Der erfahrene Schock zertrennt die dünne, aber dennoch bestehende Verbindung zwischen Innen- und Außenwelt. Erinnerungen, Augenblicke werden wie auf Photos festgehalten. Diese Momentaufnahmen werden aus der inneren Welt heraus beschrieben: ein Grund warum fast alle Erzählungen in der ersten Person geschrieben wurden. Jedes einzelne Detail wird bis hin zum kleinsten Achselhaar kommentiert. Tanja Schwarz beweist hier ihre Gabe der Beobachtung und ihre Liebe zum Erzählen. Sie schreibt einfach über Menschen. Personen, Stimmen, Charaktere interessieren sie - wo sie herkommen, wo sie hingehen, was sie bewegt. So lässt sie z. B. Michelle Matussek in der gleichnamigen Erzählung ihren Onkel beschreiben:
Sein Bauchnabel sitzt in einer schiefen Quabbelfalte über dem Hosenbund. Sein Teint hat die Farbe von gekochter Hühnerhaut. Auf Armen und Schultern sind ein paar Tattoos (...) In seinen Achselhaaren hängen Tröpfchen (...) An der Sohle seiner Tennissocken sieht man einen fettigen, gelbgrauen Abdruck von Ferse, Ballen und Zehen.
So psychotisch depressiv ihre Charaktere auch sein mögen, die Autorin liebt ihre Figuren, behandelt sie ziemlich sanft und urteilt nicht. Ihre Figuren sind keine Defätisten, sie reißen sich ständig zusammen, versuchen sich trotz ihrer psychischen Gelähmtheit über Wasser zu halten. Auf der Suche nach sich selbst werden diese Frauen, Halt suchend, immer wieder von den Reaktionen ihrer Mit- und Gegenspielerinnen entwaffnet. Erwartungen werden zunichte gemacht, Hoffnungen enttäuscht und Phantasien dann doch zu real. Diese Frauen stehen am Rande des Abgrundes: sie sind wirklichkeitsfremd und dadurch unfähig, sich in der äußeren Realität - der äußeren Welt, die ihnen feindselig und absurd erscheint, zurechtzufinden. Die Frauen in Tanja Schwarz' Welt sind Individuen, die sich in ihre eigene Welt flüchten. Frauen, die Nähe und Liebe von Frauen suchen, sich mit Frauen messen und oft die Grenze der Normalität überschreiten. Etwa wenn Bella, in der Erzählung "Bellas Spiele" sanft mit der Hand über die Wange Divas streicht. Dort wo Bellas Hand, die eine Rasierklinge in sich schließt, entlanggestrichen ist, vom Ohr bis zur Kinnspitze , quellen bestürzend rote Blutperlen hervor. Und das als Strafe: nur weil Diva, Bella nicht um Erlaubnis gefragt hatte, um auf die Toilette zu gehen.
Angstzustände erschweren ein "normales Leben". Tägliche Handgriffe, ja sogar aufstehen, sich anziehen und sich waschen, werden zu Dingen, die sehr kraftraubend erscheinen. Dennoch raffen sie sich jeden Morgen auf, nur - was mit sich selbst anfangen? Gescheiterte Beziehungen, enttäuschte Erwartungen reduzieren diese Frauen zu nichts. Ihr ganzes Denken und Tun kreist um diese quälenden Gedanken. Was von ihnen übrig bleibt? Eine leere Hülle, ein Körper der zwar funktioniert, der aber Koordinationsprobleme hat, und -ein gebrochener Geist; ganz so wie in der Geschichte "Der nächtlicheSkater":
Wie erwartet, hatte ich 'wieder keinerlei Anhaltspunkte gefunden. Anfangs hatte ich mir manchmal Äußerlichkeiten abgeschaut. Ich sah jemanden in einer bestimmten Hose, der aussah, als helfe ihm diese Hose weiter, als gebe sie ihm Gewissheit über einige wichtige Aspekte. Ich suchte so lange, bis ich eine solche Hose in einem Laden fand, kaufte sie, und als ich sie zuhause anzog, stellte sich der erwünschte Effekt nicht ein. Die Hose gab nichts von ihrer Richtigkeit an mich ab. Ich ging zum Frisör. Ich ließ mir zwei Ohrlöcher auf einer Seite stechen, ich benutzte eine bestimmte Gesichtscreme und gelegentlich Lippenstift. Im Spiegel sah ich die Summe der Teile. Auf meiner ausgewischten Tafel stand nichts Neues.
In dieser Übergangszeit zwischen "schein-tot" und "wieder-lebend" existiert die verletzte und gebrochene Frau als Art Parasit. Unfähig, eigene Gefühle zu empfinden, ihr eigenes Leben zu leben, lebt sie vom Observieren anderer Leben. Sie versetzt sich in andere hinein - um sich nicht mit ihrem eigenen Leben auseinander zusetzen. Kritik am Leben anderer, vielleicht um ihr eigenes wegzuschieben? Oder vielleicht doch , um sich Nahrung, Vergleiche zu suchen; um ihr eigenes dann besser zu bewältigen - um stärker zu werden, sich also in einen "Schmetterling" zu verwandeln?
Der nächtlichen Skater - ist ein Buch, in dem wenige Sätze reichen, um Milieus und Typen vor das Auge des Lesers zu stellen. Tanja Schwarz' Geschichten sind so überraschend originell wie bizarr, sie erzählen kleine merkwürdige Dramen, die sich ruhig und notwendig entfalten.