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"Der Mindestlohn holt niemanden aus der Armut"

In Großbritannien gilt seit 1999 ein Mindestlohn, dessen Höhe an den Durchschnittslohn gekoppelt ist und für Erwachsene bei 38 Prozent liegt. Umgerechnet acht Euro pro Stunde - das ist nach Ansicht der Kampagne für einen "Living Wage" zu wenig, insbesondere in der teuren Hauptstadt London. Ruth Rach berichtet.

04.01.2008
    Rosy, 22, Studentin arbeitet in einem Pub in Südlondon. Sie verdient den Mindestlohn, 5,52 Pfund, das sind umgerechnet acht Euro pro Stunde.

    Die Extrastunde, die Rosy nach Feierabend fürs Aufräumen anhängt, wird ihr allerdings nicht bezahlt. Rosy nimmt das in Kauf. Es gebe genug Andere, die ihren Job gern machen würden. Rosys Studium wird von den Großeltern finanziert. Der Job im Pub bringt ihr lediglich mehr Taschengeld.

    Anders die Situation von Chris, Mitte 30. Chris arbeitet als Putzhilfe in Ostlondon. Er ist auf das Geld angewiesen.

    Auch Chris verdient den Mindestlohn, aber obwohl er bis zu 85 Stunden in der Woche arbeitet, kann er sich und seine Familie nicht über Wasser halten. Die Lebenshaltungskosten sind viel zu hoch.

    "Der Mindestlohn holt niemanden aus der Armut", sagt Polly Toynbee von der Tageszeitung The Guardian. Staatliche Zuschüsse - als 'Family Tax Credits' verbrämt - seien weiterhin unabdingbar. Polly Toynbee hat selbst versucht nur vom Mindestlohn zu leben - als Putzfrau, Altenpflegerin und Packerin.

    Schon nach wenigen Wochen war sie verschuldet, obwohl sie nur von Linsen und Kartoffeln lebte.

    Der gesetzliche Mindestlohn wurde 1999 von der Labour Regierung eingeführt. Damals betrug er umgerechnet 5,5 Euro für Arbeitnehmer über 22. Jedes Jahr wird er neu festgelegt. Dabei orientiert sich die Regierung an den Empfehlungen einer Niedriglohnkommission, die sich aus Vertretern der Wirtschaft, der Arbeitnehmer und unabhängigen Experten zusammensetzt. Britische Arbeitgeber haben sich mit dem Mindestlohn abgefunden - auch wenn manche versuchen, die zusätzlichen Auslagen wettzumachen: indem sie mehr Produktivität verlangen, oder Arbeitsuniformen in Rechnung stellen, und zusätzliche Leistungen streichen.

    Dennoch sei der Mindestlohn ein Schritt in die richtige Richtung, sagt Polly Toynbee.

    Die Labour Party kämpfte hundert Jahre lang um den Mindestlohn, Die Löhne in Großbritannien waren extrem niedrig, gleichzeitig gab es ein riesiges Heer von Billigarbeitskräften, allen voran Frauen, die 70 Prozent der am schlechtesten bezahlten Jobs verrichten: Putzen, Kochen, Pflegedienste,


    Diese Frauen haben von der neuen Lohnuntergrenze am meisten profitiert. Dennoch kam der Mindestlohn weitaus weniger Menschen zugute als erwartet. Er war bewusst niedrig angesetzt, um Arbeitgeber nicht vor den Kopf zu stoßen: sie warnten vor enormen Schäden für die britische Wirtschaft und sahen Kleinbetriebe akut gefährdet.

    Ihre Befürchtungen haben sich nicht bestätigt. Die Konjunktur boomte weiter, gerade im Servicesektor, der traditionellen Niedriglohndomäne - obwohl der Mindestlohn Jahr für Jahr angehoben wurde, um rund 35 Prozent. Periodisch kommen Warnungen seitens des britischen Industrieverbands CBI, man dürfe den Mindestlohn nicht zu stark erhöhen. Anthony Thompson vom CBI.

    " Die Arbeitgeber müssen das Geld von irgendwoher nehmen, vor allem in einem Klima schrumpfender Profite und gnadenloser Konkurrenz. Das heißt, Unternehmen werden die Kosten an die Verbraucher weitergeben, im Notfall auch auf Lohnerhöhungen verzichten, die Mittel für Training und Ausbildung streichen, und eventuell sogar Arbeitskräfte kappen. "

    Aber Aktivisten wie Neil Jamieson, die für einen erhöhten Mindestlohn für das besonders teure London kämpfen, haben eine einfache Antwort parat.

    " Der britische Industrieverband CBI malt den Teufel viel zu oft an die Wand - aber nur im Zusammenhang mit dem Mindestlohn. Und nicht etwa wenn es die Spitzenverdiener wieder einmal mit massiven Lohnerhöhungen bedacht werden. "

    Tatsächlich hat sich die Einkommensschere seit dem Antritt der Labour Regierung weiter geöffnet. Daran hat auch der Mindestlohn nichts geändert. Es gibt ein stetes Angebot an Arbeitskräften, vor allem aus osteuropäischen Mitgliedsländern, die sich mit dem Mindestlohn begnügen. Die wenigsten sind gewerkschaftlich organisiert. Die Macht der Gewerkschaften ist seit der Thatcher Ära ohnehin stark geschwächt. Viele Unternehmen betrachten die Lohnuntergrenze als Obergrenze, und denken gar nicht daran, sie zu überschreiten.

    Polly Toynbee - eine engagierte Labouranhängerin - fordert eine kräftige Aufstockung der Mindestlöhne und deutlich höhere Steuersätze für Großverdiener. Nur so könne man die riesige soziale Kluft zu verringern. Aber kaum vorstellbar, dass Labour ihren Rat befolgen wird. Laut einer Untersuchung der Eliteuniversität London School of Economics trägt der Mindestlohn in Großbritannien dazu bei, die Kaufkraft und Produktivität zu steigern - aber nur solange er sich auf einem Niveau bewegt, das auch die Arbeitgeber akzeptieren.