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Der neue Intendant inszeniert

Andrea Breth gelang es zum Ende ihrer Zeit als Regisseurin an der Berliner Schaubühne mit ihren Inszenierungen von "Onkel Wanja" und der "Möwe" die starke Tschechow-Prägung des Hauses fortzusetzen. Breths Zugang zu Tschechow war vielleicht metaphysischer als der von Peter Stein. Wie würde nun Steins und auch Breths ehemaliger Regieassistent Elmar Goerden die "Möwe" bearbeiten? Ein dreieinhalbstündiger Theaterabend deutet erst mal nicht auf starkes Kürzen hin, offenbar nahm der künftige Bochumer Intendant die literarische Vorlage sehr ernst. Zur Zeit ist Goerden noch am Münchner Residenztheater - er wird im nächsten Jahr Matthias Hartmann ablösen, der dann nach Zürich geht. Eine Möwe von Tschechow ist eigentlich kein Theaterknaller - aber natürlich wird ein solches Vortanzen des neuen Chefs - von allen Seiten aufmerksam beäugt, denn es könnten ja in der Art der Inszenierung auch ein paar Aussagen stecken, die seine bevorstehende Arbeit in Bochum betreffen.

Von Karin Fischer |
    Der Anfang gehört Masa, der Tochter des Gutsbesitzers. Walkman, Gummistiefel, schwarzes Kleid, sehr blonde Haare, sehr dunkler Haaransatz. Sie tanzt linkisch, übt ein paar Halbstarkenposen. Sie ist mittellos, aber nicht arm, versteht man; sie sieht aus wie ein früh gealterter Grufti, ein Mädchen auf der Suche nach etwas ganz anderem; sie hält das Leben nicht aus, wie alle hier, und macht deshalb auf Drogen - Schnupftabak, Alkohol. Musik ist zu hören, ein französisch gehauchter Chanson unterstreicht den Abstand zwischen Liebessehnsucht und der tristen Realität des Landlebens. Masa liebt den Falschen, wie alle hier den Falschen lieben, Konstantin, Kostja, den jungen Schriftsteller, der Nina liebt, die Schauspielerin werden will und die sich dem arrivierten Schriftsteller Trigorin an den Hals wirft, der ihr Leben zerstört - immerhin passiert hier was, während der Rest der Gesellschaft den Stillstand exekutiert, wenn auch mal auf leisere, mal auf exaltiertere Art. Kostjas Onkel Sorin leidet am Landleben und an seinen Beinen; die Frau des Gutsbesitzers will - vergeblich - von Dorn, dem Arzt, erhört werden; der Lehrer Medvedenko liebt Masa, aber die... siehe oben. Kostja immerhin rebelliert gegen die schrecklichen Routine auch in der Kunst mit einem Theaterstück, predigt "neue Formen", Härte, jedenfalls: "keine Sitzkissen!", Theater muss schließlich weh tun, und das Leben soll gerade nicht so dargestellt werden, wie es ist, sondern wie in einem Traum. Das Stück im Stück ist ein Alptraum, ein expressionistisches Geheul, eine apokalyptische Vision mit bengalischem Feuer, mit Teufel, Geschrei und viel Blut, ohne das das Reich der Freiheit offenbar nicht erworben werden kann, eine "dekadente Fieberphantasie", wie Kostjas Mutter, die Schauspielerin Irina Nikolaevna urteilt: ihre Krankheit heißt Bestätigungssucht; ihre Droge ist Lob, Bewunderung, die Übereinstimmung mit dem Publikum.

    So hält das Leben schwerste Zumutungen in relativ angenehmer Atmosphäre - man geht mehrmals Baden - für jeden bereit, und die große Frage an diese Inszenierung ist, warum man davon so wenig spürt. Es mag am Stück liegen, wo es um Langeweile und Eifersucht, um die Kunst und das Leben, um Berühmtheit und Alter, um Liebe und Kutschpferde, kurz: um alles ein bisschen geht. Und wie viele Regisseure vor ihm hat Elmar Goerden sich nicht für den Diskurs um die Kunst, die Lebenssehnsucht der Jungen, den Mutter-Sohn-Konflikt oder die Beziehungssoap entschieden. Das wäre nicht wirklich schlimm, würden die Dialoge nicht derart leidenschaftslos exekutiert, dass ihr gesellschaftskritischer Gehalt völlig auf der Strecke bleibt.

    Das Bochumer Ensemble, das sonst in großartiger Geschlossenheit agieren kann, wirkt wie fremd im eigenen Stück. Die Bühne unterstützt den Eindruck, indem sie das Nicht-Authentische ebenso dick aufträgt wie die Schauspieler und jenen Retrostil kultiviert, an dem man sich inzwischen doch einigermaßen satt gesehen hat, mit Kostümen, die nicht von einer Zeit, sondern von hipper Geschmacklosigkeit sprechen und damit immer irgendwie wahr sind. Dann gibt es noch dicken Schilf fürs ländliche Leben, tief hängende Wolken fürs dräuende Schicksal und die schon erwähnten französischen Chansons. Es herrscht eine Art "subtiler Oberflächlichkeit", mit der Elmar Goerden den Komödiencharakter des Stücks, den es immerhin von Tschechow zugeschrieben bekam, ernst genommen und beantwortet hat, um ihn gleichzeitig vollständig zu ent-äußerlichen.

    "Ohne Theater geht es nicht" bekennt der Onkel, aber der schöne Bühnenvereinssatz trifft in dieser Inszenierung nur auf Irina Nikolaevna zu. Statt eines Innenlebens trägt sie viel nackten Bauch und Rücken zur Schau, und wenn es gefühlsmäßig zur Sache geht, wird schnell aufs hysterische Fach umgestellt. Das auch eine Spezialität ihres Sohnes zu sein scheint, der sich gerne als Stürmer und Dränger sähe, letztlich aber am eigenen Mittelmaß zugrunde geht.

    Erst im letzten Akt verdichtet sich die künstliche Atmosphäre. Die abwesende Nina erst scheint echte Trauer oder Depression hervorzurufen. Jeder ist, wie er war, nur ein bisschen kränker in der Seele, ein bisschen abgekämpfter vom falschen Leben. Die Möwe, die Kostja für Nina geschossen hatte, stößt als großer ausgestopfter toter Vogel zur Gesellschaft, die sich zwei Jahre später auf dem Gut von Sorin wieder trifft. "Keine einzige lebendige Person", sagt der alte Schriftsteller über Kostjas Erzählungen. Der vorletzte Auftritt gehört der verwirrten Nina, die Trigorin immer noch liebt, wie sie Kostja bekennt, der sich daraufhin umbringt. Das Leiden aber gehört in diesem Stück der Masa von Jele Brückner. Sie hat eine merkwürdig verkünstelte Inszenierung geerdet, die statt modern nur modisch wirkte. Keine Taube, kein Falke also mit Goerden für Bochum – nur eine Möwe.