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Der Mythos aus dem Eis

Seit Dienstag ist in Bozen eine neue Ausstellung zu sehen, die einen der berühmtesten Toten der Welt zum Inhalt hat: Ötzi. Die Mumie gehört zu den am besten untersuchten der Welt und wurde zu einem zeitlich fernen, aber emotional nahen Menschen, ein Mythos.

Von Christian Forberg | 03.03.2011
    Wo ist er denn, der neue Ötzi? Betritt der Besucher das Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen, stößt er auf ein Indiz, dass er hier richtig ist, aber nicht auf den Mann aus dem Eis selbst. Die englische Künstlerin Marilène Oliver verlegte seine lebensgroße Kontur in Acryl: Die Daten aus dem 3D-Scan der Mumie, die jeder im Internet betrachten kann, übertrug sie in 50 000 feinste Bohrlöcher. Ausgeleuchtet erscheint Ötzi wieder im Eis gefangen, verborgen wie vor jenem 19. September 1991, als er zwischen schmelzendem Eis und Felsbrocken in über 3000 Meter Höhe gefunden wurde. Womit das Grundprinzip des Ausstellungskonzeptes deutlich wird, das seit der Eröffnung des Museums 1998 gelte, sagt Angelika Fleckinger, die Direktorin des Museums:

    "Wenn Sie zu uns ins Haus kommen, wird Ihnen auffallen, dass wir nicht auf einen Höhepunkt hinleiten, dass es möglich ist, den Mann aus dem Eis nicht zu sehen, ohne andere Inhalte im Ausstellungsbereich zu verpassen. Es ist schlussendlich so, dass jeder Besucher im Haus selbst und für die eigene Familie noch entscheiden kann, ob sie sich die Mumie ansehen möchten oder auch nicht."

    Das war der Konsens in der leidenschaftlich geführten Debatte, ob man die Mumie öffentlich präsentieren dürfe oder nicht. Und noch eine Frage galt es überzeugend zu beantworten:

    "Wie können wir den Mann aus dem Eis der Öffentlichkeit zeigen, so dass er keinen Schaden nimmt? Deshalb sind im Vorlauf umfangreiche Experimente gelaufen, wo wir mit verschiedenen Versuchsmumien gearbeitet haben. Personen, die ihrem Körper der Wissenschaft vermacht haben, wurden hier in die Kühlzelle gelegt, um an ihnen verschiedene Konservierungsmöglichkeiten zu testen, um jedes Risiko für den Originalfund ausschließen zu können."

    In Innsbruck, seinem ersten Untersuchungsort, lag die Mumie statt in einer Kühlzelle in zerbrochenem Eis verpackt, nur zugänglich für Wissenschaftler und hin und wieder einsehbar für Journalisten - das öffentliche Interesse sprengte alle Vorstellungen. Es war die Phase der intensivsten Auseinandersetzung mit dem unverhofften Sensationsfund.
    An diesem immensen medialen Interesse setzt auch die Ausstellung "Ötzi hoch 20" an, mit der die ansonsten umfänglich präsentierte Archäologie Südtirols für ein Jahr ins Depot gewandert ist. Nun wird sich ausschließlich dem Gletschermann gewidmet. Ausstellungskurator ist der Schweizer Beat Gugger:

    "Was wir verändert haben ist, dass wir auf jedem der Stockwerke andere Aspekte dieser Geschichte rund um Ötzi erzählt haben. Wir haben auf der einen Seite die neuesten Forschungsergebnisse von Ötzi erzählt im ersten Geschoss. Es ist wirklich erstaunlich, wie die Wissenschaft diese Leiche zum Sprechen bringt. Der ist 5000 Jahre tot, und die Wissenschaft hat ihre Methode, um dem irgendwelche Geheimnisse zu entlocken. Das macht das Museum und die ganze Geschichte sehr viel anders, als ich mir das zum Anfang überhaupt überlegt habe: Plötzlich sind nicht nur die Gegenstände da, sondern plötzlich ist auch noch der Mensch da, der uns noch Sachen erzählt. - Aber in den anderen Geschossen ist es die Geschichte: Was hat Ötzi mit uns gemacht und was haben wir mit ihm gemacht? "

    Der Besucher wird zunächst zwischen Felsen aus Papier hindurchgeschickt, vorbei an Interviews und Zeitungsausrissen, der Einordnung in die Weltgeschichte, den vielen Namen und der Entstehung des einen: Ötzi. Mehr als 5000 Jahre alt ist er; wir kennen ihn seit zwei Jahrzehnten: Von Beginn des zufälligen Auffindens und - im archäologischen Sinne unsachgemäßen - Bergens der Leiche waren Kameras dabei.*
    Aber es war nicht irgendeine Leiche. Es war die älteste, am besten erhaltene Mumie der Welt. Im ersten Moment, ohne all die inzwischen gewonnenen Erkenntnisse, hätten ihn viele als Zeitreisenden wahrgenommen, sagt Beat Gugger:

    "Er ist ein Mensch wie wir, hat eine große Zeit übersprungen und ist nun da - da beginnt man zu überlegen: Was war mit dem? Wie ist er hierher gekommen? Vielleicht hat das was mit einem metaphysischen Gruseln zu tun..."

    ...was zahlreiche Briefe wiedergeben: Ötzi, das sei ein Gesandter der Babylonier; oder der vermisste Vater, den man endlich in Zürich bestatten wolle. Nein, ist sich ein anderer sicher, es ist der im Zweiten Weltkrieg verschollene Flieger und Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry! Der Beweis: Auf dem Rücken der Mumie befänden sich vier Striche, Tätowierungen. Vier Striche - die galten doch für einen Major, und war das nicht der Vermisste?!? Erst recht das Datum seines Auffindens: 19.9.1991. Eine gespiegelte, eine bedeutungsschwangere Zahl, mutmaßen Zahlenmystiker. Des weiteren: Lastet nicht ein Fluch auf der Mumie? Finder Simon - in den Bergen verunglückt. Der Erstuntersucher Spindler - gestorben. Und mehr noch:

    "Da gibt's eine Geschichte - Frauen, die sich anbieten die Spermien von Ötzi... - also das Ötzi-Kind auszutragen - da war für mich die Frage: Wollen wir das zeigen oder nicht? Doch-doch! Das zeigen wir!"

    Im Stockwerk darunter werden jungen Leuten die Lebensumstände am Ende der Steinzeit erläutert, wird der biblische Konflikt zwischen Kain und Abel zur Kurzfassung des Gesellschaftswandels: Aus Gemeinbesitz wird Privatbesitz, aus Nomaden Ackerbauern...

    "...und wenn dann der Kollege mit seinen Ziegen durchwandert, dann gibt es Zoff."

    Gleich nebenan ist ein Familientreffen von fünf lebensgroßen Ötzi-Puppen zu sehen, die in Museen verschiedener Länder standen und die Brigitte Niedermair großformatig fotografiert hat. Das Erstaunlichste war für sie:

    "Jeder Mann steht für eine Nation. Der ist ein Norweger. Er ist der einzige mit blonden Haaren, und in Norwegen haben die Männer blonde Haare. Also es geht immer wieder um das Bild des eigenen Bildes. Ich glaube jedes Land hat seinen eigenen Ötzi... irgendwie, es ist immer eine gegenseitige Beeinflussung. "

    Der deutsche Ötzi schaut sich ängstlich nach Verfolgern um, der österreichische müht sich ums Feuer und sieht Reinhold Messner ähnlich, und der französische hat den Blick von Gerard Depardieu, irgendwie. Aber alles seien nur starre Puppen, die in Felle gesteckt wurden, meint Brigitte Niedermair. Auch jener, der bisher für das Bozener Museum stand.

    "Die haben nichts Hautähnliches. Sie schauen zwar gut aus (ich habe auch daran viel gearbeitet), aber trotzdem sind sie nicht so präzise. Das Gesicht dort ist ja fantastisch, wie ein reales Gesicht! Man könnte fast glauben, der ist lebendig! "

    Der - das ist der neue Ötzi. Ein drahtiges Männchen mit nacktem Oberkörper und ungemein vielen Falten im Gesicht. Dem Betrachter wendet er sich über die Schulter zu: "Was willst du?" scheinen die leicht zusammengekniffenen Augen zu fragen. Statt der ausstaffierten Puppe als unvollkommene Rückverwandlung der Mumie in etwas anscheinend Lebendiges setzte das Museum auf etwas auf den ersten Blick Lebendiges, und das ist gelungen. Der neue Ötzi ist das Werk der niederländischen Brüder Kennis. Ausstellungsmacher und Künstler sind vollends begeistert, Wissenschaftler nicht ganz: Was nützen die exaktesten, im dreidimensionalen Scan erzeugten Daten, wenn es dennoch Abweichungen gibt? Vor allem die Hände seien viel zu groß.

    "Das sind die Hände eines Arbeiters, Bergarbeiters, eines Bauern. Wir haben ja immer ausgehend von der grazilen Struktur der Hände auf die Person geschlossen: Die Haut hat keine Abschürfungen, die Haut hat keine Hornhaut, dann hat der nicht gearbeitet. Dann muss der in einer höheren sozialen Schicht angesiedelt gewesen sein. Aber gut, okay. Künstlerische Interpretationsfreiheit, nicht? "

    Der Pathologe Eduard Egarter-Vigl ist der Konservator von Ötzi, sein "Leibarzt", wie er sich selbst bezeichnet. Obwohl der Zustand der Mumie automatisch überwacht wird, überzeugt er sich einmal in der Woche persönlich, ob die Temperatur von rund 6 Grad minus, das Gewicht von 15 Kilogramm und die Hautfeuchtigkeit konstant sind. Ohne seine Zustimmung erfolgen keine Eingriffe, wird kein Hautgewebe oder - wie jetzt - Mageninhalt an Experten in aller Welt vergeben. Der wichtigsten Fragen dabei lauten:

    "Ist diese Untersuchung mit der Integrität der Mumie vereinbar oder nicht? Schaden wir der Mumie in Hinblick auf künftige Wissenschaftsgenerationen, ob diese geringere Möglichkeiten der Forschung hätten durch diese Eingriffe? "

    Da man sich von vornherein darauf geeinigt hatte, den Toten als eines der herausragendsten Forschungsobjekte unserer Zeit zu nutzen, erübrigen sich wiederholte prinzipielle ethische Erwägungen, ob man zum Beispiel Magen- und Darminhalt untersuchen darf oder nicht. Genannte "Integrität" bezieht sich also auf die bestmögliche Forschungsmethode und schonendste Behandlung, ist also Wissenschaftsethik. Deren Einhaltung auch von allen anderen beteiligten Forschern erwartet wird. Wie wichtig das ist, wurde erst jüngst wieder deutlich: Die Aussage eines schwedischen Wissenschaftlers wurde in einer Zeitung so wiedergegeben, als habe man extra ein zehn Zentimeter großes Loch in Ötzis Bauch geschnitten. Ein Aufschrei folgte: Verstoßen die Bozen gegen ihre eigenen Prinzipien? Grundfalsch, sagt Albert Zink, der Leiter des Institutes für Mumien und den Iceman an der Bozener Akademie EURAC. Er koordiniert die wissenschaftlichen Arbeiten und ist froh, dass der Fauxpas eine unrühmliche Ausnahme ist.

    "Weil - wir haben doch sehr gute Erfahrungen inzwischen gemacht. Weil wir sehr sorgfältig auswählen und darauf bestehen, dass man zuerst die wissenschaftliche Arbeit macht und dann gemeinsam die mediale Arbeit, die natürlich auch wichtig ist. Die Leute wollen informiert werden, das Interesse ist sehr hoch. Aber wir warten immer ab, bevor wir an die Medien gehen: Zuerst muss die wissenschaftliche Arbeit erledigt sein, müssen die Sachen auch publiziert sein, dass wir nicht Sachen verbreiten, die sich später als falsch oder ungenau herausstellen. "

    Das sieht aber nicht jeder Wissenschaftler so.

    "Ein gutes Beispiel ist die Theorie, die vor kurzem veröffentlicht wurde, dass der Ötzi dort bestattet worden ist in den Bergen. Dass er bereits vorher im Tal gestorben ist, dass er dort mumifiziert wurde und dann in die Berge transportiert worden ist - das kam von römischen Archäologen. Wenn man sich die Mumie betrachtet, ist das schlichtweg unmöglich."

    Die naturwissenschaftlichen Befunde seien zu eindeutig, sagt Albert Zink. Er räumt aber ein, dass die Zusammenarbeit des 2007 gegründeten Mumien-Institutes mit Kollegen außerhalb der Human- und Naturwissenschaften noch nicht optimal sei:


    "Da ist sicherlich Verbesserungspotenzial vorhanden, denn wir müssen gerade mit der Archäologie einen intensiveren Austausch suchen. Auf der anderen Seite haben wir aber immer wieder das Phänomen, dass Leute wissen, wenn sie eine Arbeit über Ötzi machen, dass man sehr viel Popularität erreichen kann. Und ich denke, das war auch das Motiv der römischen Archäologen, weil - die waren noch nie auf der Fundstelle. Die wissen gar nicht, wie die Gegebenheiten sind. Und eine archäologische Arbeit, ohne seinen Fundort wirklich gesehen zu haben, ist eigentlich unzulässig."

    Um nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung zu bleiben, gehen Albert Zink und Kollegen auch unkonventionell scheinende Wege. So wurden Ötzis Tätowierungen Ende vergangenen Jahres auf der Tattoo-Messe in Florenz gezeigt und im wissenschaftlichen Rahmenprogramm besprochen. Ein Anlass für die Teilnahme war das Auftauchen eines Ötzi-Tattoos auf einem Arm des Schauspielers Brad Pitt. Zwei Weltstars fanden zusammen.

    Mit dem Forschen an Ötzi ist kein Ende, und mit dem Präsentieren auch nicht. Der neue, so lebendig wirkende Ötzi ist nur ein vorläufiger Haltepunkt, kein Schlusspunkt. Man habe sich dank der wissenschaftlichen Grundlage der Rekonstruktion einen gehörigen Vorsprung gegenüber anderen Museen verschafft, die auch mit dem Mann aus dem Alpen-Eis Besucher anlocken wollen.

    Doch wie weit die Dinge treiben? Das ganze Potenzial, das in der Marke Ötzi stecke, sei bei weitem noch nicht ausgeschöpft, sagt Christof Engl, der Direktor der Südtiroler Marketinggesellschaft. Sein Statement ist im Rahmen der Ausstellung in einer Endlosschleife zu hören:

    "Jede Region auf der Welt hätte für Ötzi ein Mausoleum gebaut, eine große Erfahrungswelt, weil: Ötzi einfach in einem Museum einstöckig unterzubringen, ist die Sensation weit unter Wert zu verkaufen. "

    Ja, das sei als Provokation, als Anregung zur Diskussion zu verstehen, sagt die Museumsdirektorin: Wolle man Ötzi wirklich ein endsteinzeitliches Taj Mahal auf der grünen Wiese bauen, von der lebendigen Stadt Bozen abkoppeln, nur um mehr als 230 000 Besucher pro Jahr zu erreichen? Nein, lautet ihre Antwort: Das Museum bleibe in der Stadt, aber es wird umziehen in den gegenüberliegenden, weit größeren Bau des noch bestehenden Stadtmuseums. 20 Schritte, und der neue Ötzi hätte auch ein neues zu Hause.