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Der mittelalterliche Denker Raimundus Lullus
Gott mit dem Verstand erfassen

Vor 700 Jahren starb der mallorquinische Gelehrte Raimundus Lullus. Er wollte die Ungläubigen bekehren – aber nicht mit Waffen, sondern mit Worten. Noch heute beschäftigen sich Theologen, Philosophen und Sprachwissenschaftler mit seinem verqueren Denken. Vieles, was er schrieb, wurde einst nicht verstanden – und ist bis heute schwer verständlich, aber wegweisend.

Von Brigitte Kramer | 11.05.2016
    Ramon Llull Statue vor der Kathedrale La Seu in Palma auf der Baleareninsel Mallorca
    Raimundus Lullus Denkmal an der Kathedrale La Seu in Palma de Mallorca (imago/ R. Wittek)
    "A setzen wir. Das ist unser Herr und Gott. Diesem A schreiben wir sechzehn Tugendkräfte zu; doch sagen wir nicht, diese seien Kardinal- oder Theologal-Tugenden. Wir heißen sie auch nicht akzidentelle, sondern wesentliche Tugendkräfte. Aus ihnen werden einhundertzwanzig Kammern gebildet, durch welche die Liebhaber dieser Kunst Kenntnis über Gott haben können und wodurch sie Fragen stellen und diese auch durch notwendige Gründe lösen können."
    "Durch einen großen Wald ging Raimundus traurig und ungetröstet, weil Gott so wenig gekannt und geliebt würde und weil die Wahrheit sehr verborgen wäre und nur wenige Freunde hätte. Daher ist die ganze Welt fast verdorben und von ihrem Ziele abgelenkt."
    "Lange Zeit habe ich mich abgemüht, die Wahrheit auf diese und andere Weise zu suchen, und durch Gottes Gnade bin ich zu gutem Ende gelangt und zur Erkenntnis der Wahrheit, die zu wissen ich sehr ersehnte und die ich in meinen Büchern niederlegte, doch ich bin ohne Trost, weil ich das, was ich so sehr wünschte und wofür ich seit dreißig Jahren gearbeitet habe, nicht zu Ende bringen konnte, und außerdem, weil meine Bücher wenig geschätzt sind, ja – auch das sage ich euch – weil viele Menschen mich sogar für einen Narren halten." (Raimundus Lullus)
    Barcelona heute, 700 Jahre später. Hier steht, im Zentrum der Stadt, das historische Hauptgebäude der Universität. Darum herum enge Gassen, mit Handyshops, Musikbars, Fast-Food-Restaurants. Hier, ganz in der Nähe, hat im 13. Jahrhundert Ramon Llull gepredigt. In Deutschland ist der Denker als Raimundus Lullus bekannt.
    Innenhof der Universität Barcelona. Ganz in der Nähe hat Raimundus Lullus im 13. Jahrhundert gepredigt.
    Universität Barcelona (dpa / picture alliance / Robert B. Fishman)
    Gestorben vor 700 Jahren
    Der Laientheologe und Universalgelehrte wird 1232 auf Mallorca geboren. Anfang 1316 stirbt er, vermutlich während der Überfahrt von Tunis nach Mallorca. Er ist begraben in einem Seitenaltar der Kirche Sant Francesc Palma de Mallorca. Er hat ungefähr 265 Schriften hinterlassen. Sein Nachlass wird unter anderem hier, in der Universität von Barcelona verwaltet und erforscht, besonders die auf Katalanisch verfassten Schriften. Lullus war der erste, der in der Volkssprache geschrieben hat.
    Nun, im 700. Todesjahr, sollen seine Gedanken verbreitet und die Figur bekannter gemacht werden: den Laien mit einer frei zugänglichen Datenbank im Netz - und den Fachleuten mit internationalen Tagungen und Veröffentlichungen. Die katholische Kirche bereitet die Heiligsprechung des Religionsphilosophen vor. Das Bistum Mallorca arbeitet seit Jahren daran.
    Lullus prägt europäische Denker bis heute
    An der theologischen Fakultät von Freiburg arbeitet man seit 1957 an der Werkausgabe seiner auf Lateinisch verfassten Schriften. Bis heute beeinflusst Lullus Europas Ideengeschichte. Tausende Intellektuelle haben sich seit dem 14. Jahrhundert mit seinem umfangreichen Werk befasst. Raimundus Lullus hat Sprachwissenschaftler geprägt - wie Joan Santanach in Barcelona.
    "Ich habe mich Lullus über die Literatur genähert. Er ist ein Autor, der dich vereinnahmt, und zwar mehr, als ich das jemals gedacht hätte. Über ihn wird so viel publiziert! Wenn man auf dem Laufenden bleiben will, muss man sich eigentlich ausschließlich ihm widmen, das ist schon fast eine Droge! Sein Werk inspiriert mich. Die literarische Qualität ist beeindruckend. Ich bin wirklich froh, dass ich mich mit Lullus beschäftigen kann. Lullus gehört zu den produktivsten Autoren Europas. Das heißt, dass man es in der Forschung mit sehr vielen, sehr unterschiedlichen Leuten zu tun hat. Sie alle spiegeln die Facetten der Figur, ihre Vielfalt."
    Lullus hat die Informatik vorgedacht
    Raimundus Lullus hat Theologen und Priester auf Mallorca geprägt, wie Biel Ramis:
    "Raimundus Lullus beschäftigt sich mit allem und jedem. Aber er geht dabei immer von der radikalen Überzeugung aus, zu der ihn sein Bekehrungserlebnis geführt hat. Lullus hat die Informatik vorgedacht. In Ordnung. Lullus hat erstmals das Katalanische in wissenschaftlichen Texten benutzt, er, der Begründer des Katalanischen – auch in Ordnung. Aber all dies entspringt seiner Spiritualität. Wir dürfen den Heiligen nicht vom Autor trennen. Das Leben eines Heiligen ist immer eine Einheit."
    Oder auch Antoni Alzamora:
    "Raimundus Lullus, dieses Werk - es ist immens. Jeder wird bei ihm fündig, jede Erfahrung ist möglich, alle sehen in ihm etwas anderes: ein großer Schriftsteller, Doktor der Astronomie, der Physik, Chemie, alles Mögliche. Und alles, was in seinem Kopf vorging, hat er zur Erneuerung der Kirche benutzt."
    Raimundus Lullus hat Orientalisten und Philosophen geprägt - wie Hans Daiber und Alexander Fidora:
    Daiber: "Im Mittelalter gab es durchaus ein Echo auf seine "Ars Magna"; seine Theologie hat bei Nikolaus Cusanus, bei Giordano Bruno Echo gefunden, aber im 15. Jahrhundert auch bei einem Humanisten wie Giovanni Pico della Mirandola, in dessen Schrift über die Menschenwürde durchaus Parallelen zu Ramon Lull zu finden sind."
    Fidora: "Ja, ich würde sagen, das, was die einen abstößt, das zieht die anderen an. Schwer zu fassen insofern, als er eher ein Außenseiter war. Hegel beschreibt ihn einmal als den Exzentriker, der sich in allem herumwirft, und das ist abschätzig gemeint. Das teilen natürlich viele Philosophiehistoriker. Das zieht aber andererseits auch wieder andere Kreise, ein anderes Publikum an. All die, die denken dass die Schulphilosophie an ihre Grenzen gekommen ist, die Scholastik, und die neue Impulse suchen, die fühlten sich von ihm angezogen und fühlen sich auch weiterhin von ihm angezogen."
    Ein Würfel mit Binärcodes
    Raimundus Lullus Lehren über Sinn und Verstand prägen auch die moderne Informatik. (imago/Science Photo Library)
    Auch vom Volk verehrt
    Biel Ramis: "Sein Leben und sein Werk haben auf Mallorca im 16., 17. und 18. Jahrhundert eine große Wirkung entfaltet, sowohl unter Akademikern, denn Lullus hat hier die Universität gegründet, als auch beim Volk. Er wurde verehrt. Vor seinem Grabmal waren zum Beispiel Öllampen aufgehängt - eine davon tiefer als die anderen, damit sich die Leute dort Öl holen konnten. Die Kranken gingen hin, nahmen etwas nach Hause oder rieben sich direkt mit dem Öl ein. Und die Reliquie, Lullus Unterkiefer, wurde den Kranken nach Hause gebracht."
    Und Raimundus Lullus hat Historiker geprägt, wie Gaspar Valero:
    "Die Verehrung für ihn war auf Mallorca sehr tief verwurzelt; hatte geradezu patriotische Züge. Dieser Lullus verlieh uns in der Welt Bedeutung. Obwohl er bis jetzt nur selig gesprochen ist, galt er beim Volk als Heiliger. Das ist heute anders. Heute wird er geachtet, nicht mehr verehrt, würde ich sagen. Es gibt so viele Legenden über ihn. Wenn andere Menschen Heldengeschichten über mich verbreiten, dann werde ich zur Legende. So war das bei Lullus. Alle Mallorquiner wussten, wer er war. Denn sein Denken war so komplex, dass man sich im Winter am Kamin oder im Sommer auf der Straße nicht einfach so darüber unterhalten konnte. Deshalb redeten die Leute eben über sein Leben. Es wurde großzügig ausgeschmückt, es wurde wie ein Roman oder ein Film erzählt."
    Ein schwieriger Autor
    Das Werk und die Person ziehen Fachleute bis heute an. Unter Laien gilt Lullus als schwieriger Autor, dessen Gedanken kaum einer nachvollziehen kann. Dabei hat er auch für das Volk geschrieben: Erziehungs-Ratgeber, Tiergeschichten oder den Heldenroman "Blaquerna". Besonders seine Unabhängigkeit und Radikalität im Denken und Handeln faszinieren. Lullus will den Menschen seinen Gott nahe bringen. Nicht mit Waffen, wie so viele Kreuzritter seiner Zeit, sondern mit Worten. Lullus hinterlässt in seiner Autobiographie "Vita coëtanea" viele wertvolle Informationen über sein Leben und seine Zeit.
    Er wird als Sohn eines katalanischen Ritters auf Mallorca geboren. Er wächst in großem Wohlstand auf, widmet sich den schönen Dingen des Lebens, lebt am Hof von König Jakob dem Zweiten und wird dessen Berater. Er verfasst seine Lebensgeschichte 1311 in Paris, mit 79 Jahren, auf Lateinisch. Wenig später veröffentlicht der französische Arzt Thomas Le Myésier eine bebilderte Version. Die wertvolle Pergament-Handschrift liegt heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe. Sie heißt Breviculum. Die zwölf ganzseitigen Miniaturen sind mit feinem Strich und vielen Details gemalt. Zwischen den bildnerischen Darstellungen sind Lullus' wichtigste Gedanken und Lebensstationen aufgeschrieben:
    Die Bekehrung im Alter von 30 Jahren, die neunjährige Zeit des autodidaktischen Lesens und Lernens – ein muslimischer Sklave unterrichtet ihn in Arabisch und islamischer Philosophie und Theologie, er liest Bücher über Astronomie oder Medizin. Dann das, was er als Erleuchtung beschreibt - auf dem Berg Randa auf Mallorca. Auch Lullus' drei Lebensziele sind vermerkt. Er formuliert sie als Bitte an Maria, für ihn die Mutter Gottes:
    "Erwirke, dass das, was im christlichen Klerus fehlt, in die Welt kommen möge nach meinem Wunsch: dass aus der Milde deiner großen Weisheit eine Kunst erwachse, mit deren Hilfe den Ungläubigen die Wahrheit der Göttlichkeit deines Sohnes gezeigt werden kann." (Raimundus Lullus)
    Die Irrtümer derer, die er für Ungläubige hält, will Raimundus Lullus mit dem besten Buch der Welt widerlegen.
    "Zweitens erbitte ich, dass fromme Gelehrte gefunden werden, die in der Kunst bestens bewandert sind, welche ich unter der Führung seiner Gnade auszuarbeiten gedenke." (Raimundus Lullus)
    Er will Klöster gründen, in denen Missionare ausgebildet werden. Eines ist heute noch zu besichtigen: Das Kloster Miramar an Mallorcas Westküste.
    "Drittens, dass der Papst, die Herrscher, Könige, Fürsten und Barone in ihren Territorien dafür sorgen mögen, dass die besagten Gelehrten arabische und hebräische Sprachen erlernen, damit ihre Stimme in die ganze Welt hinausgetragen werde." (Raimundus Lullus)
    In dem illustrierten Büchlein, dem Breviculum, ist auch die bis heute diskutierte Grunddialektik seines wissenschaftlichen Denkens erfasst: Kann man sich Gott mit dem Verstand nähern?
    "Der Hauptgrund, weshalb diese Wissenschaft entwickelt wurde, besteht darin, dass Gott von seinem Volk tiefer erinnert, verstanden und geliebt werde; und dass die Irrtümer und Schismen und die falschen Meinungen, die auf dieser Welt vorherrschen, zerstört werden." (Raimundus Lullus)
    Als Phantast verlacht
    Lullus erfindet diese Wissenschaft tatsächlich. Sie ist sein Hauptwerk, die Ars Magna. Es ist die Zeit der Universitätsgründungen. Lullus lebt zeitweise in den neuen Wissenszentren, in Paris oder Montpellier. Doch dort wird der Autodidakt nicht ernst genommen. Seine Theorien passen nicht in die Systematik der Scholastiker. Führende Denker der Zeit sind die Dominikaner Albertus Magnus oder Thomas von Aquin. Doch Lullus fühlt sich den Franziskanern nahe, auch wenn er in keinen Orden eintritt. Mehrmals reist Lullus an die Sorbonne, um seine Theorie zu verteidigen und zu erklären. Dort verlacht man den Außenseiter als "Phantasten".
    Innenhof der Universität Barcelona. Ganz in der Nähe hat Raimundus Lullus im 13. Jahrhundert gepredigt.
    Führende Denker zu Raimundus Lullus Zeit waren Dominikaner, so wie Albertus Magnus. Heute erinnert eine Statue am Hauptgebäude der Universität zu Köln an ihn. (dpa/picture alliance/Horst Galuschka)
    Führende Denker zu Raimundus Lullus Zeit waren Dominikaner, so wie Albertus Magnus. Heute erinnert eine Statue am Hauptgebäude der Universität zu Köln an ihn.
    Die Ars Magna ist eine Sammlung philosophischer und theologischer Grundbegriffe, die als Symbole, dargestellt sind. Die Begriffe sind in Gruppen gefasst und auf konzentrische Kreise oder andere geometrische Formen notiert. Legt man diese übereinander, ergeben sich Begriffspaare, die Konzepte miteinander verknüpfen.
    "Güte, Größe, Dauer, Macht, Weisheit, Wille, Tugend, Wahrheit. Herrlichkeit, Vollkommenheit, Gerechtigkeit, Großzügigkeit, Einfachheit, Vornehmheit, Gnade, Herrschaft."
    "Glaube, Hoffnung, Liebe, Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Gier, Wollust, Geiz, Stolz, Faulheit, Neid, Wut."
    "Vorherbestimmung, freier Wille, Sein, Mangel, Vollkommenheit, Unvollkommenheit, Verdienst, Schuld, Vermutung, Beweis, unmittelbar, mittelbar, Wirklichkeit, Vernunft, Kraft, Objekt."
    Im Lauf seines Lebens überarbeitet er immer wieder, was er im Jahr 1271, mit 39 Jahren, erstmals erdacht und veröffentlicht hat. Sein zentrales Werk, die Ars Magna, versucht, den Erkenntnisprozess zu mechanisieren. Es ist ein abstraktes, kombinatorisches System, eine Denkmaschine, ein Vorläufer moderner Programmiersprachen – und steht im Konflikt zum Wissenschaftsbegriff der Scholastiker.
    Ohne Waffen - in Zeiten der Glaubenskriege
    Lullus selbst nimmt es zur Grundlage, um mit muslimischen Gelehrten und Religionsführern zu diskutieren. In Zeiten von Glaubenskriegen und Kreuzzügen setzt er nicht auf Waffen, sondern auf ethische Grundwerte. Das durchzieht sein gesamtes Werk.
    Im "Buch vom Heiden und den drei Weisen", verfasst um 1275, lässt Lullus einen Christen, einen Juden und einen Moslem sprechen. Sie vermitteln einem Schüler ihr Wissen. Lullus schreibt am Ende:
    "Dieses Buch stellt eine Lehre und Methode vor, getrübte Geister zu erhellen und schlafende Große aufzuwecken, sowie Fremde und Freunde im gegenseitigen Kennenlernen miteinander zu verbinden."
    Im "Breviculum" ist das Bild mittelalterlicher Kämpfer auf einem Wagen zu sehen, angeführt von Raimundus Lullus. Folgende Zeilen sind zu lesen:
    "Als Nachhut kommt das Heer des Herrn Raimundus Lullus aus Mallorca zu Hilfe, um den Turm der Falschheit und Unwissenheit zu zerstören."
    "Die drei Trompeter stehen für die drei Kräfte der vernunftbegabten Seele: Verstand, Wille, Gedächtnis."
    "Ihre Banner: Positive, einfache, wirkliche Prinzipien. Das Gute ist Sein, das Schlechte Nicht-Sein."
    "Ihre Lanzen: Güte, Größe, Dauer, Macht, Weisheit, Wille, Tugend, Wahrheit, Herrlichkeit."
    Der katholische Denker will den Austausch mit Juden und Muslimen
    Raimundus Lullus will den Religionsdialog erneuern und vertiefen. Ihm missfällt, dass Philosophen und Theologen sich bislang vor allem auf die Autorität jener Schriften stützen, die der eigenen Tradition entspringen: Also Bibel, Koran oder Talmud. Diese Methode erscheint Lullus erfolglos, denn die Denker verwickeln sich in endlose Diskussionen über die Interpretation ihrer Texte und die Deutung ihres Glaubens, ohne sich gegenseitig anzunähern.
    Lullus' Interesse an anderen Religionen ist auch biographisch begründet. Er wächst in einer bunten Gesellschaft auf. Drei Jahre vor seiner Geburt ist Mallorca noch muslimisch. Auch viele Juden leben hier. Lullus Vater gehörte zu den christlichen Rückeroberern Mallorcas. Er hat in den Jahren 1229 bis 1231 unter König Jakob dem Ersten gekämpft. Landesweit ist die Reconquista aber auch zu Lullus Zeiten noch nicht abgeschlossen – der Süden Spaniens gehört noch mehr als 200 Jahre lang zu Al-Andalus.
    Doch das Denken von Raimundus Lullus überzeugt weder Muslime noch Christen. Die kirchliche Inquisition setzt die Ars Magna nach Lullus' Tod auf den Index der verbotenen Bücher. Auf einer Reise nach Tunis soll er 1315 von einer aufgebrachten muslimischen Menge im heutigen Algerien gesteinigt worden sein. Ihm gelingt zwar die Flucht, aber Lullus stirbt ein Jahr später auf Mallorca, was die katholische Kirche heute als Märtyrertod wertet.
    Lullisten sehen in ihm bis heute ein Vorbild
    Ist Lullus gescheitert? War er ein "Narr", wie er selbst am Ende seines Lebens schreibt? Versuchte er das Unmögliche? Und warum beschäftigen sich "Lullisten" heute mit Lullus - 700 Jahre nach seinem Tod?
    Daiber: "Weil wir angesichts der zunehmenden Flüchtlingsströme, aber auch schon vorher angesichts der zahlreichen Muslime die in Europa leben, das Bedürfnis entstanden ist, sich mit der anderen Kultur auseinanderzusetzen. Da ist Ramon Llull ein Vorbild. In seiner Beschäftigung mit der islamischen Philosophie und Theologie und den Wissenschaften hat er das praktiziert, was heute eine Notwendigkeit, eine politische Notwendigkeit geworden ist."
    Fidora: "Natürlich war sein Anliegen - und das ist vielleicht das größte Problem für die Gegenwart - die Bekehrung zum Christentum. Es ging nicht darum, jeden in seiner Religion leben zu lassen. Die interessante Perspektive bei Lullus, und darin unterscheidet er sich zugleich von seinen Zeitgenossen, aber auch von unseren Zeitgenossen, die sich im interreligiösen Dialog bewegen: Lullus ging davon aus, dass dieses Projekt A ein rationales Projekt sein muss, das heißt also das auf den Rekurs, auf Heilige Schriften nahezu gänzlich verzichtet. Und dann, und das ist glaube ich ganz besonders wichtig, war er der Ansicht, dieses rationale Projekt muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Rationalität fordert Reziprozität. Und das macht Lullus auch, indem er sagt, ich bitte die Weisen des Ortes hier auf den Marktplatz zu kommen und mit mir zu diskutieren und wenn sie mich mit den Mitteln der Rationalität, nämlich seiner Ars, überzeugen können vom Islam, dann will ich gerne übertreten. Man kann daran zweifeln, ob das nur eine rhetorische Bewegung ist oder ob er das wirklich gemacht hätte, aber ich denke es ist zumindest mutig zu sagen, ich gehe in ein Gespräch, in dem ich mich so weit zurücknehme, dass ich rationale Argumente auch dann akzeptiere, wenn sie gegen meine allerinnersten Überzeugungen gehen und somit bereit bin, selbst auch in eine Revision meines Selbstverständnisses einzutreten."