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Der Mensch als Erzählung

Der italienische Schriftsteller Ugo Riccarelli beschäftigte sich in seinen Werken eindrücklich mit dem Leben. Das hatte sicher mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun: Riccarelli war schwer krank, hatte eine Herz-Lungen-Transplantation hinter sich - die ihn überhaupt erst zur Literatur brachte. Jetzt ist Riccarelli mit nur 58 Jahren gestorben.

Von Thomas Fitzel |
    Ugo Riccarelli ist - seit heute muss man sagen - war einer der großen italienischen Erzähler, der noch einmal an die Glanzzeit der italienischen Literatur mit Elio Vittorini, Cesare Pavese oder Carlo Levi erinnerte. Riccarelli brauchte nur wenige Sätze, um einen Menschen und sein gesamtes Leben plastisch vor die Augen des Lesers treten zu lassen. In seinem Familienepos "Der vollkommene Schmerz" zauberte er so mit wunderbar leichter Hand das Panorama von einhundert Jahren italienischer Geschichte.

    "In all meinen Büchern ist die Geschichte deshalb wichtig, um im Blick zurück, die Ideen und Werte von heute zu reflektieren, um zu verstehen, wie wir zu dem wurden, was wir heute sind."

    In der Vergangenheit suchte er nach den Momenten der verratenen Utopie und Hoffnung, um sie für die Gegenwart zu retten, wie in seinem Theaterstück über die nur einen Tag währende demokratische Republik von 1849. Zuletzt arbeitete er für die beiden kommunalen Bühnen Roms. Davor schreib er einer die Reden für den ehemaligen Bürgermeister von Rom, Walter Veltroni. Sein Büro mit dem sagenhaften Blick über das Forum Romanum gab er ohne zu zögern auf, als anstelle von Veltroni ein Neofaschist in das Amt gewählt worden war. Riccarelli war unbestechlich und immer eindeutig in seiner Haltung. Klein und zierlich von Gestalt, wirkte er fast zerbrechlich und war doch ein unermüdlich vibrierendes Energiebündel. Aber sein Leben verdankt sich einem Wunder. Nachdem er jahrelang an eine Lungenmaschine gefesselt war, ermöglichte ihm eine Herz-Lungentransplantation im Juni 1990 ein neues Leben, wobei in dem sogenannten Dominoverfahren, ein anderer wiederum sein Herz gespendet bekam.

    "Einige Jahre danach erfuhr ich, dass die Person eine Frau war, denn der Arzt, der auch bei ihr die Kontrolluntersuchung vornahm, war ein Freund von mir. Er verriet mir nie ihren Namen, aber er sagte mir: Schau, gestern untersuchte ich die Frau, die dein Herz bekam. Es geht ihr gut und sie will ein Kind. In diesem Moment fühlte ich mich so unglaublich stolz. Ich sagte mir: Herrgott Sakrament nochmal, das bist du! Ein Teil von Dir hält sie am Leben! Als Autor kommen einem sofort Geschichten in den Sinn: Sie ist eine Frau - angenommen ich würde ihr begegnen und mich in sie, also in mein eigenes Herz verlieben - weiter kann man wohl den Narzissmus nicht treiben."

    Nur versteckte Spuren seines Leidens in seinen Büchern
    Ugo Riccarelli nahm dieses geschenkte Leben mit einer unglaublichen Lebenslust und Liebe an. Er wusste, dass seine Zeit begrenzt sein würde. Jeder harmlose Infekt war für ihn eine Gefahr und die Medikamente ruinierten zwangsläufig seine Nieren. In seinen Büchern findet man aber nur versteckt eine Spur davon.

    "Recht häufig verwendete ich diese Metapher des Atems. Zum Beispiel wenn ich einen Roman schreibe, in dem sich die Geschichte ausbreiten kann, ist es so, als wenn man tief einatmet und die Lungen füllt. Wenn ich umgekehrt eine kurze Erzählung schreibe, nur über ein oder zwei Seiten, zieht sich dann der Atem zusammen. Insofern ist das Schreiben für mich ein natürlicher Akt wie das Atmen."

    Im Frühjahr war die deutsche Übersetzung seines Romans "Die Residenz des Doktor Rattazzi" erschienen. Darin geht es um einen jungen Pfleger in einer Irrenanstalt. Durch Doktor Rattazzi lernt er die Methode: Verstehen durch Nachahmung. Er ahmt die psychisch Kranken in ihren noch so verrücktesten Gesten nach und sei es, dass er mit ihnen genüsslich die Blütenblätter von Rosen abzupft und verspeist. Und stellt so eine Form von Kommunikation her. Zugewandtes Zuhören das war auch die Methode Ugo Riccarelli. Er knüpfte in seinen Romanen an die orale Erzähltraditionen an, die er ganz aus seiner eigenen toskanischen Familie schöpfte.

    "Mein Vater war ein großer Erzähler, ein Zauberer, Hexer und Magier, ein Illusionist und mit seiner Fähigkeit zu flunkern ein Schwindler im positiven Sinne, der es schaffte, einen zum Träumen zu bringen und seine Schmerzen zu vergessen. Beim Schreiben des Romans entdeckte ich, dass dies das Geschenk ist, das mir mein Vater vermachte. Er hat mir sehr geholfen, ein Erzähler zu werden, denn ein Erzähler ist doch auch nur ein Lügner. Ich spreche mit Dir jetzt darüber mit großer Wehmut, denn er fehlt mir, und wenn er heute hier wäre, würdest am Ende Du ihn und nicht mich interviewen."

    Nun kann auch Ugo Riccarelli nicht mehr interviewt werden.