Archiv


Der letzte Sterbliche

Im Jahr 2092 sind alle Menschen praktisch unsterblich - bis auf einen. Dessen bevorstehender Tod entwickelt sich zum Medienereignis. Ein Reporter dringt zu dem abgeschotteten "Mr. Nobody" durch - und stellt ihm die Frage, die ihn am meisten beschäftigt.

Von Josef Schnelle |
    Wie viele Leben braucht der Mensch, um das richtige zu finden? Das Erste wird mit dem Herzen gelebt, das Zweite unter dem Diktat der Vernunft. Die sieben weiteren Leben, die man mindestens benötigen würde, um die wichtigsten Fragen zu klären, hat man auch nicht zur Verfügung. Der Buchhalter wäre lieber Künstler, der Künstler sehnt sich nach einem ordentlichen Leben. Und wie wäre das Leben geworden mit der anderen Frau, deren lockendes Lächeln einst von einem Leben als Abenteuer kündete? Doch damals hat man in Sekundenbruchteilen eine andere Entscheidung getroffen - für ein Leben der hochehrenwerten Pflichterfüllung zum Beispiel.

    All das sind nur hypothetische Fragen. Bekanntermaßen hat jeder ja nur ein Leben. Er kann sich nur vorstellen, wie es unter anderen Umständen gewesen sein könnte. Diese Fragen sind der Ausgangspunkt von Jaco van Dormaels Science-Fiction-Film "Mr. Nobody", in dem in einer fernen Zukunft ein alter Mann sich an sein Leben zu erinnern versucht. Dabei gerät er immer wieder auf den Verschiebebahnhof der Wünsche, trifft Entscheidungen, revidiert sie, spielt immer neue Varianten durch. Der alte Mann ist der letzte Mensch. Irgendwie, denn die anderen sind fast unsterblich geworden, weswegen der letzte Tod eines Menschen größter medialer Aufmerksamkeit sicher sein kann - in der futuristischen Welt des Jahres 2092.

    Willkommen in der wunderbaren Welt des ehemaligen Zirkusclowns Jaco van Dormael, der nach zwölf Jahren Schaffenspause in seinem nur dritten Film wieder auf die Motive seines Debüts "Toto - der Held" aus dem Jahr 1990 zurückkommt. Damals war seine Hauptfigur getrieben von der Obsession, bei der Geburt vertauscht und damit seines vorherbestimmten Lebens beraubt worden zu sein. Auch in seinem Erstlingsfilm, der in Cannes mit der Camera D´Or ausgezeichnet worden war, vermischte van Dormael die Zeitebenen und hob in einer wilden Montage von Szenenfetzen den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit auf. Ähnliche Stilprinzipien bestimmen auch "Mr. Nobody", der im Unterschied zu dem kleinen Debütfilm als teuerster belgischer Film aller Zeiten fast 40 Millionen Euro gekostet hat und eine ganze klinisch-kalte Zukunftswelt dazuerzählt. Ein Reporter dringt an allen Vorkehrungen der Hochsicherheitsklinik vorbei doch noch zu dem alten Mann vor und kann ihm die Frage stellen, die ihn am meisten beschäftigt.

    Jaco van Dormael verlangt viel von seinen Zuschauern, sein Film gleicht eher einer Spielanordnung als einer durcherzählten Geschichte. Es gibt ständig absichtlich eingebaute Widersprüche, unbeantwortete Fragen, klaffende Lücken in der Erzählung und gewollte Stilbrüche. Diese allgegenwärtige Verfremdung soll den Zuschauer von allzu großer emotionaler Identifikation mit den Figuren abhalten. Das ist oft schwer erträglich, geht man doch gerade deswegen ins Kino, um dem Mangel an weiteren Leben auszugleichen und stattdessen für ein paar schöne Kinostunden alternative Lebensentwürfe zu leben. Einen Ausweg aus dem kalten Labyrinth, durch das er uns mehr als zwei Stunden gehetzt hat, bietet van Dormael dann doch an. Die eine große wahre Liebe kann die Sehnsucht nach einer Vielzahl von Leben doch gewiss aufwiegen.