Doch zunächst zu den Statisten. Sie kreuzen als windige, halbseidene Gestalten auf, als geile Böcke, Schmarotzer, Schurken, Schmierlappen oder anderswie verdächtige Kandidaten - die Nähe zur Karikatur gehört zu Walsers beißendem Humor. Ein gewisser Ferdi stellt sich so vor: "Verdi nur mir F wie Ficken." Allen voran steht der Ehemann des Romans - Edmund Gern, Jurist, an die sechzig Jahre alt, Immobilienhändler und Börsenspekulant. Er ist Opfer eines Zeitalters, das von steilen Sexualphantasien penetriert wird. Walsers Roman ist nicht nur ein Abgesang auf die Börseneuphorie in den neunziger Jahren im 20. Jahrhundert, "Der Lebenslauf der Liebe" ist auch ein Abgesang auf die Beate-Uhse-Epoche.
Die Gerns also. Sie wohnen in Düsseldorf. Der Roman spielt, abgesehen von diesem oder jenem Rückblick auf eine buchstäblich wechselvolle Ehegeschichte, in den Jahren 1987 bis 1999. Gegliedert sind die 525 Seiten in drei große Kapitel, drei Zeitabschnitte, drei Stufen des Verfalls. In keiner anderen deutsche Stadt liegen Schickimickitum und kleinbürgerliche Tristesse, Mode und Armut so nahe beieinander wie in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt. Walser Bilder sprechen für sich: "In Essen gingen immer mehrere unter einem Schirm. In Düsseldorf hat jeder einen Schirm für sich."
Der Verdacht, er tue sich schwer, wenn er eine Romanhandlung außerhalb seiner Bodensee-Region ansiedle, bestätigt sich nicht. Walser hat geografisch exakt, bis hinein in die ihm fremde Mundart hinein recherchiert. Man versinkt regelrecht in Düsseldorf; wer die Stadt nicht kennt, will nach der Lektüre kaum da hin, wer in Düsseldorf wohnt, wird die Stadt nach dem Lesen in einem traurigeren Licht sehen als vor dem Buch. Doch Leute wie die Gerns gibt es auch in Hamburg, München oder Zürich. Regionalist ist Martin Walser nur, wenn seine Geschichten am Bodensee spielen.
Die Gerns gehören zu den Neureichen, wohnen selbstverständlich in Grafenberg; die Wohnung misst 390 qm, bewirtschaftet von mehreren Zugehfrauen. Edmund: er fährt einen Bentley, trägt Wilkinson-Hemden, Testoni-Schuhe aus Straußenleder, sitzt auf Bürostühlen, von Mies van der Rohe entworfen. Edmund lässt sich von Andy Warhol persönlich für 30 000 Mark porträtieren, seine Bibliothek ist repräsentativ, zu den Büchern rollt er auf einer auf "riesigen" Messingrollen fahrbaren Mahagonileiter, nicht um ein Buch zum Lesen herunter zu holen, sondern um eines seiner bibliophilen Schmuckstücke (den west-östlichen Divan zum Beispiel) zu streicheln. Der Roman ist voll von derartigen satirischen Einfällen.
allem aber steht Edmund, unser "Sexualtrapper", auf Partnertausch und allerlei anderen Körperverrenkungen. Zeitweilig treibt er es am liebsten vor dem Spiegel, Sex ohne Bühnenbild, wie langweilig. Wenn Edmund loslegt, spricht die Stimme aus einem Beate-Uhse-Produkt aus ihm: "Zusammen mit anderen, Gleichgesinnten, das ist die wahre Vervielfältigung der Lust, praktisch ein Versuch, ins Paradies zurückzukehren, weil der Geschlechtsverkehr unter mehreren sich wieder der Qualität Unschuld nähere." Wenn´s mit der Philosophie nicht mehr klappt, wird ein Porno ins Videogerät geschoben. Mit seinen Gespielinnen Frau Prellmann, Frau Pudlich und Frau Proll geht er - nacheinander, in einem regelmäßigen Turnus - auf Bumsreisen; er tut dies keineswegs heimlich. Sein Ehegesetz lautet: Wir sagen uns alles, jeder darf tun, was er will, auch du, Susi, such du dir auch deine Fickpartner. - Horch, horch, die Liebesphilosophie der Achtundsechziger-Generation blitzt herüber. Doch was die damals als Lebenslauf der Liebe propagierten, entlarvt Walser als Lebenslüge, als Horrortrip.
Und was tut Susi? Susi, auch schon weit über fünfzig, die ewige "Doofesuse", die von sich selbst sagt, dass sie nicht liest, naiv und leichtgläubig sei, ohne Intelligenz, ohne Allgemeinbildung, Susi, die mit Marilyn Monroe im silbernen Bilderrähmchen stille Gespräche führt, laut aufdreht, wenn sie wieder Frank Sinatra "My way" singen lässt, Susi Gern, die in die Eifel auf die Schönheitsfarm fährt, nirgends so gerne wartet wie im Nagelstudio, die Katzen den Quarkfinger lecken lässt, Susi, ihrerseits "Kätzken" genannt, die mit der geistig behinderten Tochter, dem "Mäusken", am liebsten das "Glücksrad" guckt und gutmütig zusieht, wie der Sohn immer nichtsnutziger wird?
Sie konnte nicht weiterleben als Beleidigte, Missachtete, Übersehene. Sie musste zurückschlagen, dann lebte sie wieder. Nichts wusste sie so sicher, wie dass sie Respekt verdiente." Da ist es wieder, das Motiv, das wir von vielen Büchern Martin Walsers kennen. Während es einem Fink um Ehre ging, geht es Susi Gern um Würde - das weibliche Gegenstück zu jenem eher männlichen Wert. Aber wie Martin Walser seine Susi sich wehren und zurückschlagen lässt, ist unerhört und am Ende dann doch ganz natürlich. Ein typischer Susi-Satz: "Man passt eigentlich nicht zu einander. Man macht sich passend.
Susi holt sich ihrerseits tatsächlich einen Mann nach dem anderen ins eigens zu diesem Zweck angeschafften Penthaus (darunter auffallend viele Nordafrikaner), aber niemals, um ihrem Ehemann eins auszuwischen; sie nimmt sich lediglich das Recht, ihre Liebesfähigkeit unter Beweis zu stellen, nicht anderen, nur sich selbst. Sie kämpft nicht um ihr Glück, sie kämpft um ihr Recht, Glück, wenn schon nicht finden, so doch suchen zu können. Indem sie so ihre Liebesfähigkeit erlebt, bleibt sie sich treu. Diese Treue verhindert, dass sie ihrem Mann gegenüber ein Gefühl von Untreue bekommt. Es geht Susi beileibe nicht um die körperlichen Dimensionen, auch wenn sie die Kerle reihenweise an sich heran lässt. Am Ende gibt sie gar Kontaktanzeigen auf, einer nach dem anderen kreuzt auf, mit Arnold Stadler, dem mit Martin Walser befreundeten Schriftsteller zu sprechen: diverse "hinreißende Schrotthändler" stehen vor der Tür, kommen rein, holen sich, was sie wollen, und dampfen wieder ab.
Ob dies auch Khalil, der über dreißig Jahre jüngere Marokkaner, tun wird? Liebt er Susi wirklich, oder sieht er es, wie früher andere ihrer Nordafrikaner, am Ende nur auf eine Dauer-Aufenthaltsgenehmigung ab? Walser lässt das offen. Er ist Realist genug, die Afrikaner des Romans nicht nur als Erlöserfiguren in Szene zu setzen, sondern auch als etwas unheimliche Gesellen. Khalil ist es, den Susi Gern, im dritten Kapitel über sechzig, als Ehemann ins Haus holt, nachdem Edmund, zuletzt nur noch in Windeln einigermaßen tropffest, an Parkinson erkrankt und mit dem Andy-Warhol-Porträt im Bett krepiert ist. Das Alter: ein einziges Sabbern, Schlürfen und Kleckern. Edmund hatte sich vor seinem Tod noch an der Börse verspekuliert; ein Bankrott in jeder Beziehung. Susi lebt von der Sozialhilfe, bestellt beim Otto-Versand ihre Unterwäsche, die letzten Wertgegenstände von früher landen auf dem Trödel, doch auf ihre teure Augenfältchencreme kann sie nicht verzichten, die wird geklaut.
Doch gerade in der zurückgewonnen Armut, auf einem Wohnraum von nur noch 66 Quadratmetern, erlangt Frau Gern ihre Würde. Von Bulimie keine Rede mehr. Walser findet für seine Susi eines seiner für ihn typischen Worte, die auf den ersten Blick paradox anmuten, auf den zweiten allerdings ganz rein: "Unglücksglück". Ein anderes lautet: "Verzweiflungsjubel".
Eine haarsträubende Geschichte eigentlich. Aber wie Martin Walser sie erzählt, diese Geschichte der Verteidigung der Liebe gegen das Leben, ist einzigartig. Wie er im Erzählprozess seiner Susi immer weiter zu Leibe rückt, in sie hineinkriecht, so dass die Geschichte nur noch ganz allein aus Susi heraus sprudelt, ohne dass man also noch die ordnende Hand des Erzählers spürt, ist phänomenal. Ein risikoreiches Erzählen, zweifellos. Denn wer so tief in ein anderes Leben hineintaucht wie Martin Walser, geht zwangsläufig die Gefahr eines Erzählrausches ein, der findet kein Ende. Der Triumph der Susi über ihren literarischen Erschaffer besteht in der vorgeführten Emanzipation von dessen Erzählordnung. Wenn ein Roman in seiner Detailfülle so aus den Fugen gerät wie Der Lebenslauf der Liebe , so ist das eine vom Autor bewusst herbeigeführte erzähltechnische Entsprechung zum Emanzipationsprozess der literarischen Figur, die zu guter Letzt nicht mehr nur reagiert, sondern agiert. Im Gegensatz zu den meisten Männerfiguren bei Martin Walser, die ihren Kampf um Selbstbehauptung verlieren, ist Susi Gern eine Gewinnerin. Auch wenn sie vieles verloren hat und noch verlieren wird.
Susi Gern, wer immer sich hinter der fiktiven Figur verbergen mag, hat dem Schriftsteller Martin Walser zu einem berückenden Roman verholfen. Walsers Menschengenauigkeit ist enorm. Man wird viel über Susi Gern sprechen. Über den Autor tut man das sowieso.