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Der literarische Menschenversuch im Deutschlandfunk

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk. Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?"

Von Denis Scheck |
    Sagen wir so, immer wenn man glaubt, man habe nun wirklich alles an Peinlichem, heillos Verkitschtem und lieblos Zusammengeschusterten mindestens einmal gelesen, kommt ein Buch daher, das sämtlichen Mist noch unterbietet. Wahrscheinlich ein ähnlicher Effekt, wie wenn man sich das Rauchen abgewöhnt: man wird sensibler für die Ausdünstungen seiner Mitmenschen. So richtig unappetitlich sind auf Dauer eigentlich immer jene Bestsellerautoren, die zu Gottsuchern werden.

    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Belletristik:

    Inklusive einer unverhüllten Aufforderung zur Desertion, einer Meditation über Schundliteratur als Mittel zur sozialen Konditionierung, Anmerkungen zur Wahrscheinlichkeit im Krimi, der Erklärung des Unterschieds zwischen einem "memoir" und Memoiren sowie der unter Umständen justitiablen Behauptung, in gewissen Teilen Bayerns sei weder die Aufklärung noch die Moderne je angekommen.

    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen vier Kilo und 927 Gramm auf die Waage: zusammen 3871 Seiten.

    Platz zehn: Tatjana Gräfin Dönhoff und Gabriela Sperl: "Die Flucht" (Bloomsbury Berlin Verlag, 335 Seiten, 19 Euro 90)

    Auf Seite 214 dieses Buches sagt die Gräfin "Ich will dich", und der französische Kriegsgefangene sagt: "Ich will dich auch, cherie", und cherie ist kursiv geschrieben, damit wir in der ganzen merde auch mitkriegen, dass es sich dabei um ein französisches Kosewort handelt, und dann heißt es: "Sie zieht ihn zu sich herunter, und dann versinken sie in gemeinsamer Lust, atemlos und fordernd." Bücher wie dieses können einen noch 60 Jahre später mit wehenden Fahnen zur Roten Armee überlaufen lassen - und zwar atemlos und fordernd!

    Platz neun: Andreas Eschbach: "Ausgebrannt" (Lübbe Verlag, 750 Seiten, 19 Euro 95)

    Stellen Sie sich vor, die Erdölreserven dieses schönen Planeten gehen wesentlich rascher zur Neige, als man bisher gedacht hat: Welche Verteilungskämpfe dann ausbrechen, welche Verteidigungsstrategien dann greifen, das sind die Themen dieses süffigen Romans. Eschbach hat einen deutschen Wissenschaftsthriller geschrieben, der glaubhaft von globalen Problemen erzählt: gute Unterhaltung.

    Platz acht: Tommy Jaud: Resturlaub (Scherz Verlag, 253 Seiten, 12 Euro 90)

    Dass Trivialliteratur eine Form gesellschaftlicher Dressur sein kann, zeigt sich selten so nackt wie hier: In "Resturlaub" muss sich ein Mittdreißiger zum Evangelium von Ehe, Kinder und Bausparen bekehren und dafür seinen Träumen von Südamerika, Selbstbestimmung und freier Liebe abschwören. Unappetitlich und gruselig - wie alle Zwangskonversionen.

    Platz sieben: Peter Hoeg: "Das stille Mädchen" (Deutsch von Peter Urban-Halle, 461 Seiten, 24 Euro 90)

    Der Held dieses wirren Romans ist der berühmteste Clown der Welt, besitzt eine Form des absoluten Gehörs, das ihn nicht nur den Aufenthaltsort, sondern auch die Wesens-Gestimmtheit eines Menschen heraushören lässt, und vermag von den Sprüchen der frühen Wüstenmütter bis zum späten C.G. Jung mehr spirituellen Stuss zu zitieren, als ihm und dem Buch gut tut. Oder anders ausgedrückt: In diesem dicken Buch steckt ein schöner, von allem esoterischem Ballast befreiter Krimi, der um Hilfe schreit.

    Platz sechs: Fred Vargas: "Die dritte Jungfrau" (Deutsch von Julia Schoch, 474 Seiten, 19 Euro 95)

    Dass Plausibilität im Krimi eine eher überschätze Kategorie ist, beweist die neue Vargas. Dieses in Paris und in der Normandie spielende Buch ist ein Serienkrimi, die Hauptfigur ist ein Serienkommissar und es handelt von einem Serienmörder. Dennoch hat dieser Roman gar nichts lieblos Serielles. Und zwar, weil Fred Vargas anders als Peter Hoeg über eine Sprache verfügt, die noch die abstrusesten Verwicklungen der Handlung so zwangsläufig wie den Weg eines Fallbeils erscheinen lässt.

    Platz fünf: Marina Lewycka: Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch (Deutsch von Elfi Hartenstein, 359 Seiten, 14 Euro)

    Ein Buch über England und die Ukraine, zwei sehr unterschiedliche Schwestern und einen über 80-Jährigen, der eine weniger als halb so alte Frau heiraten will: eine Familiengeschichte, so irrwitzig wie amüsant.

    Platz vier: Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt (Rowohlt Verlag, 303 Seiten, 19 Euro 90)

    Ein guter und geistreicher Roman über die Suche nach Erkenntnis zur Zeit der Aufklärung. Nicht mehr, nicht weniger.

    Platz drei: J.R. Moehringer: Tender Bar (Deutsch von Brigitte Jakobeit ,S. Fischer Verlag, 459 Seiten, 19 Euro 90)

    Bücher von Menschen, die nichts Weltbewegendes erlebt haben, aber trotzdem Erinnerungsbücher über sich und ihr Leben schreiben wollen, heißen neuerdings "Memoir": quasi Memoiren für Arme. "Tender Bar" ist so ein Memoir, das von einem Jungen erzählt, der in einer Kneipe in einer Kleinstadt bei New York groß wird und dort das Leben und das Saufen lernt - als hätte ein amerikanischer Ditsche seine Autobiographie geschrieben. Aber weil Moehriger Amerikaner ist und das puritanische Erbe sehr lange nachwirkt, deshalb muss dieser Autor natürlich irgendwann dem Saufen abschwören und ein braver, fleißiger und steuerzahlender Bürger werden. Das liest sich nett und herzerwärmend, spätestens aber, wenn am Schluss noch die obligatorische Nine-Eleven-Verklärung folgt, wird einem klar, dass hier ein cleverer Kitschier am Werk ist.

    Platz zwei: Eoin Colfer: Artemis Fowl: Die verlorene Kolonie (Deutsch von Claudia Feldmann, List Verlag, 352 Seiten, 19 Euro 95)

    Eoin Colfer arbeitet in seinen kurzweiligen Jugendbüchern wie J.K. Rowling mit perfekten puerilen Ermächtigungsphantasien: eine Unterwelt voller Zauberwesen, für die alle Menschen auf der Erdoberfläche blind und taub sind, bis auf den brillanten Meisterdieb Artemis Fowl. Im fünften Band erhält Fowl unerbetene Gesellschaft von Dämonen und von einem Mädchen, ohne sich lange entscheiden zu können, was schlimmer ist. Das alles erzählt Colfer mit der Rasanz eines Actionfilms: aber eines Actionfilms im Schnellvorlauf.

    Platz eins der aktuellen Spiegel Bestsellerliste Belletristik: Andrea Maria Schenkel "Tannöd" (Nautillus Verlag, 125 Seiten, 12 Euro 90)

    Ein extrem reduziertes Buch: 125 eindringliche Seiten - ein Skelett von Zeugenprotokollen und sparsamsten Erzählpassagen - berichten vom Mord an sechs Menschen auf einem bayerischen Aussiedlerhof in den 50er Jahren, wo weder Aufklärung noch Moderne je angekommen sind. Weil das eigentliche Thema von "Tannöd" aber Heuchelei, Dumpfheit und Bigotterie ist, deshalb könnte dieser schöne und bemerkenswerte Krimi überall und zu jeder Zeit in Deutschland spielen.