Gernhardt: Ich bin, glaube ich, von Haus aus Dichter. Bloß habe ich das nie sehr hoch geachtet, weil ich das konnte, das war keine Herausforderung. Das, was ich mit dem Wort machen wollte, war eigentlich nicht viel, ich wollte mich und andere unterhalten. Das Schreiben fiel mir nicht allzu schwer, und es fiel mir auch nicht allzu schwer, Tonfälle nachzuahmen, gewisse Fähigkeiten und Talente anzuwenden, wenn sie gebraucht wurden - das Reimen beispielsweise. Aber ich habe das alles eben nicht unter dem Kunstvorzeichen betrieben, sondern als etwas, das ich einsetzte - natürlich auch, um zu überleben. Denn diese Tätigkeit bei "Pardon" wurde zwar manchmal durch Bilder und durch Cartoons ergänzt, war aber weitgehend Schriftstellerei. Das ging vom Journalismus bis zum Nonsens, ein breites Spektrum, das ich da ausprobieren konnte. Aber es war immer für den Leser geschrieben. Ich hatte immer den Leser im Hinterkopf - nicht daß ich diese Leser bedienen wollte, aber ich wußte: das liest jemand, und der will unterhalten werden. Ob ihn das nun wirklich unterhält, das ist eine andere Frage. Wir haben in Frankfurt durchaus versucht, unsere eigenen neuen Wege zu gehen, den Weg der Scherze, der Witze und so weiter, aber es gab nie den Gedanken, jetzt das eigene kostbare Ich mal "ich" sagen zu lassen. Ich habe immer an das Du gedacht.
Verna: Dann war das also ein fließender Übergang?
Gernhardt: Ja, es lief da etwas parallel, und in dem Moment, als ich merkte, daß ich in der Malerei an einen Punkt gekommen war, der so etwas wie ein Endpunkt war ... Es hatte natürlich auch zu tun mit einem gewissen Aufwind, der meine Malerei eine Zeitlang sehr begünstigt hat, es gab ja mal so ein Zwischenhoch des Realismus, der es mir auch leichter machte, diese wirklich große Arbeit in diese Bilder zu investieren. Und als das dann nachließ - es war nicht unbedingt so deutlich aufeinander bezogen, Zeitgeist und Selbstverständnis, aber die haben ja doch miteinander zu tun - da traute ich mich zum ersten Mal, auf die Karte Schreiben zu setzen.
Verna: Das breitere Publikum kennt Sie heute vor allem als Lyriker, vielleicht auch noch als Cartoonisten. Ist denn dieses Buch, "Der letzte Zeichner",ein Versuch, Ihren Lesern den ehemaligen Maler oder auch den Kunstkenner Robert Gernhardt vorzustellen?
Gernhardt: Ein Versuch ist es sicherlich, aber er ist natürlich von langer Hand vorbereitet. In dieses Buche nehme ich auf, was ich im Zeitraum von zehn,fünfzehn Jahren zur bildenden Kunst geschrieben habe. Ein zentrales Kapitel bildet ein Text, den ich einmal für ein Buch geschrieben habe, das hier bei Haffmans erschienen ist - das war ein Kunstband mit meinen Bildern -, ein ziemlich langer Text, der genauer erzählte, wie das alles gekommen und geworden ist. Dieser Kunstband war teuer, solche Kunstbände werden auch nicht so wahrgenommen. Ich habe mir also gedacht, wenn ich meine Texte zur bildenden Kunst und zur Karikatur zusammenstelle, dann ist das auch ein wichtiger Text, der da nochmals erscheinen soll. Ohne die ganzen Bilder natürlich, sondern als Lesetext. Der ist am Schluss, und am Anfang kommt "Der letzte Zeichner". Das letzte ist ein sehr ehrlicher Bericht über Anfänge und Fortgänge des eigenen Malens, eingebettet in die Zeit. Das erste ist eine apokalyptische Phantasmagorie, die schon ernst genommen werden will, aber nicht todernst.
Verna: Ihre Texte sind ja immer etwas ironisch, humorvoll überspitzt und manchmal auch polemisch. In ihnen kommt eine ganz bestimmte Auffassung von Kunst zum Ausdruck. Wären Sie denn einverstanden, wenn ich sage: Sie vertreten darin einen konservativen Kunstbegriff?
Gernhardt: Ja, in diesem Fall möchte ich tatsächlich etwas konservieren, ich würde auch gerne etwas tradieren oder tradiert wissen, nämlich diese Reduktion auf die Fläche, auf die Farbe, auf diese tradierten Darstellungsmittel. Am liebsten natürlich verbunden mit auch noch überprüfbaren Inhalten. Das ist meiner Meinung nach bei den meisten ungegenständlichen Arbeiten so eine Sache, das Überprüfbare. Ich trauere wirklich sehr den Zeiten nach - das ist auch noch ein Motiv, das sich da durchzieht, also ein Motiv der Trauer - als die Künste noch überprüfbar waren. Überprüfbar im schlichtesten Sinne. Angenommen, ich male jetzt Ihr Porträt, und die Putzfrau kommt vorbei und sieht sich das Bild an, und dann fragt sie: "Wer ist denn das?" Ich antworte dann: "Das ist die Frau Verna". Und dann sagt sie: "Die sieht aber anders aus. Die Nase stimmt nicht, die haben Sie viel zu dick gemacht." Das meine ich mit Überprüfbarkeit. Ich meine auch, dass es eben Zeiten gab, in denen derjenige, der sich zur bildenden Kunst berufen fühlte, das auch in irgendeiner Weise belegen mußte, durch irgend ein Talent.
Verna: Da gibt es zwei Dinge, die ich dazu fragen möchte. Man sagt ja nicht: heute malen wir noch gegenständlich, morgen dann nicht mehr, sondern das ist die Folge einer Entwicklung. Wann würden Sie diesen Kulturbruch ansiedeln?
Gernhardt: Es gibt einen Übergang, auf den hat man sich geeinigt, der hat um die Jahrhunderwende stattgefunden. Meiner Meinung nach hat die Entwicklung, die zu dieser Kunst geführt hat, die wir heute haben, sehr viel früher angefangen, um 1750 etwa. Schon am Anfang standen zwei, wie ich finde, nicht verheerende, aber ganz gefährliche Tendenzen. Die eine vertritt der Werther. Das wissen die meisten Leute nicht, die den "Werther" lesen, weil es so en passant am Anfang kommt. Der Werther empfindet sich als Zeichner und als Maler. Er schreibt seinem Freund: Ich könnte jetzt keinen Strich malen, ich habe zuviel Gefühl, aber nie bin ich mehr Maler gewesen als jetzt. Er setzt auf das Gefühl. Das Gefühl ist schon Ausweis genug, Beleg genug dafür, daß er Maler ist. Diese Haltung hat also bis auf den heutigen Tag dazu geführt, daß leere Leinwände, auch leere Räume ausgestellt worden sind, die die Zuschauer dann mit ihren Phantasien, mit ihrem schöpferischen Potential füllen sollen. Das führt dann ins Nicht-Bild. Das ist die eine Schule. Die andere hat angefangen bei den Nazarenern, auch schon ein bißchen bei den Klassizisten. Da ging es darum,daß die Gesinnung eigentlich wichtiger ist als das Dargestellte. Das sind dann die Maler, die mit ihren Bildern die Welt verbessern wollten. Auch da gibt es ein Schlüsselbuch, das zwanzig, fünfundzwanzig Jahre nach dem "Werther" erschienen ist: die "Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders" von Wilhelm Heinrich Wackenroder. Für den sind Bilder Gebete. Wenn man die Bilder verstehen will, dann muß man also reinen Herzens sein. Nicht nur der Maler, sondern auch der Betrachter. Das ist eine schlimme Tendenz, die von Schopenhauer noch weitergeführt wurde, der dann die These aufgestellt hat: Bilder sind Herrschaften. Man muß ganz still sein, man muß sich in ihrer Gegenwart ruhig verhalten und darauf warten, dass man angeredet wird. Das ist natürlich ein Freibrief für jeden Maler, der nichts zu sagen hat. Wenn ich dann also vor dessen Bild stehe und sage: "Das sagt mir nichts", dann sagt er: "Ja, weil du nicht richtig zugehört hast." Also die ganze Beweispflicht, daß das ein Kunstwerk ist, wird vom Maler, vom Künstler auf den Zuschauer übertragen. Das zieht sich nun auch durch die Geschichte der modernen Kunst: Wer nicht für alles Neue offen ist, wird's nie erfahren, nie erhaschen, nie erjagen. Wer Kritik übt, hat eigentlich schon den bösen Blick, der ist schon zu, ist entweder nicht bereit, oder er ist einfach böse und verstockt. Deshalb wird er es auch nicht begreifen, was da an Wichtigem und Wertvollem ihm mitgeteilt werden soll. Diese Ideen, behaupte ich nun, haben Dilettanten und Literaten in die Welt gesetzt. Die Dilettanten, die immer schon auch mal Kunst machen wollten, aber es nicht schafften, weil sie einfach die Voraussetzungen nicht erfüllten, weil sie es nicht konnten, weil's ja tatsächlich mal eine Zeit gab, wo Kunst von Können kam, von nachprüfbarem Können. Und der Literat, behaupte ich mal, redet gern, schreibt gern, vermittelt gern. Das verschafft ihm ja auch wiederum ein mögliches Einkommen. Er wird im Zweifelsfall, wenn die Menschen vor den Bildern stehen und das Gefühl haben: "Die reden nicht, die reden nicht, ich fühle mich nicht angesprochen", als Vermittler andienen und sagen: "Ich könnte da was machen, ich habe gute Beziehungen zum Herrscher, ich könnte da schon mal ein gutes Wort einlegen, bzw. ich könnte Ihnen erklären, warum Sie noch nichts hören. Passen Sie mal auf ..." Diese Leute sind ja dann zum Teil auch mit in die bildende Kunst eingestiegen, als Austellungsmacher. Sie haben das Erklärungspotential fast zu einem Monopol ausgeweitet und können nun solche Ausstellungen machen wie die Biennale in Venedig. Das ist dann zum Beispiel der Harald Szeemann. Der wurde von einer italienischen Zeitung gefragt: Was ist da der rote Faden? Und er hat nichts von einem Stil, einer Technik, einer Bewegung oder einem Erkenntnistrieb der Künstler gesprochen, sondern er sagte: "Der rote Faden bin ich. Ich halte das alles zusammen." Das ist neu in der bildenden Kunst. Das ist jetzt schon eine Funktion wie der Regisseur oder wie der Dirigent, die in den anderen Künsten schon immer als vermittelnde Figuren wichtig waren. Das gab es in der bildenden Kunst bisher nicht. Auf einmal haben die also jetzt, sagen wir mal, seit der ersten documenta, da spricht man doch von der Bode-documenta, von der Szeemann-documenta, jetzt hat's die David-documenta gegeben, davor war's die Hoet-documenta. Man spricht nicht mehr von den Künstlern, die da waren, sondern von den Ausstellungsmachern. Das lehnt mein "Letzter Zeichner" alles ab. Er sagt: Die bildende Kunst, war eine Kunst, die immer über die Sinne gesprochen hat, nicht über den Verstand. Die brauchte eigentlich keine Vermittler, solange sie noch auf dem Boden ihrer eigenen Möglichkeiten stand. In dem Maße, in dem sie sich von diesen Symbolen entfernt hat, wird sie erklärungsbedürftig. Deshalb haben auch diese Kopflastigen ihre Chance.
Verna: Sie sagen, daß die Moderne unsinnlich geworden ist, weil das in den Hintergrund gedrängt worden ist?
Gernhardt: Jetzt sind wir auf einem anderen Dampfer. Für mich ist die Funktion von bildenden Künstlern inzwischen weitgehend die von Trüffelschweinen, die auf Reizsuche sind. Wenn sie irgendwo einen Reiz gefunden haben, scharen sich die Verwerter drumherum. MTV steht dann auf der Matte, die Ateliers, alle, die Logos entwickeln müssen, alle, die irgendwelche Reize brauche, die Layouter, die Art directors und so weiter, um sich dann auf diese Reize zu stürzen und sie den Künstlern zu entwenden. Je eindeutiger der Reiz ist, den sie auftun, desto eindeutiger wird er ausgeschlachtet. Die Reize der Surrealisten, die mittlerweile ihre Schockwirkung, ihre Schockqualitäten völlig entraten. Das waren ja mal Reize, das muss man sich mal vorstellen: Noch in meiner Jugend, als ich diese Bilder sah, dachte ich: Mein Gott! Und hatte irgendwie die Hoffnung, das wird nie eingeholt werden vom Bürger, das ist eine Sache für uns Künstler. Und wie die Bürger das eingeholt haben!
Verna: Trotzdem genießt heute die Kunst, in welcher Form sie auch immer auftritt,ob als umgestülpte Kartons oder als Körperausscheidung, den Status des Besonderen. Ihrer Meinung nach würden beispielsweise solche Kartons diesen Status zu unrecht geniessen?
Gernhardt: Nein, nein, die Brillo-Boxen von Warhol etwa waren etwas Besonderes. Das sind natürlich dann eher Gesten als hergestellte Werke: Ich nehme jetzt diese Brillo-Boxen und stelle sie ins Museum, dann ist es ein Kunstwerk. Man sollte einfach versuchen, einen anderen Bild-Begriff dafür zu entwickeln. Das ist ein Kulturbruch, ein Traditionsbruch, und der sollte auch zum Ausdruck kommen in einer neuen Benennung. Es gab die Ausstellung: "Von Vermeer bis Kabakov" in Frakfurt. Innenleben hieß die. Wunderbare Ausstellung, sie ging tatsächlich bis in die 60er Jahre unseres Jahrhunderts. Bis dahin waren das noch Bilder, die miteinander vergleichbar waren, man konnte sagen: die einen sind schlechter, die anderen besser. Aber sie arbeiteten auf demselben Terrain mit denselben Mitteln. Und nun kommt Kabakov mit einer Installation: Ein Türrahmen in einer Ecke, eine Klotür aus Russland, wie ich dem Katalog entnehme, dahinter Geräusche, also nicht eben Geräusche vom Scheißen und Abziehen, aber Gemurmel. Das arbeitet mit anderen Mitteln, auf einem anderen Terrain. Das ist so, wie wenn man einen Boxer gegen einen Ringer antreten lassen wollte. Deswegen gibt's doch das Ringen und das Boxen. Oder meinetwegen einen Boxer gegen einen Bogenschützen. Ich finde es so unsinnig, das in eine Reihe zu stellen. Ich erlebe durchgehend - und das ist nun keine Verschwörungstheorie - daß in der bildenden Kunst versucht wird anzuknüpfen, auch um zu adeln.
Verna: Aprospos Vermeer: was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sehen, wie zu Vermeer- und Velázquez-Ausstellung die Leute Busweise angeschleppt werden?
Gernhardt: Das kann ich Ihnen sagen, das steht auch in "Der letzte Zeichner", da gibt's einen Aufsatz: "Das habe ich bei Vermeer gelernt". Ich war in Den Haag und war einer von 3000 Leuten, die am selben Tag Vermeer sehen wollten. Das ist höllisch, das ist vollkommender Quatsch. Ich habe darauf natürlich satirisch reagiert. Ich stellte fest, daß im angrenzenden Museum, dem Mauritshuis, so gut wie niemand war. Ich behaupte, daß die Leute, die hingereist sind, vorher noch nicht im Mauritshuis waren. Die hätten alle da rübergehen sollen und sich die Pourbus und die Frans Hals anschauen. Da habe ich empfohlen: Die Leute sollten in ihrer Heimatstadt vorher einen Kunstliebhaberschein machen müssen. Sie müßten in ihr Museum gehen und sich quittieren lassen: ich habe schon mal den Vermeer in Frankfurt gesehen oder in München. Von ihrem Museum müßten sie sich einen Stempel geben lassen: die waren schon mal bei uns. Nur solche Leute würde ich in die Ausstellungen reinlassen. Denn wenn sie sich in Frankfurt nicht um ihren Vermeer kümmern, aber hunderte von Kilometern fahren, um dann einem echten Kunstliebhaber den Platz wegzunehmen - das geht nicht.
Verna: Dann war das also ein fließender Übergang?
Gernhardt: Ja, es lief da etwas parallel, und in dem Moment, als ich merkte, daß ich in der Malerei an einen Punkt gekommen war, der so etwas wie ein Endpunkt war ... Es hatte natürlich auch zu tun mit einem gewissen Aufwind, der meine Malerei eine Zeitlang sehr begünstigt hat, es gab ja mal so ein Zwischenhoch des Realismus, der es mir auch leichter machte, diese wirklich große Arbeit in diese Bilder zu investieren. Und als das dann nachließ - es war nicht unbedingt so deutlich aufeinander bezogen, Zeitgeist und Selbstverständnis, aber die haben ja doch miteinander zu tun - da traute ich mich zum ersten Mal, auf die Karte Schreiben zu setzen.
Verna: Das breitere Publikum kennt Sie heute vor allem als Lyriker, vielleicht auch noch als Cartoonisten. Ist denn dieses Buch, "Der letzte Zeichner",ein Versuch, Ihren Lesern den ehemaligen Maler oder auch den Kunstkenner Robert Gernhardt vorzustellen?
Gernhardt: Ein Versuch ist es sicherlich, aber er ist natürlich von langer Hand vorbereitet. In dieses Buche nehme ich auf, was ich im Zeitraum von zehn,fünfzehn Jahren zur bildenden Kunst geschrieben habe. Ein zentrales Kapitel bildet ein Text, den ich einmal für ein Buch geschrieben habe, das hier bei Haffmans erschienen ist - das war ein Kunstband mit meinen Bildern -, ein ziemlich langer Text, der genauer erzählte, wie das alles gekommen und geworden ist. Dieser Kunstband war teuer, solche Kunstbände werden auch nicht so wahrgenommen. Ich habe mir also gedacht, wenn ich meine Texte zur bildenden Kunst und zur Karikatur zusammenstelle, dann ist das auch ein wichtiger Text, der da nochmals erscheinen soll. Ohne die ganzen Bilder natürlich, sondern als Lesetext. Der ist am Schluss, und am Anfang kommt "Der letzte Zeichner". Das letzte ist ein sehr ehrlicher Bericht über Anfänge und Fortgänge des eigenen Malens, eingebettet in die Zeit. Das erste ist eine apokalyptische Phantasmagorie, die schon ernst genommen werden will, aber nicht todernst.
Verna: Ihre Texte sind ja immer etwas ironisch, humorvoll überspitzt und manchmal auch polemisch. In ihnen kommt eine ganz bestimmte Auffassung von Kunst zum Ausdruck. Wären Sie denn einverstanden, wenn ich sage: Sie vertreten darin einen konservativen Kunstbegriff?
Gernhardt: Ja, in diesem Fall möchte ich tatsächlich etwas konservieren, ich würde auch gerne etwas tradieren oder tradiert wissen, nämlich diese Reduktion auf die Fläche, auf die Farbe, auf diese tradierten Darstellungsmittel. Am liebsten natürlich verbunden mit auch noch überprüfbaren Inhalten. Das ist meiner Meinung nach bei den meisten ungegenständlichen Arbeiten so eine Sache, das Überprüfbare. Ich trauere wirklich sehr den Zeiten nach - das ist auch noch ein Motiv, das sich da durchzieht, also ein Motiv der Trauer - als die Künste noch überprüfbar waren. Überprüfbar im schlichtesten Sinne. Angenommen, ich male jetzt Ihr Porträt, und die Putzfrau kommt vorbei und sieht sich das Bild an, und dann fragt sie: "Wer ist denn das?" Ich antworte dann: "Das ist die Frau Verna". Und dann sagt sie: "Die sieht aber anders aus. Die Nase stimmt nicht, die haben Sie viel zu dick gemacht." Das meine ich mit Überprüfbarkeit. Ich meine auch, dass es eben Zeiten gab, in denen derjenige, der sich zur bildenden Kunst berufen fühlte, das auch in irgendeiner Weise belegen mußte, durch irgend ein Talent.
Verna: Da gibt es zwei Dinge, die ich dazu fragen möchte. Man sagt ja nicht: heute malen wir noch gegenständlich, morgen dann nicht mehr, sondern das ist die Folge einer Entwicklung. Wann würden Sie diesen Kulturbruch ansiedeln?
Gernhardt: Es gibt einen Übergang, auf den hat man sich geeinigt, der hat um die Jahrhunderwende stattgefunden. Meiner Meinung nach hat die Entwicklung, die zu dieser Kunst geführt hat, die wir heute haben, sehr viel früher angefangen, um 1750 etwa. Schon am Anfang standen zwei, wie ich finde, nicht verheerende, aber ganz gefährliche Tendenzen. Die eine vertritt der Werther. Das wissen die meisten Leute nicht, die den "Werther" lesen, weil es so en passant am Anfang kommt. Der Werther empfindet sich als Zeichner und als Maler. Er schreibt seinem Freund: Ich könnte jetzt keinen Strich malen, ich habe zuviel Gefühl, aber nie bin ich mehr Maler gewesen als jetzt. Er setzt auf das Gefühl. Das Gefühl ist schon Ausweis genug, Beleg genug dafür, daß er Maler ist. Diese Haltung hat also bis auf den heutigen Tag dazu geführt, daß leere Leinwände, auch leere Räume ausgestellt worden sind, die die Zuschauer dann mit ihren Phantasien, mit ihrem schöpferischen Potential füllen sollen. Das führt dann ins Nicht-Bild. Das ist die eine Schule. Die andere hat angefangen bei den Nazarenern, auch schon ein bißchen bei den Klassizisten. Da ging es darum,daß die Gesinnung eigentlich wichtiger ist als das Dargestellte. Das sind dann die Maler, die mit ihren Bildern die Welt verbessern wollten. Auch da gibt es ein Schlüsselbuch, das zwanzig, fünfundzwanzig Jahre nach dem "Werther" erschienen ist: die "Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders" von Wilhelm Heinrich Wackenroder. Für den sind Bilder Gebete. Wenn man die Bilder verstehen will, dann muß man also reinen Herzens sein. Nicht nur der Maler, sondern auch der Betrachter. Das ist eine schlimme Tendenz, die von Schopenhauer noch weitergeführt wurde, der dann die These aufgestellt hat: Bilder sind Herrschaften. Man muß ganz still sein, man muß sich in ihrer Gegenwart ruhig verhalten und darauf warten, dass man angeredet wird. Das ist natürlich ein Freibrief für jeden Maler, der nichts zu sagen hat. Wenn ich dann also vor dessen Bild stehe und sage: "Das sagt mir nichts", dann sagt er: "Ja, weil du nicht richtig zugehört hast." Also die ganze Beweispflicht, daß das ein Kunstwerk ist, wird vom Maler, vom Künstler auf den Zuschauer übertragen. Das zieht sich nun auch durch die Geschichte der modernen Kunst: Wer nicht für alles Neue offen ist, wird's nie erfahren, nie erhaschen, nie erjagen. Wer Kritik übt, hat eigentlich schon den bösen Blick, der ist schon zu, ist entweder nicht bereit, oder er ist einfach böse und verstockt. Deshalb wird er es auch nicht begreifen, was da an Wichtigem und Wertvollem ihm mitgeteilt werden soll. Diese Ideen, behaupte ich nun, haben Dilettanten und Literaten in die Welt gesetzt. Die Dilettanten, die immer schon auch mal Kunst machen wollten, aber es nicht schafften, weil sie einfach die Voraussetzungen nicht erfüllten, weil sie es nicht konnten, weil's ja tatsächlich mal eine Zeit gab, wo Kunst von Können kam, von nachprüfbarem Können. Und der Literat, behaupte ich mal, redet gern, schreibt gern, vermittelt gern. Das verschafft ihm ja auch wiederum ein mögliches Einkommen. Er wird im Zweifelsfall, wenn die Menschen vor den Bildern stehen und das Gefühl haben: "Die reden nicht, die reden nicht, ich fühle mich nicht angesprochen", als Vermittler andienen und sagen: "Ich könnte da was machen, ich habe gute Beziehungen zum Herrscher, ich könnte da schon mal ein gutes Wort einlegen, bzw. ich könnte Ihnen erklären, warum Sie noch nichts hören. Passen Sie mal auf ..." Diese Leute sind ja dann zum Teil auch mit in die bildende Kunst eingestiegen, als Austellungsmacher. Sie haben das Erklärungspotential fast zu einem Monopol ausgeweitet und können nun solche Ausstellungen machen wie die Biennale in Venedig. Das ist dann zum Beispiel der Harald Szeemann. Der wurde von einer italienischen Zeitung gefragt: Was ist da der rote Faden? Und er hat nichts von einem Stil, einer Technik, einer Bewegung oder einem Erkenntnistrieb der Künstler gesprochen, sondern er sagte: "Der rote Faden bin ich. Ich halte das alles zusammen." Das ist neu in der bildenden Kunst. Das ist jetzt schon eine Funktion wie der Regisseur oder wie der Dirigent, die in den anderen Künsten schon immer als vermittelnde Figuren wichtig waren. Das gab es in der bildenden Kunst bisher nicht. Auf einmal haben die also jetzt, sagen wir mal, seit der ersten documenta, da spricht man doch von der Bode-documenta, von der Szeemann-documenta, jetzt hat's die David-documenta gegeben, davor war's die Hoet-documenta. Man spricht nicht mehr von den Künstlern, die da waren, sondern von den Ausstellungsmachern. Das lehnt mein "Letzter Zeichner" alles ab. Er sagt: Die bildende Kunst, war eine Kunst, die immer über die Sinne gesprochen hat, nicht über den Verstand. Die brauchte eigentlich keine Vermittler, solange sie noch auf dem Boden ihrer eigenen Möglichkeiten stand. In dem Maße, in dem sie sich von diesen Symbolen entfernt hat, wird sie erklärungsbedürftig. Deshalb haben auch diese Kopflastigen ihre Chance.
Verna: Sie sagen, daß die Moderne unsinnlich geworden ist, weil das in den Hintergrund gedrängt worden ist?
Gernhardt: Jetzt sind wir auf einem anderen Dampfer. Für mich ist die Funktion von bildenden Künstlern inzwischen weitgehend die von Trüffelschweinen, die auf Reizsuche sind. Wenn sie irgendwo einen Reiz gefunden haben, scharen sich die Verwerter drumherum. MTV steht dann auf der Matte, die Ateliers, alle, die Logos entwickeln müssen, alle, die irgendwelche Reize brauche, die Layouter, die Art directors und so weiter, um sich dann auf diese Reize zu stürzen und sie den Künstlern zu entwenden. Je eindeutiger der Reiz ist, den sie auftun, desto eindeutiger wird er ausgeschlachtet. Die Reize der Surrealisten, die mittlerweile ihre Schockwirkung, ihre Schockqualitäten völlig entraten. Das waren ja mal Reize, das muss man sich mal vorstellen: Noch in meiner Jugend, als ich diese Bilder sah, dachte ich: Mein Gott! Und hatte irgendwie die Hoffnung, das wird nie eingeholt werden vom Bürger, das ist eine Sache für uns Künstler. Und wie die Bürger das eingeholt haben!
Verna: Trotzdem genießt heute die Kunst, in welcher Form sie auch immer auftritt,ob als umgestülpte Kartons oder als Körperausscheidung, den Status des Besonderen. Ihrer Meinung nach würden beispielsweise solche Kartons diesen Status zu unrecht geniessen?
Gernhardt: Nein, nein, die Brillo-Boxen von Warhol etwa waren etwas Besonderes. Das sind natürlich dann eher Gesten als hergestellte Werke: Ich nehme jetzt diese Brillo-Boxen und stelle sie ins Museum, dann ist es ein Kunstwerk. Man sollte einfach versuchen, einen anderen Bild-Begriff dafür zu entwickeln. Das ist ein Kulturbruch, ein Traditionsbruch, und der sollte auch zum Ausdruck kommen in einer neuen Benennung. Es gab die Ausstellung: "Von Vermeer bis Kabakov" in Frakfurt. Innenleben hieß die. Wunderbare Ausstellung, sie ging tatsächlich bis in die 60er Jahre unseres Jahrhunderts. Bis dahin waren das noch Bilder, die miteinander vergleichbar waren, man konnte sagen: die einen sind schlechter, die anderen besser. Aber sie arbeiteten auf demselben Terrain mit denselben Mitteln. Und nun kommt Kabakov mit einer Installation: Ein Türrahmen in einer Ecke, eine Klotür aus Russland, wie ich dem Katalog entnehme, dahinter Geräusche, also nicht eben Geräusche vom Scheißen und Abziehen, aber Gemurmel. Das arbeitet mit anderen Mitteln, auf einem anderen Terrain. Das ist so, wie wenn man einen Boxer gegen einen Ringer antreten lassen wollte. Deswegen gibt's doch das Ringen und das Boxen. Oder meinetwegen einen Boxer gegen einen Bogenschützen. Ich finde es so unsinnig, das in eine Reihe zu stellen. Ich erlebe durchgehend - und das ist nun keine Verschwörungstheorie - daß in der bildenden Kunst versucht wird anzuknüpfen, auch um zu adeln.
Verna: Aprospos Vermeer: was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sehen, wie zu Vermeer- und Velázquez-Ausstellung die Leute Busweise angeschleppt werden?
Gernhardt: Das kann ich Ihnen sagen, das steht auch in "Der letzte Zeichner", da gibt's einen Aufsatz: "Das habe ich bei Vermeer gelernt". Ich war in Den Haag und war einer von 3000 Leuten, die am selben Tag Vermeer sehen wollten. Das ist höllisch, das ist vollkommender Quatsch. Ich habe darauf natürlich satirisch reagiert. Ich stellte fest, daß im angrenzenden Museum, dem Mauritshuis, so gut wie niemand war. Ich behaupte, daß die Leute, die hingereist sind, vorher noch nicht im Mauritshuis waren. Die hätten alle da rübergehen sollen und sich die Pourbus und die Frans Hals anschauen. Da habe ich empfohlen: Die Leute sollten in ihrer Heimatstadt vorher einen Kunstliebhaberschein machen müssen. Sie müßten in ihr Museum gehen und sich quittieren lassen: ich habe schon mal den Vermeer in Frankfurt gesehen oder in München. Von ihrem Museum müßten sie sich einen Stempel geben lassen: die waren schon mal bei uns. Nur solche Leute würde ich in die Ausstellungen reinlassen. Denn wenn sie sich in Frankfurt nicht um ihren Vermeer kümmern, aber hunderte von Kilometern fahren, um dann einem echten Kunstliebhaber den Platz wegzunehmen - das geht nicht.