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Der Leser als Hauptfigur

Von 1967 bis 1991 war Wolfgang Iser in Konstanz Professor für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft. Die von ihm mit Kollegen gegründete "Konstanzer Schule" und die "Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik", der Iser ebenfalls angehörte, zeichneten verantwortlich für eine fundamentale Erneuerung der Literaturwissenschaft. Wolfgang Iser ist am Mittwoch im Alter von 80 Jahren gestorben.

Von Kersten Knipp | 26.01.2007
    Irgendwann mochte man ihnen nicht mehr trauen, den großen Erzählern des 19. Jahrhunderts, die man in der Literaturgeschichte die "allwissenden" nennt. Was für Namen, was für Gestalten: Zola, Balzac, Dickens, in Deutschland Raabe etwa, oder Fontane: Große Gesellschaftsromane hatten sie verfasst, den Geist und die Ordnung ihrer Zeit in monumentale Texte gefasst, Panoramen des großen Ganzen geschaffen, kaum minder komplex als die Wirklichkeit, die sie abbildeten. Und doch: Es blieben Lücken. Alles ließ sich nicht sagen. Die Wirklichkeit, jedenfalls als Ganze, war nicht mitteilbar, entzog sich der Sprache. Sie war schlicht zu umfassend, zu gewaltig. Konzentrierte sich der Autor auf den einen Aspekt, entging ihm der andere. Es war zum verzweifeln.

    Eine Zeitlang jedenfalls. Bis dann, in den 1960er Jahren, in Frankreich die Dekonstruktion und in Deutschland die Rezeptionsästhetik entstanden. Beiden Richtungen war eines gemeinsam: Die Lücken der großen literarischen Werke wurden nicht mehr als Schwächen gedeutet, sondern als Ausdruck künstlerischer Qualität. "Leerstelle" nannte man das Ungesagte in den Texten, und man entdeckte, dass literarische Werke von Leerstellen nur so strotzen. Und das erst legt ihr ästhetisches Potential offen. Denn wenn ein Roman alles sagt - was unterscheidet ihn dann von einem Sachbuch, einer Statistik, einem Katalog? Die Leerstellen aber erlauben Vieldeutigkeit, regen den Leser zur Deutung, zur Interpretation ein. Eigentlich, stellt man fest, machter er, der Leser, der Roman erst zum Kunstwerk. "Der implizite Leser" hieß jene 1972 veröffentlichte Studie des Anglisten Wolfgang Iser, in dem der Leser jene Würdigung erfuhr, deren er sich bis heute erfreut. Der Leser: Durch ihn erst bekommen die Worte Sinn, er bindet sie zusammen zu stets neuen Sinnkonstellationen, Bedeutungszusammenhängen, die sich von Lesart zu Lesart unterscheiden, miteinander konkurrieren, ohne dass eine den anderen zwingend überlegen wäre.

    Und genau das, argumentierte der 1926 geborene Iser, auch in einem Buch mit dem nüchternen Titel, "Der Akt des Lesens", macht den Wert literarischer Texte aus: Dass sie auf ihre eigene Vielschichtigkeit, ihre offenen Sinnhorizonte verwiesen, kein geschlossenes Weltbild darstellten, sondern im Gegenteil auf die prinzipielle Unabschließbarkeit der Interpretation hinwiesen: "Der Sinn literarischer Texte ist nur vorstellbar, da er nicht explizit gegeben ist und folglich nur im Vorstellungsbewusstsein des Empfängers vergegenwärtigt werden kann."

    Als Wissenschaftler konnte Iser mit einem Pathos-geladenen Stil nicht viel anfangen. Seine Texte spiegelten in ihrer theoretisch gehaltenen Sprache den Anspruch auf Eindeutigkeit, dem zwar nicht literarische, wohl aber wissenschaftliche Texte genügen müssen. Und doch spürt man in jedem seiner Texte, dass es Iser um viel mehr ging als die Offenheit des Kunstwerks, des literarischen Textes. Die Offenheit war ihm Prinzip, ein ästhetisches zunächst, dann aber auch ein ideelles. Wie die Literatur, so wünschte er sich auch die Welt - und man kann hinzufügen: auch die Gesellschaft - als eine offene, mit zahllosen Sinnbezügen, über die sich streiten ließ.

    Im Rahmen der von ihm mitbegründeten Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik", die seit den späten 60er Jahren nicht nur der deutschen Literaturwissenschaft wesentliche Impulse verlieh, erforschte er mit Geisteswissenschaftlern ganz unterschiedlicher Fachrichtungen das Phänomen des offenen Kunstwerks in den großen Texten der Weltliteratur, nicht nur den kanonisierten, sondern auch und gerade den umstrittenen, den Werken der Moderne: Marcel Proust, James Joyce, Samuel Beckett - das waren die Namen, denen Iser und die Arbeitsgruppe "Poetik und Hermeneutik" sich vorzugsweise widmeten. Und immer wieder ging es um viel mehr als um Literaturforschung.

    Liest man Isers Texte genau, spürt man in ihnen eine Sehnsucht nach offenen Bezügen, die man durchaus als "transzendent" bezeichnen könnte, als Ideal, das er auch im eigenen Leben, jenseits der Beamten- und Professorenverpflichtungen verfolgte. Die großen Texte, schrieb er in seiner großen Studie " Das Fiktive und das Imaginäre", böten die Möglichkeit, Zitat, "sich auch einmal zu anderen Bedingungen haben zu können als zu denjenigen, in denen man im Leben befangen ist." Hier bricht er durch ins wahre Leben, der ästhetische Glanz von Kunst und Literatur. Wenn die Literaturwissenschaft bis heute keine wesentlichen neuen theoretischen Modelle entworfen hat, so darum, weil Wolfgang Iser ganz erheblich dazu beitrug, das zu entdecken, was Literatur ihrem Wesen nach wohl am ehesten ist: die Verheißung intellektueller Freiheit.