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Der letzte bekannte Wohnsitz des Mickey Acuña

Die Mauer steht. Drei Meter hoch, mit Eisenspitzen und Stacheldrahtkränzen bewehrt, aus wuchtigen, grauen Stahlplatten, in denen sich tagsüber Millionen Sonnen spiegeln. Nachts, wenn sich das in der Tageshitze gedehnte Metall abkühlt und wieder zusammenzieht, ist ein unablässiges Knarren und Knacken in der Wüste zu hören.

Denis Scheck |
    Manchmal erfassen die Lichtkegel der Flutlichtbatterien im Niemandsland zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko einen verirrten Kojoten oder einen Steppenläufer; selten illegale Einwanderer. Wer ohne Visum in die USA will, ist meist gewitzter und meidet die Sektoren mit den ausgebauten Grenzbefestigungen. Denn noch ist der "Tortilla-Vorhang", wie Einheimische den neuen Limes zwischen Mittel- und Nordamerika nennen, nicht geschlossen. Erst wenige Teilstücke der rund 3400 Kilometer langen Grenze sind mit Mauern, Maschendrahtzäunen und Wachtürmen gesichert, ganz wird sie sich niemals abriegeln lassen.

    Auch El Paso, der texanische Grenzort am Rio Grande, hat aufgerüstet. Vom Flachdach seines kleinen Hauses in den Franklin Mountains oberhalb der Stadt blickt Dagoberto Gilb, 45, auf das andere Ufer des Rio Grande. Dort liegt Ciudad Juárez, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von einer Million knapp doppelt so groß wie die amerikanische Schwesterstadt. Längst ist der Grenzfluß, der auf mexikanischer Seite Rio Bravo heißt, nicht mehr das einzige Hindernis zwischen El Paso und Juárez: immer mehr Gräben, Barrikaden und Betonwälle fressen sich in die Wüste, die Zahl der Agenten der U.S. Border Patrol wurde in den letzten Jahren mehr als verdoppelt, ihre Ausrüstung um High-Tech-Instrumente wie Nachtsichtgeräte und Bewegungsmelder ergänzt.

    Letztlich alles umsonst. Zwar gingen die Verhaftungen von illegalen Einwanderern zunächst drastisch zurück, doch allein im ersten Quartal 1995 ergriff die Border Patrol knapp 360.000 Flüchtlinge an der mexikanischen Grenze, ein Drittel mehr als im Vorjahr. Die Aussagekraft dieser Statistik ist umstritten, denn niemand weiß genau, in welcher Relation die Quote der Festgenommenen zur Zahl derer steht, denen es auf eigene Faust oder mit Hilfe brutaler Schlepperorganisationen glückt, von Mexiko ohne gültige Papiere in die USA einzureisen. Offiziell schätzt die Grenzpolizei das Verhältnis auf eins zu eins, Pessimisten in den eigenen Reihen gehen von eins zu zehn aus.

    Fest steht, daß es immer mehr werden. Je größer die wirtschaftliche Misere in Mexiko, je schwächer der Peso und je korrupter die Oligarchie, die das Land seit Generationen beherrscht, desto mehr Ausgebeutete, Arme und Arbeitslose sind bereit, ihr Glück im Norden zu suchen.

    Was sie dort erwartet, wie die Lebenswirklichkeit der illegalen Einwanderer und der Chicanos genannten Amerikaner mexikanischer Abstammung aussieht, ist das große Thema Dagoberto Gilbs. Der Schriftsteller mit dem ungewöhnlichen Namen, den er einem deutschen Großvater in seiner sonst aus Mexikanern und Chicanos bestehenden Ahnenreihe verdankt, wohnt seit über fünfzehn Jahren in El Paso. Hier hat er sich niedergelassen, als seine "wild years" vorbei waren, wie Gilb im Rückblick jene Zeit nennt, als er nach dem College als Wanderarbeiter von Baustelle zu Baustelle zog und jene "Welt voller Sprachloser" kennenlernte, von der er heute schreibt.

    Auf das Dach seines Hauses klettert Gilb, wenn er in Ruhe einen Joint rauchen will, ohne von seinen beiden halbwüchsigen Söhne ertappt zu werden. Früher betrachtete er dabei den meist wolkenlosen Sternenhimmel über der Wüstenstadt, heute bleibt sein Blick an den immer ausgefeilteren Grenzsperren im Tal hängen.

    Für Gilb ist es eine erschreckende Metapher des inneren Zustands der USA: "Eine Milliarde Dollar kostet diese Mauer. Man könnte das Geld genauso gut in den Rio Grande werfen - es wird auf lange Sicht gar nichts bewirken. Was ich da vor meiner Haustür entstehen sehe, ist nur die reale Manifestation der Mauern in den Köpfen vieler Amerikaner. Statt unsere sozialen Probleme zu lösen, igeln wir uns ein und verschanzen uns hinter Mauern. Heute reicht vielleicht eine drei Meter hohe Mauer, um die Flut der Einwanderungswilligen einzudämmen. Aber wie hoch muß die Mauer in einigen Jahren sein? Fünf Meter? Zehn? Hundert? Und was machen wir in den Ghettos unserer Großstädte? Bauen wir auch eine Mauer um Harlem in New York oder um Watts in Los Angeles?"

    In einem Viertel von Los Angeles, das unmittelbar an das Schwarzen-Ghetto Watts grenzte, ist Dagoberto Gilb geboren und aufgewachsen. Seine Mutter arbeitete in einer industriellen Großreinigung, wo sein Vater Geschäftsführer war. Aus der Zeit der großen Rassenunruhen 1965 in Los Angeles hat Dagoberto Gilb vor allem eine Lektion gelernt: daß Rassismus kein Monopol des weißen Establishment ist. "Wo ich herkomme, gehört Rassismus zum Alltag. Aber nicht nur der Rassismus der Weißen gegen die Schwarzen und Chicanos, sondern vor allem der Rassismus innerhalb der verschiedenen Minderheiten. Wer etwa glaubt, Chicanos kämen besser mit Schwarzen aus als die Weißen, irrt sich gewaltig - wahrscheinlich sind die Chicanos ihrem Denken und Verhalten nach sogar noch rassistischer. Darin liegt die bittere Ironie der Feindschaft, die den illegalen Einwanderern aus Mexiko entgegenschlägt. Die kommt weniger von den weißen Anglos als von den Schwarzen und Chicanos, denen sie die schlecht bezahlten Jobs wegnehmen."

    Von solchen Paradoxien im schwer überschaubaren Gemengsel der amerikanischen Rassenbeziehungen handeln Dagoberto Gilbs Erzählungen ("The Magic of Blood"). Für sie hat er im letzten Jahr den Hemingway-Preis des amerikanischen PEN-Clubs erhalten. Lange Zeit tat sich das literarische Establishment schwer mit diesen Texten, die Gilb seit den 70er Jahren in kleinen Zeitschriften veröffentlichte: zu fremd, zu anstößig, vor allem zu wenig literaturfähig erschienen diese Geschichten um Tramps und Tagelöhner im amerikanischen Südwesten. Seine Helden sind legitime Nachfahren der Cowboys, ihr Denken vollzieht sich meist in binären Kategorien: "Good guys, bad guys, guns, horses, right, wrong. The West."

    Auch Gilbs erster Roman "Der letzte bekannte Wohnsitz des Mickey Acuña" ist die Geschichte eines solchen Gelegenheitsarbeiters. Der Titelheld verbringt einige Monate in El Paso in einem YMCA, jener umgangssprachlich kurz "Y" genannten Mischung aus Billigabsteige und christlichem Hospiz, die für viele Amerikaner oft die letzte Station auf dem Weg nach ganz unten ist.

    Im Y treffen sich Gescheiterte und Gebrochene, Menschen, die gerade eine Pechsträhne durchmachen und solche, deren ganzes Leben eine Pechsträhne ist. Zu welcher Gruppe Mickey Acuña gehört, ob er sich noch einmal zu einem neuen Start aufrappeln kann oder endgültig auf der Straße landet, um sich in das Heer der Namenlosen einzureihen, die einfach verschwinden, bleibt offen bis zum Ende. Gilb versteht es, die präzise Beschreibung der drögen Alltagsrituale des Y - Bettenmachen, die Suche nach Aushilfsjobs, Fernsehen im Gemeinschaftsraum - mit Spannung aufzuladen, eine existentielle Bühne für seine Figuren zu schaffen, die in ihrem trostlosen Unglück an Gorkis "Nachtasyl" erinnern. Wie das Drama des großen Russen kommt sein Roman nahezu ohne äußere Handlung aus, dennoch vermag Gilb einen erzählerischen Sog zu erzeugen, der den Leser immer tiefer in die Welt der Enttäuschten und Entgleisten hineinzieht.

    Wichtigstes Ereignis im fast zeitlosen Einerlei dieses Nicht-Orts: das tägliche Verteilen der Post. Auf die spärlichen Nachrichten aus der Außenwelt konzentrieren sich sämtliche Wünsche, Hoffnungen und Erlösungsphantasien der Männer im Y. Auch Mickey Acuña wartet auf Post, einen rettenden Scheck, ohne daß je klar würde, von wem oder wofür das Geld kommen wird: "Es würde kommen, weil es kommen mußte und kommen sollte. Er wußte es. Er glaubte es. Er mußte es glauben, denn was sollte er sonst tun?"

    Amerikanische Kritiker hat dieses Warten auf Post - sehr zum Amüsement des Autors - zu gewagten Vergleichen mit Kafkas Parabeln und Samuel Becketts "Warten auf Godot" verführt. Tatsächlich sind Gilbs Figuren in ihren Lebensumständen so reduziert, daß man in ihnen Verwandte von Wladimir und Estragon erkennen kann. Doch das spricht weniger für Gilbs Hang zum Absurden als für Becketts Realitätsnähe. Dagoberto Gilb hat in seinem Roman keine kafkaeske Hölle und kein Mysterienspiel inszeniert. Ihm geht es um die Beschreibung eines Ausschnitts der amerikanischen Wirklichkeit, die seit den Tagen eines John Steinbeck literarisch immer mehr in Vergessenheit geraten ist: die der amerikanischen Unterschicht. "Ich selbst habe eine Zeitlang im Y von El Paso gelebt, als es mir mal ziemlich dreckig ging", erzählt Gilb."Die Leute, die man dort trifft, haben eine recht verschwommene Vorstellung von der Wahrheit - sie lügen schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Jeder macht sich gefährlicher, als er wirklich ist, damit niemand auf die Idee kommt, ihn zu überfallen. Und in einem Y ist eine der Hauptaktivitäten nun mal das Warten auf Post. Wer darin ein existentialistisches Gleichnis sieht, beweist nur, daß er vom Leben der Armen in Amerika keinen blassen Schimmer hat."