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Der Mensch hat keine Chance

In den Bergen gibt es offenbar Orte, die nicht aus natürlichen Gründen schwer zugänglich sind, sondern weil ein Fluch auf ihnen liegt. Zu einem solchen Ort macht sich eine siebenköpfige Gruppe Dörfler mit einer Viehherde auf - und das Unheil bricht herein.

Von Peter Urban-Halle | 30.08.2010
    Die Berge hat Elias Canetti in seinem Buch "Masse und Macht" als Schweizer Massensymbol bezeichnet, "ihre Schwerzugänglichkeit flößt dem Schweizer Sicherheit ein", schreibt er und meint die Sicherheit gegenüber dem Eindringling. Nun gibt es in diesen Bergen offenbar auch Orte, die nicht aus natürlichen Gründen schwer zugänglich sind, sondern weil ein Fluch auf ihnen liegt, dann erinnern sie an Gegenden in Island, wo Elfen und Trolle wohnen sollen, die nicht gestört werden dürfen. Dann kehrt sich das Gefühl der Sicherheit in ein Gefühl der Unsicherheit um, manchmal gegen die eigenen Leute, denn der Eindringling ist längst da, er kam auf leisen Sohlen, unmerklich, und umso vernichtender.

    Das sind so Geschichten. Man hat nie wirklich erfahren, was dort oben passiert ist und jetzt ist das schon 20 Jahre her, eine alte Sache. Das Klarste daran ist für mich, dass wir seit 20 Jahren schönes Gras verkommen lassen, 70 Kühe könnte man den ganzen Sommer lang davon ernähren.

    Das sagt der Ammann des Dorfes, am Anfang der Geschichte. Es geht um eine Alm hoch oben im Gebirge, auf der ein Fluch lastet. Der Ammann ist jung, er pfeift auf den Fluch und kann die Gemeinde von der künftigen Nutzung der saftigen Weide überzeugen. Nur die sturen Alten sind dagegen, sie warnen heftig. Es ist ein handfester Generationskonflikt: Jung gegen Alt, Vernunft gegen Aberglaube, Fortschritt gegen Stagnation. Und es ist die Geschichte zwischen Unten und Oben, zwischen Materie und Geist, zwischen dem Tal, wo man "an der Eisenbahn lebt", und den himmelsnahen Regionen, die im wahrsten Sinne nicht zu fassen sind.

    Es ist nicht erstaunlich, dass besonders Schweizer Schriftsteller die Berge als Orte der Selbstfindung betrachten, an denen das Schicksal eine Wendung nimmt. Ramuz hat das Gebirge schon als Jugendlicher für sich entdeckt, als Raum, in dem er noch einmal zu sich selbst geboren wurde, wie er sagte, als Ursprungspunkt, er sieht die Natur als Gegenüber und als Widersacherin. Als eine Abordnung des Dorfes hinaufsteigt, um die Alp zu inspizieren, überfällt sie die Nacht wie ein Wesen, das sie im Würgegriff hält, oder wie ein Sumpf, in dem man versinkt:

    Man war gefangen in ihr, man trug sie schwer auf den Schultern, sie lag einem auf dem Kopf, auf den Schenkeln, um die Hände, an den Armen, verhielt die Bewegungen, drang in den Mund; man kaute sie, diese Schwärze, man spuckte sie aus, man kaute sie wieder, man spuckte sie wieder aus, wie Walderde.
    Man ignoriert die warnenden Vorzeichen, schließlich ziehen sieben Mann auf die Alm, darunter einer, der ein geweihtes Papier unterm Hemd trägt wie ein Amulett, ein anderer, den das Goldfieber in die Berge treibt, oder der junge Joseph, der für die Hochzeit mit Victorine Geld verdienen will. Es kommt, wie wir ahnten, das Unheil bricht herein, unter dem Vieh verbreitet sich die Seuche, Rind um Rind wird abgetan, doch es nützt nichts, die ganze Herde verendet nach und nach.

    Man las in diesem schaurigen Epos antikapitalistische Kritik: Geldgier habe den Untergang des Dorfes herbeigeführt. Doch spielt auch ein verständlicher Überlebenswille eine Rolle, das Vieh leidet an Futtermangel. Dass die Unkenrufe der Alten am Ende wahr werden, hat eine antizivilisatorische, rückwärtsgewandte Tendenz, aber nie eine verklärende oder kitschige.

    Nicht rückwärtsgewandt ist die Erzähltechnik, die auch kubistisch genannt wurde. Plötzliche Tempuswechsel wirken wie harte Schnitte. Die Welt zerfällt in Stücke und Fragmente, die Ramuz ganz unerwartet zusammenmontiert oder manchmal parallel ineinander blendet. Das sind Begriffe, die nicht von ungefähr an das Erzählen des Films erinnern. Der moderne Stil verhindert jede banale Mythologisierung. Der Berg, "Er" – groß geschrieben! – wird zur dämonischen Hauptfigur. Der Mensch hat keine Chance, er ist der existenzvernichtenden Macht des Berges vollkommen ausgeliefert, und zwar jeder Mensch, auch der unschuldige, auch der liebende. Grausam das Schicksal Victorines, die auf dem Weg zu ihrem Joseph tödlich verunglückt, und Joseph ahnt es, er sucht sie:

    Er ging immer weiter, während der Tag auch dahinging; unter dem weißen Himmel, in immer dichteren und lästigeren Fliegenschwärmen, kleinen schwarzen Wolken da und dort, die er zerriß, da er durch sie hindurchging; fast ebenan jetzt und gradeaus, dann wird es Mittag, dann Nachmittag; und es ist zwei Uhr, drei Uhr; und nun sieht man, wie er wieder zu steigen begann.
    Und dann der Blick, den Joseph auf die Leiche seiner Braut werfen muss, eine erschütternde Passage, er glaubt es nicht, wir wollen es nicht glauben, er spricht mit ihr, aber "man hat sie mir anders gemacht", sagt er und geht mit einem Gewehr hinaus. Am Ende nur noch Tote, eine Apokalypse mit groteskem Witz, wenn die Dörfler beim Begräbnis Victorines mit Kreuzen aufeinander losschlagen.

    Hier noch etwas zur Übersetzung. Der Schweizer Hanno Helbling, lange Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, starb 2005. Seine Neuübersetzung aus den 70er-Jahren, hier erstmals als eigenständiger Band erhältlich, müsste man "kongenial" nennen, wenn dieser Ausdruck heutzutage nicht schon jeder mittelmäßigen Leistung angeheftet würde. Aber hier ist das Wort zutreffend. In Helblings überragender Version ist der verzweifelte Widerstand, die knarzige Poesie, die Unbesiegbarkeit des Unfassbaren aufgehoben, die Ramuz im Blut hatte, man merkt ja gar nicht, dass man eine Übersetzung liest, und denkt, Ramuz muss diesen Roman auf Deutsch geschrieben haben.

    Charles Ferdinand Ramuz: "Die große Angst in den Bergen". Roman. Aus dem Französischen von Hanno Helbling. Nagel & Kimche, Zürich 2009. 189 Seiten, 17,90 Euro.