Freitag, 19. April 2024

Archiv


Der Leipziger Lehmstedt Verlag

Der Verleger Mark Lehmstedt gehört zu den glücklichen Menschen, die ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht haben. Dabei endet seine erste verlegerische Unternehmung mit einem Desaster: Die von dem 17jährigen Berliner Oberschüler herausgegebene und größtenteils getextete Schülerzeitschrift erregt 1979 wegen einiger allzu kritischer Halbsätze den Unwillen von Lehrerschaft und Partei.

Von Niels Kahlefendt | 29.04.2005
    Lehmstedt fliegt vier Wochen vor dem Abitur von der Schule und hat sich, wie es im Arbeiter-und-Bauern-Staat so schön hieß, ein Jahr "in der Praxis zu bewähren" - im Braunkohlenkombinat. Lehmstedt lässt sich durch seinen ganz privaten "Bitterfelder Weg" nicht den Schneid abkaufen; auch als er in den Achtzigern in Leipzig Germanistik studiert, schwimmt er nicht mit der Masse. Während seine Kommilitonen Lautverschiebungen büffeln, liest er - stockend zuerst, dann immer flüssiger - die Briefe Goethes an den Verleger Philipp Erasmus Reich im Original. Lehmstedt taucht in Bibliotheken und Archive ab und entdeckt für sich die Buchhandels- und Verlagsgeschichte als hoch spannendes Thema.

    "Und inzwischen ist die Sammlung, die ich immer so weitertreibe so nebenbei, bei 2500 Briefen von und an Reich angelangt. Das ist schon etwas Spannendes, wenn man ein verloren gegangenes Verlagsarchiv wieder rekonstruieren kann - in dem man aus Archiven aus aller Welt das Zeug wieder zusammensammelt. Hat ungeheuer Spaß gemacht! Ist natürlich was Detektivisches - das tue ich im Grunde jetzt wieder. Als Verleger! Indem ich wie so ein Trüffelschwein da durch die Gegend renne und mich über jeden Fund freue - und am liebsten alle Bücher selber machen würde. "

    Den Verleger Mark Lehmstedt würde es ohne die Wende von 1989 wohl nicht geben. Eine Festanstellung in der im Umbruch befindlichen Hochschullandschaft der Ex-DDR ist für den frisch promovierten Buchhistoriker nicht in Sicht. Lehmstedt schlägt sich in verschiedenen Foschungsprojekten durch, ist Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg. 1999 steigt er als Lektor der "Digitalen Bibliothek" bei Directmedia ein. Die Arbeit in dem kleinen Berliner Unternehmen, dessen Silberlinge von Feuilleton bald mit Lob überhäuft werden, ist für den jungen Wissenschaftler die Chance, etwas völlig Neues zu wagen. Und, wichtiger noch: Sie bietet Freiräume, Möglichkeiten, sich auszuprobieren – von der Produktentwicklung bis hin zu Messe-auftritten und Pressearbeit. Als Directmedia 2002 Lektoratsstellen abbaut, fällt Lehmstedt zunächst in ein schwarzes Loch. Ein neuer Verlagsjob? Zurück in die Wissenschaft? Doch was, bitte schön, ist die Habilitation über einen Verleger gegen die Gründung des eigenen Verlags? Eine Marktlücke wäre zu schließen: Mit einem Verlag, der die Kulturgeschichte Leipzigs in handwerklich gut gemachten Büchern systematisch aufbereitet – und dabei den Blick über den Tellerrand nicht vergisst.

    "Als ich das den Ersten erzählt habe, haben alle gesagt: Wo soll denn da die Lücke sein? Das gibt`s doch alles schon! Das war die erste Frage. Und die zweite Frage war: Wie soll denn das nach den ersten Wochen, Monaten, vielleicht ein, zwei Jahren, weitergehen? Hast Du denn so einen langen Atem? Und zwar zunächst mal inhaltlich. Und da habe ich kühn und frech behauptet: Habe ich! Und bis jetzt trägt mich die Begeisterung des Anfangs - die natürlich immer da ist - doch weiter. Ich komme gerade aus der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden, hab‘ da wunderbare Dinge entdeckt, die ich am liebsten so schnell wie möglich zu Büchern machen würde. Das geht leider nicht so schnell, wie man möchte! Man hat die Bücher im Kopf schon fast fertig - und dann kommt ja aber noch (lacht) die mühselige Arbeit, das Arbeiten daran. Aber es überhaupt kein Ende abzusehen! "

    Das klare Programm-Profil und eine gediegene Ausstattung der Bücher geben dem Verlag ein Gesicht. Entscheidend für den Erfolg ist jedoch Lehmstedts ausgeprägtes Gespür für Themen, die - scheinbar - auf der Straße liegen.

    "Ich glaube, dass man als Verleger mit einer ungeheuren Neugier ausgestattet sein muss. Man muss neugierig sein auf Dinge, an die man noch gestern gar nicht gedacht hat! Es hatte, als der Verlag vor zwei Jahren gegründet wurde, seit mehr als 50 Jahren kein Buch über das sicherlich prominenteste Gebäude dieser Stadt, am Marktplatz das Alte Rathaus, gegeben. Es hat noch nie ein Buch über das ‚Haus zum Arabischen Kaffeebaum‘ gegeben, was immerhin das älteste noch existierende Kaffeehaus Europas ist. Und das einzige deutsche Kaffeemuseum beherbergt. Es hatte noch nie ein Buch über die Moritzbastei, diesen letzten erhaltenen Teil der alten Stadtbefestigung, gegeben. Der nicht nur deswegen für die Stadt interessant ist, sondern weil‘s eines der lebendigsten kulturellen Zentren der letzten 40 Jahre ist: Als Studentenklub, als Ausstellungsort, als Konzertort, was auch immer. Und dann stößt man gelegentlich auf überraschende Dinge, von denen man als Verleger immer träumt: Beispielsweise - und das ist jetzt keine Übertreibung, sondern war in der Tat so - eine Kiste. Wenn man die aufmachte, und zwar so ziemlich als erster seit 60 Jahren, enthielt sie eine große Zahl von Briefen, Tagebüchern und Berichten, dazu Fotografien, die unmittelbar nach der Zerstörung Leipzigs 1943 geschrieben worden sind. Da lag sozusagen schon ein fertiges Buch! "

    Mit "Leipzig brennt" gelang Lehmstedt bereits ein halbes Jahr nach der Verlagsgründung im Herbst 2003 ein Bestseller; der im letzten Jahr nachgeschobene Band "Leipzig in Trümmern" lässt das Kriegsende im Spiegel zeitgenössischer Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Zeitzeugenberichte und Fotografien lebendig werden. Weit über die Region hinausgehendes Interesse haben die Memoiren des in Leipzig lehrenden Philologen Georg Wittkowski und die Briefe und Tagebücher Max Schwimmers gefunden. Und auch mit der Wiederentdeckung des jungen Erich Kästner, der - bevor er in Berlin ein berühmter Kinderbuchautor wurde - zu den Edelfedern der "Neuen Leipziger Zeitung" gehörte, bewies Lehmstedt ein sicheres Händchen. In der oft leicht angestaubten Regionalia-Ecke sieht er seine Bücher ganz und gar nicht.

    "Leipzig ist vielfältig genug, um nicht langweilig zu werden, aber klein genug, um noch sich einigermaßen zu Hause zu fühlen. Es hat so ne gesunde Mittelgröße. Es ist nicht piefig, es ist nicht spießig - obwohl‘s diese Elemente in jeder Stadt gibt. Aber es erschlägt einen nicht. Und außerdem ist natürlich eine Menge hier in Bewegung - immer noch. Jetzt wird‘s ein bisschen ruhiger - aber da macht es Spaß zuzukucken! Und jetzt, mit so einem ganz kleinen Verlag, auch ein bisschen mitzutun. Für mich macht es eine große Freude, wenn man nicht nur den Leipzigern selbst, sondern auch auswärtigen Lesern demonstrieren kann, mit den Büchern dieses Verlages, dass das hier eben nicht ‘ne Regionalgeschichte oder gar ‘ne Lokalgeschichte ist - sondern das Leipzig ein zentraler Ort der nationalen, und in bestimmten Fällen der internationalen Geschichte ist. Hier haben wir‘s nicht mit irgendeinem Posemuckel zu tun, wo ein Kleinstverlag sich sozusagen auf Dauer im warmen Wohlfühl-Milieu einrichtet! "

    Lehmstedt ist Einzelkämpfer, das kostet Kraft. Archivrecherchen und Klappentextschreiben, Druckereitermine und Verhandlung mit Autoren - schade eigentlich, dass der Tag nur 24 Stunden hat. In Leipzig und Umgebung liefert der Verleger sein Programm selbst aus, nicht selten per Straßenbahn - jetzt rächt sich der fehlende Führerschein. Noch genießt Lehmstedt die neuentdeckte Freiheit, endlich die Bücher zu machen, die er immer schon machen wollte. Die Befriedigung, dies auf eigene Rechnung und eigenes Risiko tun zu können, ist auch im dritten Jahr ungebrochen. Was ist das Prinzip Selbstausbeutung gegen den Zauber der Selbständigkeit? Verlegen heißt vorlegen - von den so genannten Geldinstituten haben mutige Gründer wie Lehmstedt nichts zu erwarten.

    "Die Banken haben meine Papiere entweder postwendend zurückgeschickt, oder aber - wenn ich denn zu einem Gespräch überhaupt gekommen bin - mit so ausgesprochen inkompetenten Fragen mich bombardiert, dass ich gedacht habe: Liebe Leute, dann lasst es doch sein, wenn ihr davon nichts versteht! Wenn mich ein Vertreter der Bank, der für die Kreditabteilung zuständig ist, allen Ernstes fragt, woher ich denn die Zeit nähme, die ganzen Bücher zu schreiben? Als Verleger. Und ein anderer fragt: Und wo stellen Sie die Druckmaschinen auf, und wovon bezahlen Sie die? Aber selbst wenn man von dieser fachlichen Inkompetenz mal absieht, ist das Klima, was Banken betrifft - ich glaube, das betrifft nicht nur kleinere Verlage oder Verlagsneugründungen, sondern viele andere Branchen - inzwischen geradezu eisig. "

    Der Anerkennungspreis der Kurt-Wolff-Stiftung ist, so gesehen, ein warmer Segen, die 5000 Euro sind bereits in neue Projekte verplant. Leipzig als geistige Lebensform - der Berliner Mark Lehmstedt ist angekommen in der "kleinsten Großstadt, der größten Kleinstadt". Das Signet seines Verlags, heißt es, komme so klassisch daher, als gäbe es ihn schon seit 50 Jahren. Kann sich ein Buchhistoriker ein schöneres Kompliment wünschen? Nun ist Lehmstedt wohl zum Erfolg verurteilt. Weiß er, was auf ihn zu kommt?

    "Man muss, glaube ich, ein hohes Maß an Begeisterungsfähigkeit, ein hohes Maß an Leidensfähigkeit mitbringen. Und man darf sich in der Tat von den Misserfolgen, die ja dann doch immer kommen - und wenn‘s auch bloß ganz kleine sind, wenn etwas nicht so geworden ist, wie man‘s gerne gewollt hätte - man darf sich nicht unterkriegen lassen. Ein bisschen ein Spieler muss man sein... "

    Der Lehmstedt Verlag im Netz