So hält das Leben schwerste Zumutungen in relativ angenehmer Atmosphäre - man geht mehrmals Baden - für jeden bereit, und die große Frage an diese Inszenierung ist, warum man davon so wenig spürt. Es mag am Stück liegen, wo es um Langeweile und Eifersucht, um die Kunst und das Leben, um Berühmtheit und Alter, um Liebe und Kutschpferde, kurz: um alles ein bisschen geht. Und wie viele Regisseure vor ihm hat Elmar Goerden sich nicht für den Diskurs um die Kunst, die Lebenssehnsucht der Jungen, den Mutter-Sohn-Konflikt oder die Beziehungssoap entschieden. Das wäre nicht wirklich schlimm, würden die Dialoge nicht derart leidenschaftslos exekutiert, dass ihr gesellschaftskritischer Gehalt völlig auf der Strecke bleibt.
Das Bochumer Ensemble, das sonst in großartiger Geschlossenheit agieren kann, wirkt wie fremd im eigenen Stück. Die Bühne unterstützt den Eindruck, indem sie das Nicht-Authentische ebenso dick aufträgt wie die Schauspieler und jenen Retrostil kultiviert, an dem man sich inzwischen doch einigermaßen satt gesehen hat, mit Kostümen, die nicht von einer Zeit, sondern von hipper Geschmacklosigkeit sprechen und damit immer irgendwie wahr sind. Dann gibt es noch dicken Schilf fürs ländliche Leben, tief hängende Wolken fürs dräuende Schicksal und die schon erwähnten französischen Chansons. Es herrscht eine Art "subtiler Oberflächlichkeit", mit der Elmar Goerden den Komödiencharakter des Stücks, den es immerhin von Tschechow zugeschrieben bekam, ernst genommen und beantwortet hat, um ihn gleichzeitig vollständig zu ent-äußerlichen.
"Ohne Theater geht es nicht" bekennt der Onkel, aber der schöne Bühnenvereinssatz trifft in dieser Inszenierung nur auf Irina Nikolaevna zu. Statt eines Innenlebens trägt sie viel nackten Bauch und Rücken zur Schau, und wenn es gefühlsmäßig zur Sache geht, wird schnell aufs hysterische Fach umgestellt. Das auch eine Spezialität ihres Sohnes zu sein scheint, der sich gerne als Stürmer und Dränger sähe, letztlich aber am eigenen Mittelmaß zugrunde geht.
Erst im letzten Akt verdichtet sich die künstliche Atmosphäre. Die abwesende Nina erst scheint echte Trauer oder Depression hervorzurufen. Jeder ist, wie er war, nur ein bisschen kränker in der Seele, ein bisschen abgekämpfter vom falschen Leben. Die Möwe, die Kostja für Nina geschossen hatte, stößt als großer ausgestopfter toter Vogel zur Gesellschaft, die sich zwei Jahre später auf dem Gut von Sorin wieder trifft. "Keine einzige lebendige Person", sagt der alte Schriftsteller über Kostjas Erzählungen. Der vorletzte Auftritt gehört der verwirrten Nina, die Trigorin immer noch liebt, wie sie Kostja bekennt, der sich daraufhin umbringt. Das Leiden aber gehört in diesem Stück der Masa von Jele Brückner. Sie hat eine merkwürdig verkünstelte Inszenierung geerdet, die statt modern nur modisch wirkte. Keine Taube, kein Falke also mit Goerden für Bochum – nur eine Möwe.