Archiv


Der Milchmann

Natürlich denkt jeder sofort an Tevje, den Inbegriff des liebenswerten Schdedl-Bewohners, und seinen unvergesslichen Ohrwurm: "Wenn ich einmal reich wärr". Jakob Weinberg ist reich, und man nennt ihn den "Milchmann", doch nicht Molkereiketten haben ihn wohlhabend gemacht, sondern der Schwarzmarkthandel der vierziger Jahre, in den Fünfzigern zu Nachtclubs mit Bordellservice erweitert, dann neutralisiert in einem prosperierenden Kino, und als die Kinowelle verebbte, ruhten die Gewinne schon in Mietshäusern. Keine untypische Biographie für einen Juden, der nach dem Holocaust in Deutschland blieb, jedenfalls eine, die den Deutschen plausibel erscheint, vereint sie doch das Klischee der Geschäftstüchtigkeit mit dem Makel zwielichtiger Ursprünge.

Florian Felix Weyh |
    Doch Jakob Weinberg hat mit einem weitaus größeren Problem zu kämpfen als den antisemitischen Wertungen seiner Umwelt; als ehemaliger Auschwitz-Häftling trägt er ein dunkles Geheimnis mit sich herum. Sein Spitzname "Milchmann" beruht nämlich auf einer um 180 Grad gedrehten Legende. Wahr daran ist, daß er eine Kiste Milchpulver fand und ins Lager schmuggelte, unwahr hingegen, daß er damit seinen Kameraden das Überleben erleichterte. Sie alle wanderten in die Gaskammer, weil unter den Umständen eines Konzentrationslagers eine ruhige, solidarische Verteilung der Beute schiere Utopie gewesen wäre. Nur Weinberg gelingt es, durch einen Personentausch sein Leben zu retten, und nun ist er mit siebzig Jahren ein verbitterter, in sich mehrfach gebrochener Mann, dessen Lebensbilanz nicht gelingen will. Widersprüchle, wohin er blickt. Warum hat er Deutschland nie verlassen, wo er doch das Land der Täter haßt, zumindest tief verachtet? Warum gönnt er sich eine jüdische jüngere Freundin, eine Schickse, verbietet dem Sohn aber dieselbe Freiheit mit harschen Drohungen? Warum beschwört er die Solidarität in der jüdischen Gemeinde, sperrt sich aber widerspenstig dagegen, einem Leidenskameraden Geld für eine Star-Operation zu stiften? Eine Summe, die ihm nicht wehtäte und den anderen vor der Blindheit bewahrte?

    Symbolisch diese Szene, denn in Wahrheit ist Jakob einberg blind. Blind für das, was ihm angetan wurde, und blind für seine eigenen schuldhaften Verstrickungen. Ein Mensch, der nach vorne schaut und am Ende seines Lebens in ein Dilemma gerät. Nach eine Prostata-Biopsie glaubt er, sechs Tage Zeit zu haben, bis das Todesurteil Krebs feststünde, und das rüttelt an den Grundfesten seiner Welt. Wer nämlich Auschwitz überlebte, so hat er sich fünfzig Jahre lang eingeredet, ist per se unsterblich. Für jemanden, der den Todeslagern entrann, kommt der Tod nicht mehr vor auf dieser Welt.

    Kost, die Rafael Seligmann, ohnehin ein Spezialist für deutsch-jüdische Tabubrüche, in seinem neusten Roman "Der Milchmann" auf den Tisch bringt. Sein Held ist unwirsch bis unsympathisch, herrisch und larmoyant zugleich, manchmal unerträglich sentimental, dann wieder von einer kaum zu begreifenden Dickköpfigkeit; kein Mensch, mit dem man gerne zusammenleben würde, und daß er eine junge, sympathische Freundin besitzt, wirft Rätsel auf. Aber dieser schroffe Protagonist hat etwas, das in der deutschen Literatur selten geworden ist: eine unentrinnbare Tragik.

    In heiter-forschem Ton über sie hinwegzufabulieren, wäre unmöglich, und so erweist sich "Der Milchmann" auch sprachlich als sperrig. Weite Passagen sind, die Milieu-Distanz zum deutschen Leser betonend, mit jiddischen und hebräischen Begriffen durchsetzt. Der als unterhaltsamer Autor bekanntgewordene Rafael Seligmann fordert seinen Lesern diesmal erheblich mehr Konzentration ab als gewohnt. Jakob Weinbergs Neigung zur Selbstreflektion überschreitet dagegen manchmal die Grenzen des Erträglichen, er scheint zuviel "Spiegel" gelesen zu haben, jedenfalls ähnelt sein Argumentationsstil dem Muster des Hamburger Magazins. Überhaupt ist die Realität sehr präsent in diesem Buch. Wiewohl der Autor Ignatz Bubis als zeitgeschichtliche Figur unter seinem Realnamen auftauchen, erinnert Jakob Weinberg auf Schritt und Tritt an den prominenten Frankfurter Juden. Seligmann würde das vermutlich bestreiten; doch mit einem Augenzwinkern. Die Provokation seines Romans liegt indes darin, den Philosemiten wie den Antisemiten gleichermßen das Wasser abzugraben: Auch wer Auschwitz überlebte, war danach nichts mehr und nichts weniger als ein Mensch.