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Der Libanon und das Besatzungstrauma

18 Jahre lang hatten die israelischen Truppen den Süden des Landes besetzt, erst im Mai 2000 zogen sie sich zurück. Die Libanesen haben diese Besatzungszeit ebensowenig verarbeitet wie die der Syrer. Der Mord am früheren Ministerpräsidenten Hariri vor gut einem Jahr stürzte das Land erneut in eine tiefe Krise. Und so knüpfen sich die Hoffnungen der Libanesen zunehmend an die Hisbollah. Ein Bericht von Jörg Kaminski aus Beirut.

    Das Regenwasser gurgelt in den großen Schlaglöchern auf den Straßen und Wegen in diesem Stadtviertel im Beiruter Süden. Es rinnt die Hügel herunter und staut sich mit Schlamm gemischt in den Höfen hinter den Hochhäusern, die aus den sechziger Jahren zu stammen scheinen. Diejenigen, die hier wohnen, haben häufig kein Trinkwasser und keinen Strom. Die schiitischen Einwohner von Haret Houreik sind auf die Hilfe der Organisation angewiesen, die hier und in den anderen Vierteln im Süden Beiruts die Rolle einer Stadtverwaltung übernimmt. Die Hizbollah ist allein schon im Straßenbild allgegenwärtig.

    Bilder von Generalsekretär Hassan Nasrallah, vom religiösen Oberhaupt Scheich Fadlallah und vom iranischen Revolutionsführer Khomeini zieren Häuser- und Plakatwände, oder sie wehen als Banner über den viel zu engen Straßen. Darauf quälen sich die Autos laut hupend durch den um die Vormittagszeit immer dichter werdenden Verkehr. Hinter der auch im grauen Dauerregen immer noch hellbeige schimmernden Al-Hassanein-Moschee führt eine kleine Geschäftstraße nach rechts zum Hauptquartier der Hizbollah im Libanon. Bärtige Männer in schwarzen Kampfanzügen, mit purpurfarbenen Baretten auf dem Kopf, die Kalaschnikows geschultert bewachen die Haupteingänge.

    In einem der schlichten Häuserblocks hat Scheich Naim Qasim sein Büro. Der stellvertretende Generalsekretär der Hizbollah, ein untersetzter Mann mit rehbraunen Augen, ist sich der wachsenden Bedeutung seiner Organisation im politischen Leben Libanons durchaus bewusst. Er ist ein geschickter, diplomatischer Politiker, der keinen Zweifel am Selbstverständnis der Hizbollah aufkommen lässt.

    "Hizbollah ist eine Doktrin und eine soziale politische Partei. Zum ersten Mal beteiligen wir uns an einer libanesischen Regierung, weil wir bei den anstehenden Entscheidungen gebraucht werden. Hizbollah arbeitet nach ihren Prinzipien und gleichzeitig für das Wohl Libanons. Genau so arbeiten wir für die wirtschaftlichen und sozialen Belange der Libanesen."

    In der von den Konfessionen und von den reichen Familien dominierten libanesischen Politik spielt Hizbollah immer mehr die pragmatische Karte. Die schiitische Partei Gottes verbündet sich mit dem christlichen Machtpolitiker, Exgeneral Michel Aoun, und sie hat ihre Anhänger sehr gut in den Schlüsselpositionen der Ministerien platziert. Auf der landesweiten politischen Bühne ist die Organisation erst seit kurzem aktiv. Eine neue Kraft inmitten all der alten und bekannten Gesichter, die die Geschicke Libanons seit Jahrzehnten bestimmt haben. Auch außerhalb ihrer schiitischen Klientel erwirbt Hizbollah allein schon deshalb Vertrauen, weil die Libanesen allmählich der alten Garde überdrüssig werden, wie Osama Habib von der angesehenen Beiruter Zeitung "Daily Star" bestätigt.

    "Die Menschen sind einfach müde und sauer wegen dieser Situation. Sie glauben, dass die Politiker wieder einmal nicht zu ihren Versprechen stehen. Und die alten Spieler in diesem Spiel sind auch wieder die neuen. Nichts, aber auch gar nichts hat sich geändert."

    Die Hizbollah versucht, sich zu ändern. Sie will den Spagat schaffen zwischen einer gegen die Israelis kämpfenden Widerstandsorganisation und einer parlamentarischen Regeln folgenden Partei. Kein leichtes Unterfangen, meinen politische Beobachter. Zumal Hizbollah gerade im Westen immer noch gegen das Image einer von Syrien und Iran unterstützten Terrorgruppe antreten muss. Im Libanon sehen viele Menschen das differenzierter. Wenn selbst der Syrien- und systemkritische Christ Michel Aoun stunden- und tagelang mit Hizbollah-Führer Hassan Nasrallah über die Zukunft des Landes diskutiert, ist das fast schon eine Sensation. Bei aller Kritik, die es in bestimmten Kreisen Libanons an der Aufrichtigkeit der Partei Gottes gibt, es finden sich immer Menschen, die so denken wie der sunnitische Restaurantbesitzer Ahmad Kasem.

    "Hizbollah ist eine libanesische Organisation, keine terroristische. Sie haben die Israelis besiegt. Wenn wir Hizbollah im Libanon nicht hätten, könnten die Israelis jederzeit wieder kommen. Und was Generalsekretär Hassan Nasrallah angeht. Zeigen sie mir einen Politiker, der seinen Sohn im Krieg geopfert hat. Nur Hassan Nasrallah hat das getan."

    Von diesem Nimbus zehrt Hizbollah nach wie vor. Und aufgeben will sie ihren bewaffneten Widerstand gegen die Israelis auf keinen Fall. Israel, das sich im Jahr 2000 aus dem Libanon zurückzog, hält im Süden des Landes immer noch ein kleines Gebiet besetzt. Die Shebaa-Farmen. Den internationalen Rechtsstreit, ob die nun zu Syrien oder zu Libanon gehören, haben die Politiker in Beirut nun für sich beantwortet. Shebaa gehört ihrer Meinung nach zu Libanon. Gut für Hizbollah, schafft ihr das doch eine Legitimation für den weiteren Widerstand gegen Israel. Was aber, wenn sich die Israelis aus dem Gebiet zurückziehen. Gibt Hizbollah dann – wie von den Vereinten Nationen gefordert – die Waffen ab? Das wird wohl kaum passieren, wie aus den diplomatischen Formulierungen von Scheich Naim Qasim heraus zu hören ist.

    "Was die Waffen der Hizbollah nach der Befreiung der Shebaa-Farmen angeht: Auch dann werden die israelischen Drohungen, die täglichen Verletzungen unseres Luftraumes zum Beispiel anhalten. Sollte es eine Verteidigungsstrategie geben, in der der Widerstand der Hizbollah eine spezielle Rolle einnimmt, dann werden wir diese Rolle übernehmen. Sollten sich die Libanesen aber für eine andere Verteidigungsstrategie aussprechen, dann werden wir das im Sinne einer gemeinsamen Vision mit dem libanesischen Staat diskutieren."

    Die Waffen der Hizbollah wirklich nur, um im Dienste Libanons eine israelische Bedrohung abzuwehren? Manche libanesische Politiker argwöhnen, dass die Partei Gottes ihre militärische Stärke behalten will, um einerseits für einen möglichen Libanon-internen Machtkampf gerüstet zu sein. Anderseits könnte Hizbollah natürlich auch die Sache ihrer Sponsoren, vor allem des Iran ausfechten, der einen radikal anti-israelischen Kurs fährt. Seit dem erzwungenen Abzug der Syrer vor einem Jahr aus Libanon habe Iran nun direkten Einfluss auf die Schiitenorganisation, argumentieren politische Beobachter in Beirut. Hizbollah-Führer Scheich Naim Qasim weist diese Vermutung erwartungsgemäß zurück.

    "Iran übt keinen Einfluss im Libanon aus. Und wenn sie in diesem Zusammenhang an Hizbollah denken: Wir sind eine libanesische Partei, die sich um den Libanon kümmert. Was die Probleme zwischen Amerika und Iran angeht: Der Iran ist ja nicht schwach. Die wissen schon, wie sie sich verteidigen können."

    Regierungspolitiker in Beirut haben nach wie vor Angst, dass ihr Land zum Schlachtfeld des amerikanisch-israelisch-iranischen Konfliktes werden könnte. Verhindern kann das am ehesten Hizbollah. Dann nämlich, wenn die Partei Gottes die libanesische Karte spielt, und nicht die einer ausländischen Kraft. Das gehört aber auch allen politischen Gruppen im Libanon ins Stammbuch geschrieben.