in den Schulen der Kabylei gelehrt werden und das staatliche Fernsehen strahlt seit zwei Jahren ein - wenn auch kontrolliertes - Programm in Tamazight aus. Dem Arabischen gleichgestellte offizielle Sprache ist es aber immer noch nicht. Und noch ein weiteres Problem harrt seiner Lösung: Die Kabylei gehört zu den ärmsten Gegenden Algeriens. Der Wirtschaftswissenschaftler Amar Derriche sieht darin eine tickende Zeitbombe.

    "Da es keine Investitionen gibt, gibt es praktisch auch keinen Arbeitsmarkt. Der algerische Staat misst dem einfach keinerlei Bedeutung bei. Die meisten Jugendlichen haben bis vor Kurzem von dem Geld gelebt, das ihnen ihre Verwandten vor allem aus Frankreich geschickt haben. Aber viele von ihnen haben jetzt dort ihre eigenen Familien, sodass diese Quelle allmählich versiegt. In einer derart dicht besiedelten Region mit 1,4 Millionen Menschen, die keine Arbeit haben, ist das eine sehr große Gefahr."

    Vor allem viele junge Menschen lehnen eine Gesellschaft ab, in der sie von den Oberen arrogant bevormundet werden. Außerdem ist in den vergangenen Jahren erneut der Einfluss der Islamisten immer stärker geworden. Schleierzwang, Alkoholverbot, Bigotterie entsprechen nicht dem Lebensgefühl vieler Kabylen. Das Ergebnis: Immer mehr konvertieren zum Christentum. Zu ihnen gehört auch die 20-jährige Kahina. Die Studentin kommt seit einem Jahr regelmäßig in einen der Gebetsräume der protestantischen Gemeinde im Zentrum ihrer Geburtsstadt Tizi Ouzou. In dem Saal der einstöckigen Villa haben sich an dem Tag mehrere 100 Gläubige versammelt.

    "Gott hat mich gerufen. Früher wusste ich nichts von Jesus, vom Christentum. Dann hat mir meine Schwester zu Hause davon erzählt. Obwohl ich anfangs ziemlich dagegen war, habe ich mich doch näher damit beschäftigt. Ja und dann hat mich eine spirituelle Kraft angezogen und auf diesen Weg geführt. Als ich dann das erste Mal hier in die Kirche gekommen bin, hat es mir sehr gefallen. Ich habe sehr viele neue Dinge kennengelernt, die ich vorher nie so erlebt hatte. Liebe. Freude. Frauen, Männer und Kinder, die gemeinsam beten. Das hatte ich doch vorher noch nie erlebt. Und ich habe viele Leute getroffen, die hier zu einer Familie geworden sind."

    Obwohl der Islam vorschreibt, die Gläubigen der anderen beiden Buchreligionen, also Christen- und Judentum, als gleichwertig zu respektieren, ist eine solche Haltung für fanatische Muslime ein rotes Tuch. Erst zu Jahresbeginn wurde in Tizi Ouzou eine Kirche niedergebrannt. Die Anzeige des Pastors wurde von den Behörden jedoch nicht bearbeitet. Dennoch lassen sich die Christen nicht beirren. Davon ist auch Pastor Salah Chellal überzeugt.

    "In der Kabylei herrscht ein offenerer Geist als anderswo. Hier sind die Leute vor allem sehr tolerant. In unseren Dörfern kann jeder sagen, was er denkt. Dabei ist es egal, ob jemand gläubig ist oder nicht. Ich glaube, es ist dieser offene Geist, der es den Menschen erlaubt, ohne Angst ja zu ihrem Glauben zu sagen. Wegen dieser größeren Freiräume gibt es hier auch mehr Christen als in den anderen Landesteilen. In den arabischsprachigen Gegenden Algeriens können sie ihren Glauben nicht offen leben aus Angst davor, belästigt oder verfolgt zu werden."

    Aber man muss nicht Christ sein, um Probleme mit den Fanatikern zu bekommen. In den schwer zugänglichen Schluchten halten sich bewaffnete Gruppen versteckt. Da die Kabylen ihnen die Hilfe verweigern, erpressen sie Lösegelder durch Entführungen.

    Die Sicherheitskräfte gehen nur halbherzig gegen die Terroristen vor. So helfen sich die Betroffenen selbst. Vor einer Woche erst erzwangen die Bewohner mehrerer Dörfer die Freilassung eines ehemaligen Unternehmers. Sie waren den Kidnappern lautstark tage- und nächtelang buchstäblich zu Leibe gerückt. Dieser Erfolg hat die Kabylen noch enger zusammengeschweißt und in ihrer Eigenständigkeit bestärkt. Für deren volle Anerkennung muss der Staat viel mehr in die Pflicht genommen werden, fordert der Chef des obersten Berberrates Youcef Merahi.

    "Anstatt dass die staatlichen Institutionen in der vollen Anerkennung des Berbertums eine Kernaufgabe sehen, wird das Problem weiter an den Rand gedrängt. Es wird eher herumexperimentiert. Das gilt sowohl für die Schulen als auch für die Massenmedien. Bis heute ist Tamazigh ein Waisenkind. Wenn wir verhindern wollen, dass das Erreichte wieder rückgängig gemacht wird, dass das Problem nur für zweifelhafte politische Interessen ausgenutzt wird, muss der Staat endlich seiner Aufgabe gerecht werden. Punkt. Es gibt keine andere Lösung."