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Der Meister des Quadrats

Der Architekt Oswald Mathias Ungers ist im Alter von 81 Jahren gestorben. Ungers zählt zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Nachkriegsarchitektur. Seine Bauten zeichnen sich vor allem durch schlichte geometrische Formen aus.

Von Günter Uhlig |
    Die Verblüffung war gewaltig: Ein gewisser Oswald Mathias Ungers hielt seinen ersten Vortrag an der TU Berlin, es war in den frühen 60er Jahren. Er erklärte seinem Publikum, dass alle Architektur das Spiel von Kreis, Dreieck und Quadrat sei und keinen anderen Gesetzen zu gehorchen habe.

    Wir konsternierten Zuhörer waren noch vom strengen Funktionalismus gelähmt, der umgekehrt dekretiert hatte, dass alle Form aus nichts als aus den Funktionen des sozialen Gebrauchs und den Gesetzen des Materials sich ableitet. Sofort schieden sich die Geister. Die einen folgten dem Neoklassizismus des Verführers, sehnsüchtig nach rationalen Regeln fürs Entwerfen, die anderen verharrten weiter in der auferlegten Pflicht zu glauben, alles Bauen regle sich nur von innen her, biologisch, vitalistisch. Das war, allerdings in ihrer höchsten und vollendeten Ausprägung, die Schule Scharouns, die unser Vorbild bis dahin, man kann mit Fug sagen, bis Ungers, gewesen war. Louis Sullivans Formel "Form Follows Function" war ja das breit befolgte Credo der Nachkriegsära in Deutschland, man tat gleichsam Buße für den Ästhetizismus und verlogenen Formalismus der Naziära.

    Mit Ungers war eine Schule geboren, die sich "Rationale Architektur" nennen sollte. Sie hat die dröge Szene aufgemischt, hat wieder eine theoretische Dimension in die Architektenschaft getragen, die im Wiederaufbauwunder zum Schluss nur noch die Regel kannte: "Länge mal Breite mal Geld", wie der Kunsthistoriker und Architekturtheoretiker Heinrich Klotz das deutsche Baugeschehen so polemisch wie treffend charakterisierte. Ungers polarisierte, forderte und fütterte seine Schüler mit Theorie und Geschichte der Architektur. Das war, heute will man‘s kaum glauben, ganz unerhört!, ja empörend, denn Geschichte, Form und Ornament waren verbotene Vokabeln in den Architekturfakultäten der Nachkriegszeit. Sogar "faschistoid!" riefen seine Gegner, besonders laut, als Ungers später auch noch den italienischen Theoretiker und Architekten Aldo Rossi in Deutschland einführte. Rossi unternahm es in seinem Buch "Architektur der Stadt" den Entwurf aus dem Kontext der europäischen Stadt neu, besser: wieder zu definieren, er befreite die Architektur aus der Befangenheit und Unterordnung unter die Soziologie. Ein Paradigmenwechsel vollzog sich, eine wichtige, urbanistisch argumentierende Spielart des Postmodernismus war geboren. Ungers war ganz gewiss hierzulande ihr erster und intelligentester Vertreter.

    Fragt man heute im Ausland, auch Fachleute, nach bekannten deutschen Architektennamen, dann hört man eigentlich immer nur drei: Ungers und Böhm, auch Kleihues. Nicht die Kubikmeter umbauten Raumes zählen dabei, sondern die Tatsache, dass alle drei provozierten, nachdenklich machten und Schulen hervorriefen. Schon eines der ersten Projekte der rationalen Periode von Ungers wurde überall publiziert und nachgemacht. Sein "Haus im Haus"-Konzept des Frankfurter Architekturmuseum machte Furore. Am treffendsten zeigten die "typologischen Variationen" von Stadthäusern für Marburg das neue Entwurfsverständnis und die Richtung, die die Stadtsanierung später einschlagen sollte. Ungers’ systematische Laborversuche des typologischen und morphologischen Entwerfens haben, nachdem seine radikale Erstfassung sich in moderater Form durchgesetzt hatte, nicht zuletzt auch die Stadtsanierung als "Kritische Rekonstruktion der Stadt" geprägt. Das war die Formel seines Kollegen Kleihues, die in der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987 den Neuen Deutschen Urbanismus theoretisch unterfütterte und international bekannt machte. Eigentlich war das alles nichts historisch Neues, es war der schlichte Rekurs auf die Stadt als Rekonstruktion von Parzelle, Block und Straße.

    Nichts wäre falscher, als Ungers heute in ein formales kalt-geometrische Korsett des Quadrates und der Logelei einzuzwängen, eine Interpretation, die einige seiner Spätwerke nahelegen. Aber vergessen wir nicht, dass Ungers vor seiner rationalen Periode eine eher organisch-dynamische Annäherung an die Architektur gesucht hat. Aus dieser Zeit stammt sein schönes erstes Wohn- und Bürohaus in Köln. Später, als die Studentenbewegung die soziale Frage als Demokratisierung von Planung und Bauen wieder auf die Agenda der Ausbildung gesetzt hatte, akzeptierte Ungers diesen Erneuerungsschub nicht nur selbstkritisch, sondern unterstützte ihn tätig. Damals konnte man den Professor Ungers in seinem Institut an der TU Berlin an der Hollerithmaschine stehen sehen, wo er Flugblätter für die Stadtteilarbeit engagierter linker Studenten vervielfältigte. Der Erneuerungsschub der 68er hat ihn, den weit Älteren, so tief bewegt, dass er seine Professur für einige Jahre aufgab, um in den USA den Ursprüngen und der Gegenwart von alternativen Lebens- und Wohnkommunen nachzuspüren. Gottlob kam er zurück und bescherte uns viele und so einprägsame wie schöne Museums-Bauten in Hamburg und Köln. Und wer die Berliner Friedrichstraße entlanggeht, wird sein Kaufhaus als eine Wohltat empfinden im ekkletizistischen Umfeld der neueren Berliner Architektur.