Ein spannender Krimi; ein krachender Actionfilm; die süßlichen Liebesgeschichten von Rosamunde Pilcher – letztlich handeln sie alle von Mythen. Denn im Kern erzählen sie vom Grundsätzlichen, vom Fundamentalen, welches das menschliche Leben ausmacht. Ein Mythos – das ist einerseits eine Geschichte über einen Menschen, der zum Helden wird. Und andererseits die Blaupause, an der entlang seit Jahrhunderten immer wieder neue Inhalte erzählt werden. In der Literatu, auf dem Theater, im Film. Der Mainzer Literaturhistoriker Matthias Bauer, der als bekennender Freund der Mythen zu der dreitägigen Tagung über "Mythopoetik, Film und Roman" eingeladen hatte, über den Mythos als einfaches Konstruktionsprinzip für eine gute Story:
"1948 ist ein Buch erschienen von Joseph Campbell, das heißt ‚Der Heros in tausend Gestalten’. Dieser Joseph Campbell hat durch ein Verfahren, das man wissenschaftlich auch kritisieren kann, nahezu alle Mythen der Welt zu einem Modell zusammengezogen. Man kann sich das ganz einfach klar machen anhand einer Uhr: Von zwölf Uhr bis drei Uhr gerät die Welt des Helden aus den Fugen. Zwischen drei und sechs Uhr kämpft der Held mit sich, ob er die Mission annehmen soll, die Welt wieder einzurichten. Dann entscheidet er sich natürlich dafür. Es läuft von sechs bis neun Uhr die zentrale Auseinandersetzung mit den Gegnern – manchmal auch mit dem eigenen Schatten – und dann kehrt, zumindest, wenn es die positive Variante ist, der Held als Heilsbringer zurück und bringt das Lebenselixier mit."
Bauer: "Wir wollten nun untersuchen, wie sich Texte, Romane und Filme einerseits im zeitgenössischen Kontext bewegen und andererseits gegenüber dem Mythos verhalten. Also Mythopoetik heißt einfach: Verfahren unter Verwendung von Mythengeschichten, Heldensagen, Götterlegenden und anderes, um neue Geschichten zu erzählen."
Schreibtechnisch gesehen lebt ganz Hollywood von der Mythopoetik, auch wenn die Filmindustrie die Mythen, mit denen sie arbeitet, ihrer allumfassenden Bedeutsamkeit beraubt, sie auf den Boden der Wirklichkeit zurückholt. Matthias Bauer über das mythische Konzept der modernen Drehbuchautoren:
"Sie benutzen das Konzept, um eine Handlung voranzutreiben, um einen Spannungsbogen zu erzeugen, unterlaufen aber gewissermaßen diese Entpolitisierungsfunktion oder gehen auch ganz zynisch darauf ein. Es gibt auch Filme, die sich das ganz einfach zu Nutze machen und Verschwörungstheorien einbauen als Platzhalter für Erklärungen, weil sie ihren Stoff bis zu einem Punkt entwickelt haben, an dem sie das nicht mehr rational auflösen können. Und dann rekuriert man auf archetypische Gestalten, auf metaphysische Kräfte, auf Götter oder was auch immer, um der Geschichte so eine Pseudologik zu verleihen."
Mythopoetik – ein angemessenes Thema für das Jahr der Geisteswissenschaften und eines, mit dem sich die Germanisten der Mainzer Universität vielleicht auch ein bisschen gegen die Bologna-Reform der Hochschulen, gegen deren Transformation zu zweckgerichteten Berufsbildungsstätten stemmen. Wer sich auf die Tagung über Mythopoetik einließ, der tat das aus Wertschätzung des Wissens um seiner selbst Willen und begegnete dabei der Mythopoetik des Labyrinths im Film, der Mythopoetik der Verschwörung und der Produktivität des Mythos selber:
"Der Mythos wird produktiv, weil er Anschlussmöglichkeiten eröffnet. Die kann man dann kritisch, die kann man kreativ nutzen, aber das ist seine eigentliche Kraft: Er stellt etwas zur Verfügung, das uns auf Gedanken bringt und indem es uns auf Gedanken bringt, über die Bilder auch Verständnisrahmen nahe legt. Die kann man wieder natürlich kritisieren, aber das ist sozusagen das dialektische Spiel zwischen dem kreativen Umgang, der Abwandlung und dann der Kritik, ob diese Bilder nicht irreführend sind oder nicht falsche Lesarten nahe legen. Wenn man das aber korrigieren will, dann muss man entweder eine andere, bessere Geschichte erzählen, oder man muss eben in einen übergeordneten Diskurs einsteigen. Das kann man natürlich auch tun."
Das Grundproblem des Mythos ist sein Missbrauch: Mythen werden missbraucht, um Macht zu erringen oder zu erhalten, beispielsweise wenn das offizielle Russland in kleinen Schritten den Diktator Stalin mythifiziert, der schließlich auch viel Gutes für sein Land getan und immerhin Hitler besiegt habe.
Bauer: "Schon der Pergamonaltar, der in Berlin ausgestellt ist, feiert im Grunde genommen eine Tyrannenherrschaft und legitimiert die durch einen Sieg über äußere Feinde. Das haben wir immer wieder. Oder wir sehen, dass Mythen erzeugt werden, um das Publikum von problematischen Dingen abzulenken. Das geht bis dahin, dass man auch Verschwörungstheorien instrumentalisieren kann, um vom Wesentlichen abzulenken. Wir alle brauchen nur an die Merkwürdigkeiten von Barschels Tod zu denken. Wie sich hier also dann Legenden bilden, wie Mutmaßungen angestellt werden, wie die Öffentlichkeit beschäftigt ist. Aber vielleicht wird sie dadurch auch abgelenkt von den eigentlich entscheidenden Fragen, die jetzt gar nicht darin bestehen, ob das jetzt ein Freitod war oder kein Freitod, sondern was möglicherweise dahinter steckt."
Mythen brauchen Mysterien, erst das Geheimnis hinter der Geschichte, die sie erzählen, erweckt sie zum Leben.
Bauer: "Ich glaube, dass Mythen insbesondere sich um Kerne von Rätseln lagern, also wenn etwas unklar ist, wenn etwas ungewiss ist. Und deswegen beziehen sich auch die meisten Mythen auf zwei Stellen im Leben, wo unser Wissen endet – die Geburt und den Tod."
Denn Nicht-Wissen macht unsicher, die Leerstellen wollen gefüllt werden. Noch einmal Matthias Bauer:
"Da es in vielen Situationen des Lebens keine andere Orientierung gibt, als dass man sich an Geschichten orientiert, tritt der Mythos hier eben ein als so eine Art 'poetische Karte'. Es gibt immer zwei Gesichtspunkte: Der eine, den die Karte von oben erzeugt, da kann man jeden Ort im Labyrinth genau sehen und mit Koordinaten versehen – aber das entspricht ja nicht unserer Lebenserfahrung. Diese Lebenserfahrung entspricht ja eigentlich eher der der Wanderung: Wir befinden uns irgendwo, haben eigentlich gar nicht mehr im Blick wo genau. Und nun werden wir unsicher: Wie soll es weitergehen, was machen wir an der nächsten Weggabelung? Gehen wir nach links oder nach rechts? Gehen wir nach vorne oder kehren wir um? Springen wir über den eigenen Schatten oder tun wir das nicht? Und da springen natürlich Mythen dann auch ein, weil sie sozusagen modellhafte Möglichkeiten veranschaulichen."
"Stanislaw Lem hat das mal sehr schön gesagt: Der Mensch ist offenbar ein Wesen, das sehr schwer mit Kontingenz, mit Unsicherheit zurecht kommt. Und deswegen erfindet er sich Geschichten, die zumindest auf einer Ebene der Imagination Trost verschaffen, aber auch eine Art Pseudosicherheit, wenn man so will."
"1948 ist ein Buch erschienen von Joseph Campbell, das heißt ‚Der Heros in tausend Gestalten’. Dieser Joseph Campbell hat durch ein Verfahren, das man wissenschaftlich auch kritisieren kann, nahezu alle Mythen der Welt zu einem Modell zusammengezogen. Man kann sich das ganz einfach klar machen anhand einer Uhr: Von zwölf Uhr bis drei Uhr gerät die Welt des Helden aus den Fugen. Zwischen drei und sechs Uhr kämpft der Held mit sich, ob er die Mission annehmen soll, die Welt wieder einzurichten. Dann entscheidet er sich natürlich dafür. Es läuft von sechs bis neun Uhr die zentrale Auseinandersetzung mit den Gegnern – manchmal auch mit dem eigenen Schatten – und dann kehrt, zumindest, wenn es die positive Variante ist, der Held als Heilsbringer zurück und bringt das Lebenselixier mit."
Bauer: "Wir wollten nun untersuchen, wie sich Texte, Romane und Filme einerseits im zeitgenössischen Kontext bewegen und andererseits gegenüber dem Mythos verhalten. Also Mythopoetik heißt einfach: Verfahren unter Verwendung von Mythengeschichten, Heldensagen, Götterlegenden und anderes, um neue Geschichten zu erzählen."
Schreibtechnisch gesehen lebt ganz Hollywood von der Mythopoetik, auch wenn die Filmindustrie die Mythen, mit denen sie arbeitet, ihrer allumfassenden Bedeutsamkeit beraubt, sie auf den Boden der Wirklichkeit zurückholt. Matthias Bauer über das mythische Konzept der modernen Drehbuchautoren:
"Sie benutzen das Konzept, um eine Handlung voranzutreiben, um einen Spannungsbogen zu erzeugen, unterlaufen aber gewissermaßen diese Entpolitisierungsfunktion oder gehen auch ganz zynisch darauf ein. Es gibt auch Filme, die sich das ganz einfach zu Nutze machen und Verschwörungstheorien einbauen als Platzhalter für Erklärungen, weil sie ihren Stoff bis zu einem Punkt entwickelt haben, an dem sie das nicht mehr rational auflösen können. Und dann rekuriert man auf archetypische Gestalten, auf metaphysische Kräfte, auf Götter oder was auch immer, um der Geschichte so eine Pseudologik zu verleihen."
Mythopoetik – ein angemessenes Thema für das Jahr der Geisteswissenschaften und eines, mit dem sich die Germanisten der Mainzer Universität vielleicht auch ein bisschen gegen die Bologna-Reform der Hochschulen, gegen deren Transformation zu zweckgerichteten Berufsbildungsstätten stemmen. Wer sich auf die Tagung über Mythopoetik einließ, der tat das aus Wertschätzung des Wissens um seiner selbst Willen und begegnete dabei der Mythopoetik des Labyrinths im Film, der Mythopoetik der Verschwörung und der Produktivität des Mythos selber:
"Der Mythos wird produktiv, weil er Anschlussmöglichkeiten eröffnet. Die kann man dann kritisch, die kann man kreativ nutzen, aber das ist seine eigentliche Kraft: Er stellt etwas zur Verfügung, das uns auf Gedanken bringt und indem es uns auf Gedanken bringt, über die Bilder auch Verständnisrahmen nahe legt. Die kann man wieder natürlich kritisieren, aber das ist sozusagen das dialektische Spiel zwischen dem kreativen Umgang, der Abwandlung und dann der Kritik, ob diese Bilder nicht irreführend sind oder nicht falsche Lesarten nahe legen. Wenn man das aber korrigieren will, dann muss man entweder eine andere, bessere Geschichte erzählen, oder man muss eben in einen übergeordneten Diskurs einsteigen. Das kann man natürlich auch tun."
Das Grundproblem des Mythos ist sein Missbrauch: Mythen werden missbraucht, um Macht zu erringen oder zu erhalten, beispielsweise wenn das offizielle Russland in kleinen Schritten den Diktator Stalin mythifiziert, der schließlich auch viel Gutes für sein Land getan und immerhin Hitler besiegt habe.
Bauer: "Schon der Pergamonaltar, der in Berlin ausgestellt ist, feiert im Grunde genommen eine Tyrannenherrschaft und legitimiert die durch einen Sieg über äußere Feinde. Das haben wir immer wieder. Oder wir sehen, dass Mythen erzeugt werden, um das Publikum von problematischen Dingen abzulenken. Das geht bis dahin, dass man auch Verschwörungstheorien instrumentalisieren kann, um vom Wesentlichen abzulenken. Wir alle brauchen nur an die Merkwürdigkeiten von Barschels Tod zu denken. Wie sich hier also dann Legenden bilden, wie Mutmaßungen angestellt werden, wie die Öffentlichkeit beschäftigt ist. Aber vielleicht wird sie dadurch auch abgelenkt von den eigentlich entscheidenden Fragen, die jetzt gar nicht darin bestehen, ob das jetzt ein Freitod war oder kein Freitod, sondern was möglicherweise dahinter steckt."
Mythen brauchen Mysterien, erst das Geheimnis hinter der Geschichte, die sie erzählen, erweckt sie zum Leben.
Bauer: "Ich glaube, dass Mythen insbesondere sich um Kerne von Rätseln lagern, also wenn etwas unklar ist, wenn etwas ungewiss ist. Und deswegen beziehen sich auch die meisten Mythen auf zwei Stellen im Leben, wo unser Wissen endet – die Geburt und den Tod."
Denn Nicht-Wissen macht unsicher, die Leerstellen wollen gefüllt werden. Noch einmal Matthias Bauer:
"Da es in vielen Situationen des Lebens keine andere Orientierung gibt, als dass man sich an Geschichten orientiert, tritt der Mythos hier eben ein als so eine Art 'poetische Karte'. Es gibt immer zwei Gesichtspunkte: Der eine, den die Karte von oben erzeugt, da kann man jeden Ort im Labyrinth genau sehen und mit Koordinaten versehen – aber das entspricht ja nicht unserer Lebenserfahrung. Diese Lebenserfahrung entspricht ja eigentlich eher der der Wanderung: Wir befinden uns irgendwo, haben eigentlich gar nicht mehr im Blick wo genau. Und nun werden wir unsicher: Wie soll es weitergehen, was machen wir an der nächsten Weggabelung? Gehen wir nach links oder nach rechts? Gehen wir nach vorne oder kehren wir um? Springen wir über den eigenen Schatten oder tun wir das nicht? Und da springen natürlich Mythen dann auch ein, weil sie sozusagen modellhafte Möglichkeiten veranschaulichen."
"Stanislaw Lem hat das mal sehr schön gesagt: Der Mensch ist offenbar ein Wesen, das sehr schwer mit Kontingenz, mit Unsicherheit zurecht kommt. Und deswegen erfindet er sich Geschichten, die zumindest auf einer Ebene der Imagination Trost verschaffen, aber auch eine Art Pseudosicherheit, wenn man so will."