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Der Mythos der "Judenkommune"

Der Pole Paweł Śpiewak schreibt und spricht über Antitotalitarismus, das Erbe des Kommunismus, Erinnerungskultur und soziale Gerechtigkeit. In seinem Buch mit dem Titel "Żydokomuna" geht es um die kritische Betrachtung einer zum Mythos geronnenen antisemitischen Formel, die den Juden die Verbrechen des Kommunismus anlastet.

Von Martin Sander |
    "Żydokomuna", auf Deutsch "Judenkommune", hat Paweł Śpiewak sein neuestes Buch genannt. Es geht um das Stereotyp vom Kommunismus als jüdischer Erfindung. Śpiewak beschreibt, wie dieses Stereotyp fatale Folgen für die Juden in ganz Europa nach sich zog und den Boden für den Holocaust bereitete. Kaum ein anderes historisches Thema bewegt die Gemüter in Polen mehr als die polnisch-jüdischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, ob Polen im Zweiten Weltkrieg ausschließlich Opfer waren oder sich am Holocaust beteiligten. Die Debatte lösten in den vergangenen Jahren einige provokante Bücher des polnisch-amerikanischen Soziologen Jan Tomasz Gross aus. Mit "Żydokomuna" meldet sich nun Śpiewak zu Wort. In seinem Buch schildert er zunächst, wie die Ideen von der Gleichheit aller Menschen seit dem frühen 20. Jahrhundert Juden anzogen, vor allem in Russland, zu dem damals die Ukraine und große Teile Polens gehörten. Wer als Jude Kommunist geworden war, stand fortan auch seinen eigenen religiösen Wurzeln und kulturellen Traditionen feindlich gegenüber. Die Gegner der Oktoberrevolution hat das nicht daran gehindert, den Kommunismus als typisch jüdisches Phänomen anzuprangern. Verstärkt wurde diese Propaganda von einer seit Beginn des 20. Jahrhunderts allseits viel gelesenen antisemitischen Hetzschrift – den von unbekannten Autoren erdichteten "Protokollen der Weisen von Zion", angeblich authentischen Dokumenten jüdischer Weltverschwörer. In den Bürgerkriegen, die unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs in Russland, der Ukraine und in den umkämpften Grenzgebieten des nun als Staat wieder erstandenen Polen tobten, mündete der Judenhass in Pogrome mit mehreren Hunderttausend Opfern. Śpiewak sieht hier Vorboten nationalsozialistischer Vernichtungspolitik.

    "Diese Pogrome waren in eine Ideologie des Völkermords eingebettet, die man aus den "Protokollen der Weisen von Zion" bezog und im Zusammenhang damit aus dem Mythos der "Judenkommune": Wenn wir Juden töten, töten wir Kommunisten. Das waren die ersten Lehrer Hitlers."

    Was viele Menschen in Polen bis heute nicht wahrhaben wollen oder sogar rechtfertigen: In der polnischen Zwischenkriegsrepublik wurden die drei Millionen Staatsbürger jüdischen Glaubens durch den Staat diskriminiert. Śpiewak zeigt, dass sich damals in der insgesamt fast einflusslosen Kommunistischen Partei prozentual viele Juden engagierten, allerdings zum Beispiel 1927 nur sieben Prozent aller Juden für die KP votierte. Dessen ungeachtet gewann der Mythos von der "Judenkommune" an Boden und lebte weiter auf, als nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs etliche Juden die Sowjetherrschaft der Naziokkupation vorzogen. Śpiewak benennt mit detaillierten Zahlen den relativ hohen Anteil von Funktionären jüdischer Herkunft im Partei- und Sicherheitsapparat in den 1950er Jahren. Zugleich schienen damals die Überlebenden des Holocaust endlich – durch Assimilation – ein Teil der polnischen Gesellschaft geworden zu sein. Doch dann trieb ausgerechnet die Kommunistische Partei unter Władysław Gomułka mit einer antisemitischen Kampagne Zehntausende von ihnen aus dem Land.

    "Die Veränderung trat 1968 ein, als der alte Mythos von der 'Judenkommune' die merkwürdige Gestalt eines 'Judenstalinismus' annahm. Die These war, die jüdischen Genossen in Polen hätten eine stalinistische Brüderschaft gebildet und deren Mentalität habe dazu geführt, dass der polnische Sozialismus der Stalinzeit so brutal und düster war."

    Śpiewak bestreitet den zahlenmäßig beträchtlichen Anteil von Juden am polnischen Nachkriegskommunismus nicht. Er kritisiert ausdrücklich, dass kommunistische Parteifunktionäre, die im Stalinismus Verbrechen verantworteten, später ein Schuldbekenntnis verweigerten – zum Teil mit dem Hinweis auf ihre jüdische Opferrolle. Mit dieser Kritik und den detaillierten Zahlenangaben stößt Śpiewak in Polen auf ein geteiltes Echo. Einige Rezensenten betonen die aufklärerische Leistung von Śpiewak. Sie halten sein Buch für notwendig, weil zum Beispiel der Nationalkonservative Jarosław Kaczyński – ehemaliger Ministerpräsident und heute noch Vorsitzender der Partei Recht und Gerechtigkeit, kurz PIS – auch in der aktuellen Politik mit dem Mythos von der "Żydokomuna" spiele. Andere spenden unerwünschten Beifall. Letztlich gebe er doch zu, dass etwas dran sei an der "Judenkommune", findet der prominente rechte Kolumnist Rafał Ziemkiewicz: Śpiewak will sich nicht vereinnahmen lassen.

    "Wenn das mein Verbündeter ist, dann gehört er zur schlimmsten Sorte von Verbündeten, denn er kleidet seinen Beitrag in ein klassisches antisemitisches Geschwätz."

    Mit Sicherheit wird die Diskussion über Śpiewaks Buch in Polen weitergehen. Übersetzungen in andere Sprachen sind aber derzeit nicht geplant.

    Pawel Spiewak: Żydokomuna. Interpretacje historyczne
    Verlag Czerwone i Czarne
    269 Seiten, 33,90 Złoty (ca. 10 Euro)
    ISBN: 978-8-377-00029-8