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Der Luxus des Exils

Wen überfiele sie nicht gelegentlich, die Sehnsucht nach dem selbsterwählten Exil, die Lust aufs Aussteigen? Louis Buss, Jahrgang 1963, skizziert in seinem Romandebüt "Der Luxus des Exils" einen solchen Weg in die innere und äußere Emigration, in ein emotionales und geographisches Exil. Treibende Kraft für eine solche Flucht und zentrales Thema seines Romans ist die Angst vor, das Leiden an der Ungewißheit des Wahrgenommenen, die Gefahr der Täuschung. Schon Platon monierte, daß der Poeten Kunst lästerliche Täuschung sei, die den Menschen von der Erkenntnis des Wahren und Guten abbringe. Louis Buss beweist uns nun, daß das geschriebene Wort nicht nur selbst täuscht, sondern gleichsam Täuschung und Verrat heraufbeschwört.

Nicole Strecker |
    Der Held und Ich-Erzähler dieses Romans, Claude, findet ein Bündel Briefe in einer alten Bibel versteckt. Bei näherer Erforschung erweisen sich die Briefe als Schriften eines Zeitgenossen des von Claude so tief verehrten Lord Byron. Claude hofft auf eine spektakuläre Entdeckung über Byrons Leben. Die Frage nach der Authentizität der Briefe und der darin enthaltenen Hinweise auf Byrons Tagebücher rückt so ins Zentrum von Claudes Leben.Doch dient dem Autor dieses Geschehen nur als Veräußerlichung einer inneren Krise. Die Echtheit der Briefe wird für den Erzähler zum Symbol für die Möglichkeit von Sinn und Wahrheit überhaupt. Seine Suche gleicht dem menschlichen Bedürfnis nach einer zweifelsfreien Trennung von fiction und fact, von echten und bloß inszenierten Gefühlen, von Betrug und Treue.

    Der Roman entwirft ein überzeugendes Psychogramm eines in der Midlife Crisis befindlichen Mannes knapp über 50. Ein Mann, der selbst unzählige Male in seinem Berufsleben betrogen hat, ein Mann, dessen Gefühlsleben zu großen Teilen aus arroganter Verachtung seiner Mitmenschen besteht. Dieser Mann quält sich nun mit der Furcht vor dem Verrat durch Freunde und Familie.

    Die Problematik von Täuschung und Echtheit greift dabei auch auf die Ebene des Lesers über: Schon bald erweist sich die Perspektive des Ich-Erzählers als unzuverlässig. Claudes Selbst- und Fremdeinschätzungen werden immer wieder durch den Fortgang des Geschehens als fehlerhaft entlarvt. Der Leser muß lernen, den Schilderungen Claudes zu mißtrauen, erweisen sie sich doch allzu häufig als Irrtum. Und Claude muß sich immer wieder von seiner Umwelt überraschen lassen, die sich so ganz gegen seine Erwartungen und Interpretationen verhält. Auf diese Weise werden Leser und Hauptfigur gleichermaßen von der Unsicherheit alles Wahrgenommenen erfaßt, Täuschung und Enttäuschung lauern überall.

    Bücher markieren die Welt des Romananfangs: Da rascheln Stimmen in der Wahrnehmung Claudes wie verstaubtes Papier; zärtliche Gefühle für die Tochter werden über einen gemeinsamen Buchkauf erinnert; sein finanziell von ihm abhängiger Freund ist ein erfolgloser Schriftsteller; und zentraler Schauplatz des Geschehens ist das von Claude aufgekaufte und modernisierte Antiquariat. Eine besondere Rolle spielt der ehemalige Besitzer des Ladens, der ältliche Buchhändler Vernon. Ein aus der Zeit gefallenes Faktotum, das sich dem schnöden Mammon der Moderne, den Strategien des Marktes verweigert und ganz und gar seiner Bibliomanie, seiner Leidenschaft fürs Buch, verschrieben scheint. Gleichwohl vermag es der Erzähler, die Figur zu poetisieren, etwa in folgender Beschreibung:

    Der alte Mann entfernte sich behutsam. Er tappte ausdrücklich so durch den Laden, als würde er sich immer noch seinen Weg durch das verschwundene Gewirr bahnen, um mich an meine Schandtaten zu erinnern. Am Schaufenster angekommen, pflanzte er seine Füße auf den teuren Teppich und starrte auf eine Art hinaus, die darauf abzielte, Leute abzuschrecken. Dann stieß er einen langen und sanften Seufzer aus, der wie ein Hauch aus tiefster Seele kam, wo die Traurigkeit ihre Papierflügel schüttelte.

    Subtile Andeutungen lassen ahnen, daß ausgerechnet jener unbeugsame Geistmensch die Schicksalsmacht für Claude sein wird, die die Ereignisse ins Rollen bringt, um schließlich die Hybris des byronesken Lebemannes, sein herablassendes Mitleid und seine Verachtung zu Fall zu bringen.

    Es sind gerade die widersprüchlichen Charakterzüge und Stimmungsschwankungen des Helden, seine Entdeckerneugier und Suchbewegung, die den Roman zu Beginn so fesselnd machen. Alles scheint möglich, mysteriös gerieren sich Figuren und Ereignisse, lyrisch muten beschreibende Bilder an: etwa die Bäume, die sich zu einer tuschelnden Geisterversammlung einfinden, oder das Gesicht, so trocken und zerfurcht, als habe man ein Blatt Papier im Zorn zerknüllt und zerknirscht wieder geglättet.

    Doch zum Schluß wird alles erklärt, jedes Fragezeichen durch einen Punkt ersetzt und kein Rätsel, keine schizophrene Gefühlsregung bliebe, die noch Zweifel an der Stringenz und Geschlossenheit dieses Romans ließe. An Stelle der erzählerischen Rückschau tritt das Tagebuch, in dem sich erzählte Vergangenheit und Erzählgegenwart annähern, den Jetztpunkt überspringen, um ins Zukünftige zu fließen: die Schilderung der den Ich-Erzähler erwartenden letzten Stunden.

    Das Fazit freilich ist betrübliche Lebensweisheit: Was bleibt, ist die Leere. Beziehungen, beruflicher Erfolg, Freundschaften - all dies kann das innere Vakuum des Helden in der Midlife Crisis nicht mehr füllen. Nur durch Flucht in den Freitod, diesem letzten und wahrhaft luxuriösen Exil, kann Claude den marternden Sinnzweifeln entfliehen. Ein bißchen wird es der postmodern verwöhnte Leser wohl vermissen, daß es sich beim "Luxus des Exils" nicht um ein intertextuell und selbstreflektierend strukturiertes Werk handelt. Der zu erwartende Tanz auf dem Metaparkett Literatur bleibt aus, wie auch ein intellektuelles Spiel mit Andeutungen und Zitaten. Der literarische Ahnherr Byron dient nicht mit seinem lyrischen Werk als Referenzpol des Romans, sondern lediglich mit seiner biographisch übermittelten Exzentrik. Der gealterte und gelangweilte Antiquitätenhändler der Jetztzeit ist fasziniert von dem dekadent-revolutionären Lebensstil der literarischen Kultfigur, und fleißig ist unser Held bemüht, Korrespondenzen zwischen seinem Leben und dem des düsteren, skandalumwitterten Literaten aufzuspüren. Das Motiv des Inzests klingt an - bei Byron weckte die Halbschwester Augusta libidinöse Gefühle, bei Claude die Weiblichkeit der erwachsenwerdenden Tochter. Romantische Naturverbundenheit durchwirkt den Roman und getreu seinem Idol Byron begibt sich Claude schließlich von allen verlassen und von Zweifeln zerfressen ins italienische Exil. Dort ist es die Verlockung durch die Freiheit und Unendlichkeit des Meeres, die ihn einen letzten Entschluß fassen läßt - die Identifikation mit dem Lyriker führt in die schicksalhafte Selbsttäuschung. Bedauerlich ist die Erklärungswut des Autors gegen Ende des Romans. Der "Luxus des Exils" haftet an der unmittelbaren Handlungsebene und erweist sich so als eher konventionelle, wenn auch bilderreich und eindringlich geschriebene Unterhaltung. Louis Buss gelingt eine Beschreibungsintensität von filmischer Anschaulichkeit, Situationen erstehen lebendig durch liebevoll arrangierte Details, Personen scheinen zu atmen durch facettenreiche Porträtierungen - ein flüchtiger Genuß, aber ein Genuß.