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Der "Neue Mensch" im Italo-Faschismus

Der zweite Teil der Reihe hat den Italo-Faschismus zum Thema. Es geht um die inhumane Obsession eines elitären Übermenschen unter der Herrschaft Mussolinis. Das Ziel war eine Regeneration Italiens.

Von Albrecht Betz | 31.10.2010
    "Giovinezza, giovinezza / Primavera di bellezza. - Jugend, Jugend / Frühling der Schönheit."

    So begann die italienische Faschistenhymne, von der der junge Ernest Hemingway in einer Reportage schrieb, man sage in Italien: Wenn die Kommunisten eine solch mitreißende Hymne gehabt hätten wie die "Giovinezza", wäre Italien für immer bolschewistisch geworden.

    In der Variante, welche die aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen Arditi sangen, zu deutsch: die kühnen Freikorps - folgten die Zeilen:

    "Im Faschismus liegt die Rettung / unserer Zivilisation."

    Es waren das Jugendpathos der Unbedingtheit, der kriegerische Männlichkeitskult, der vorwärtstreibende, pausenlose Aktionismus, der eine besondere Mischung aus Utopie und Versatzstücken vieler "-ismen" zusammenhielt, ein neues Lebensgefühl beschwörend: die Hoffnung auf Erneuerung der Nation und des Menschen, die Wiedergeburt der imperialen Großmacht und das Sicherheben des italiano nuovo. Dynamisch, heroisch, gehärtet in den Schützengräben und Frontkämpfen, der Zukunft zugewandt, Liberalismus und Kommunismus gleichermaßen verabscheuend: Die nationalistische Beschwörung der italianitá - und bald jenes Führers, der die faschistische Idee verkörperte, Benito Mussolini - gab sich in der Frühzeit der Bewegung vor allem jung, vitalistisch, das Bestehende verachtend.

    Bewaffnet mit den von Nietzsche inspirierten Schlagwörtern wie "Gefährlich leben" - vivere pericolosamente, Wille zur Macht, "Übermensch" - superuomo, verbunden mit dem von den Futuristen verkündeten Technikkult - ergab sich ein Bündel von Vektoren mit dem Ziel einer Regeneration Italiens: Es solle aufsteigen wie Phönix aus der Asche.

    Der Erste Weltkrieg hatte den Tod der vormaligen europäischen, weithin noch monarchischen Ordnung besiegelt, es waren - mit einem Bild Ernst Jüngers - viele "Kronen in den Staub gerollt". Die sogenannte bürgerliche Politik galt ebenfalls als hoffnungslos diskreditiert, ohne Kraft zur Integration der chaotisch aus- und gegeneinander treibenden gesellschaftlichen Kräfte. Der Krieg und sein Ausgang hatten alle Feindschaften und Freundschaften radikalisiert.

    Er war, wie später George F. Kennan schrieb, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts - auch im Sinne von schöpferischer Zerstörung, dem Zwang zum Neubeginn. Verbreitet war - in Italien wie in Deutschland - das Ressentiment, vom Krieg und seinen Folgen betrogen worden zu sein, unverdient zu den "proletarischen Nationen" zu zählen. Das Krisenbewusstsein war allgemein - bei den Besiegten wie den Siegern. Viele Diskussionen kreisten darum, wie die schon vor dem Krieg als Hauptkräfte sichtbar gewordenen Nationalismus und Sozialismus zu synthetisieren seien.

    Die Zivilisation, die die erwähnten Arditi in ihrer Fassung der Giovinezza-Hymne retten wollten, war von anderer Art als jene, die Frankreich als Siegernation und größte Macht des Kontinents mit Republik und Demokratie verbunden hatte. Hinter jener politischen Bewegung, die mit dem "Marsch auf Rom" 1922 wohl noch nicht wusste, wie stark sie die Konstellation der Kräfte in Europa verändern sollte, stand - wenngleich nicht als festes Konzept - ein Gegenentwurf zur Aufklärung und zur Französischen Revolution. Vehement verworfen wurden nicht nur das plurale Parteiensystem und die "Bourgeoise" Debattenkultur des Parlamentarismus; die Stoßrichtung ging ebenso gegen die revolutionäre wie konventionelle Linke und deren zu naive Fortschrittserwartungen.

    Die Revolution von 1789 mit den von ihr angestoßenen Emanzipationsbewegungen galt als Quell des Übels. Universalien wie die Menschenrechte seien abstrakt und illusionär, die von Nietzsche verlangte "Umwertung aller Werte" müsse konkret bezogen werden auf "Geschichte", "Volk", "Willen", große Gefühle, Mythen. Um eine Nation aus der Krise zu führen, bedürfe es nicht mühsam ausgehandelter Kompromisse sondern autoritärer Lösungen. Statt mehr Gleichheit bedürfe es mehr - und andere - Hierarchie; für sie gelte es neue Menschen zu formen: resistent gegen die Versuchungen der Dekadenz und mit einem klaren Feindbild: dem einzig auf Sicherheit und Verteidigung des Eigentums bedachten bürgerlichen Staat.

    Welche rhetorischen Register Mussolini, der künftige Volkstribun und Duce, als junger, ursprünglich von den Sozialisten herkommender Revolutionär zu ziehen vermochte, hört man aus dem folgenden Redeauszug:

    "Mit seiner ungeheuren Bürokratie gibt einem der Staat das Gefühl des Erstickens. Der Staat war für das Einzelwesen erträglich, solange er sich damit begnügte, Soldat und Polizist zu sein; heute aber ist der Staat alles: Banker, Wucherer, Spielhöllenbesitzer, Kuppler, Versicherungsagent, Eisenbahner, Unternehmer, Lehrer, Tabakverkäufer und unzähliges mehr, außer seinen früheren Beschäftigungen als Polizist, Richter, Gefängniswärter und Steuereintreiber. Der Staat, dieser Moloch mit den schrecklichen Zügen, sieht heute alles, tut alles, kontrolliert alles und richtet alles zugrunde. Und die Litanei könnte bis ins unendliche fortgehen. Der Staat ist jenes furchtbare Gebilde, das lebendige Menschen verschluckt und sie als tote Ziffern wieder ausspuckt. Das menschliche Leben hat keine Geheimnisse mehr, keine Intimität, weder im Materiellen noch im Geistigen; alle Ecken werden durchschnüffelt, alle Bewegungen gemessen, jeder ist in sein Fach eingesperrt und nummeriert wie im Zuchthaus."

    Wie sehr sich der italienische Faschismus als Modernisierungsprojekt verstand, ist vor allem an seiner frühen, zum Teil anarchischen Phase ablesbar, jener der engen Symbiose mit den Futuristen des Dichters Marinetti. Gemeinsam war beiden Bewegungen Kampfgeist und Gewaltbereitschaft in Verbindung mit großem Enthusiasmus für Technik, Maschinen, Beschleunigung: als Mittel zur Erweiterung und Potenzierung der menschlichen und materiellen Energien und Ressourcen. Im Gegenzug hieß das, sich vom Ballast der kulturellen Tradition zu befreien, dem, was die rückwärtsgewandten "Passatisten" als - doch schon verwesende - museale Bildungsrückstände zu konservieren trachteten. Antibürgerliche Provokationen waren an der Tagesordnung, die Neigung zum Handstreich war verbreitet. Radikal sein hieß in beider Selbstverständnis zugleich antisozialistisch und antikapitalistisch sein. Hinzu kam: Die Futuristen waren in ihren Schriften hypermodern in der Vermählung von Technikoptimismus und Ästhetik der Geschwindigkeit. Dieses Ensemble faszinierte nicht wenige der jungen Generation, die in einer unübersichtlichen Nachkriegsgegenwart nach Orientierung und Zugehörigkeit suchten.

    Die Durchdringung von Kultur und Politik der Futuristen bestand darin, das aus der modernen Maschinenästhetik resultierende veränderte Verhältnis zu Raum und Zeit zum Lebensprinzip für die Welt - und somit für die Machtaneignung ausgerufen zu haben. Die Entfaltung des huomo nuovo in einer modernen, technisierten, von wachsendem Tempo bestimmten Realität: Das war die utopische Vision, die - in Verbindung mit einem auf Eroberung gerichteten Nationalismus - einen Führungsanspruch Italiens sichern sollte. In der Sprache der Futuristen:

    "Der Italiener von heute befindet sich zum Glück am Ende der Periode, die als präindustriell bezeichnet wurde. Es entsteht jetzt ein wunderbares, jugendliches Klima und Italien wird eine große Arbeits- und Militärmacht sein."

    Es sei daran erinnert, dass der Futurismus bereits zehn Jahre vor dem Faschismus die öffentliche Bühne betrat. Sein Gründungsmanifest, wohl das erste der europäischen Avantgarde, erschien 1909 im Pariser "Figaro". Sätze wie die folgenden konnten zunächst allenfalls bei einer kleinen Elite ein Echo auslösen:

    "Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen. Ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.

    Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Poesie sein. Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Verzückung und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag."

    Im Zeitalter der Elektrizität haben die Relikte eines biedermeierlichen Romantizismus nichts mehr zu suchen:

    "Und es ist eine Pistole, mit der wir den romantischen Mondschein erschießen werden."

    Konkrete Symbole der neuen Epoche sind die Automobile, von Marinetti zunächst noch im Bild von gezähmten Tieren präsentiert, faszinierend aber gerade durch ihre Beherrschbarkeit .

    Die Selbststilisierung zu elitären Übermenschen - im Schatten Nietzsches - ist offenbar Bestandteil der Mentalität der Führungskader fast aller totalitären Bewegungen. Programmatische Schlagwörter wie Heldentum, Nationalismus und Revolution werden synthetisiert, Gefahr und Risiko werden verherrlicht, Revolution und Krieg werden zu einem Zwillingspaar: Ohne blutige Reinigung sei Regeneration nicht möglich. Krieg, verstanden als Ringen der Völker, erfüllt den Traum von einer kollektiven Gewalterfahrung, von Aggressivität und dem Einsatz moderner Technologien. Den Ausstieg aus dem gesellschaftlichen Alltag und den Eintritt in die Sphäre eines permanenten psychologischen Ausnahmezustands, diese - mit einem Ausdruck Robert Musils "Flucht aus der Freiheit" sehnt ein großer Teil der bürgerlichen Jugend herbei. Modernisierungsschub, Verwandlung, Neuanfang: Für die Futuristen steht das Tempo im Zentrum - bis hin zum pathetischen Sich-Überschlagen mancher Sätze:

    "Das Heldentum ist eine Geschwindigkeit, die sich selbst durch das Befahren der größten aller Rennstrecken erreicht hat. Der Patriotismus ist die direkte Geschwindigkeit einer Nation; der Krieg ist die notwendige Prüfung, das Heer der zentrale Motor einer Nation."
    Der "Neue Mensch" kann nur um den Preis zum Übermenschen werden, dass er sich partiell entmenschlicht, dehumanisiert, sich der Maschine annähert:

    "Wir Futuristen wollen Italien ein Bewusstsein geben, das die Nation immer mehr zur hartnäckigen Arbeit, zur grausamen Eroberung führt! Wir wollen, dass die Italiener sich endlich nach der Freude sehnen, sich einsam, bewaffnet und ultramodern zu fühlen. Dass sie sich danach sehnen, im Kampf gegen alle zu sein und nicht mehr schläfrige Enkelkinder einer Größe, die uns nicht mehr gehört ... Unsere gewaltige Bejahung des Modernitätsglaubens drückt die Notwendigkeit aus, brutal, schnell und präzise zu werden; die Notwendigkeit sich zu amerikanisieren, indem wir in den fortreißenden Wirbel der Modernität springen."

    Der Kontrast dieser Mentalität der Metropolen zum noch immer überwiegend ländlich-agrarischen Italien könnte schärfer nicht sein. Futurismus wie Faschismus entstehen in Großstädten - von Mussolini wird berichtet, dass er in den ersten Jahren daran zweifelte, ob seine Bewegung je in die Provinzen vordringen könne. Ihre Hauptstadt war Mailand, ähnlich wie München die Hauptstadt der frühen Nazibewegung war.

    Zur Abkühlung zwischen Faschismus und Futurismus kam es in den 1920er-Jahren, als Marinetti unnachgiebig auf seiner antimonarchischen und antiklerikalen Haltung beharrte, während Mussolini sich pragmatisch mit den konservativen Kräften zu arrangieren suchte. Marinettis Forderung nach Abschaffung des Papsttums blieb ohne Folgen, die Monarchie - Ironie der Geschichte - überlebte in Italien sogar noch den Zweiten Weltkrieg, wenn auch nur kurz. Es war der König, der Mussolini 1922 als Regierungschef einsetzte - und der ihn 1943, nach zwanzig Jahren wieder absetzte: ein erheblicher Unterschied etwa zur absoluten Machtfülle des deutschen Diktators.
    Mit den Lateranverträgen, die Mussolini 1929 unterzeichnete, konnte er sein Prestige in der Welt enorm steigern und seine Gefolgschaft unter den Katholiken im Land wuchs erheblich an; andererseits räumte er dem Vatikan mehr Privilegien ein als sogar seine bürgerlichen Vorgängerregierungen; er entfernte sich weit von den Optionen des frühen Faschismus und akzeptierte, dass der Katholizismus zur Staatsreligion wurde.

    Die stets radikale und weit linke Position des Futurismus mit seiner rigiden Abgrenzung von jeglicher Vergangenheit, der Auffassung, dass Modernität und Tradition nicht kompatibel seien, musste der zunehmend reformistischen und bürgerlichen Selbstbestätigung des Regimes zuwiderlaufen.

    Um den proklamierten Heroismus des "Neuen Menschen" auch historisch zu rechtfertigen, stellte der Faschismus sein Handeln in eine tausendjährige Geschichte und aktualisierte besonders nachdrücklich den Bezug zum römischen Imperium unter Augustus.

    Anders gesagt: Mussolini sah die Chance, den Mythos Rom im In- und Ausland propagandistisch zu verwerten. Dafür gab es gute Gründe. Die Bevölkerung Italiens bestand, selbst 60 Jahre nach dem Risorgimento und der Vereinigung des Landes, noch immer aus sehr unterschiedlichen Volksgruppen. Um sie zu einem Volk zu machen, konnte der Mythos Rom ein wirksames Mittel sein.

    Ferner legte Mussolinis pragmatisches Gespür ihm nahe, die katholische Tradition als Manifestation des uralten römischen Geistes zu nutzen und so in Anspruch zu nehmen als Teil der sich gleichfalls darauf berufenden faschistischen politischen Religion.

    Das "Neue Rom", das ihm vorschwebte, war ein Rom der Moderne mit einer vom Mythos römischer Größe geprägten Aura. Das utopische Ziel: eine neue europäische Zivilisation, in der der Faschismus - totalitär - herrschen würde.

    Vorläufig galt es, das große volkspädagogische Projekt ins Werk zu setzen - die umfassende körperliche Ertüchtigung verbunden mit der Umbildung des Bewusstseins - in Mussolinis Worten: die Erziehung zum Kampf und die Hinnahme der Gefahr. Männliches Leitbild wurde der Krieger in der Gestalt des Legionärs. Um es zu erreichen, galt die Devise: Glauben, gehorchen, kämpfen! Weitere Vorbildgestalten wurden der Athlet, als sportlicher Kämpfer die Inkarnation von Energie und Vitalität, der Arbeiter-Soldat, der in der "Produktionsschlacht" kämpft und der Flieger als Prototyp des "Neuen Menschen", der sein Flugzeug - das heißt: die modernste Technik - beherrscht, Spannungen aushält und den eigenen Elan mit dem seiner Maschine verschmilzt. Eine paramilitärische Vision - mit der Perspektive auf die künftige Luftwaffe als Verlockung.

    Unterstützt wird der Propagandaeffekt durch eine neue Sparte der avantgardistischen Malerei: der Aeropittura, der Luftmalerei. Die von oben gesehene Welt enthüllt oder zeigt nicht mehr eine göttliche Ordnung, sondern macht den Geschwindigkeitsmenschen zum einzigen Maßstab des Universums.
    Der "Neue Mensch", in den der Italiener zu transformieren wäre, ist für Mussolini nachgerade eine Obsession - von seinen Anfängen bis zu seinem Sturz. Bereits 1917 schreibt er in Popolo d'Italia:

    "Das italienische Volk ist in diesem Augenblick eine Masse aus wertvollem Material. Man muss es schmelzen, es von seinen Unreinheiten reinigen, es bearbeiten. Ein Kunstwerk ist noch immer möglich. Es braucht eine Regierung. Einen Mann. Einen Mann, der das Fingerspitzengefühl des Künstlers hat und die eiserne Faust des Kriegers. Einen sensiblen und willensstarken Mann. Einen Mann, der das Volk kennt, der das Volk liebt, es führt und es unterwirft - auch mit Gewalt."

    Jahre später wird er sagen:

    "Die Politik ist die höchste der Künste, eine göttliche Kunst, denn sie arbeitet mit dem schwierigsten, weil lebendigen Material: dem Menschen."

    Sprecherin:
    Das Projekt einer anthropologischen Revolution war einer der Motoren der zahlreichen Initiativen des totalitären Experiments: neben der Militarisierung und Sakralisierung der Politik, neben dem Erziehungsmonopol, der Organisation der Massen in Zellen, der Verfolgung der Antifaschisten als unitalienisch, der Geburtenkampagne, dem Rassismus und späteren Antisemitismus. Und es war gegenwärtig in den grandiosen Plänen der Eroberung und des Aufbaus einer neuen imperialen Zivilisation. Für jede dieser Facetten wurde das Konzept des "Neuen Menschen" etwas anders konfiguriert und wandelte sich mit der Entwicklung des Regimes, im nationalen und internationalen Rahmen.
    So bot sich der Faschismus 1929, nach dem Weltwirtschaftsdebakel und dem Beinahe-Zusammenbruch der westlichen Zivilisation, als Lösung für die Krise der Moderne an. Der aus dem Faschismus hervorgehende "Neue Mensch" könne das Abendland vor dem Untergang retten, es befreien von seiner "schlechten" Modernität: sowohl dem egoistischen Individualismus der westlichen Demokratien als auch dem kommunistischen Materialismus.

    Als Idee faszinierte der Faschismus das intellektuelle Europa der Zwischenkriegszeit: von Knut Hamsun in Norwegen bis zu Ortega y Gasset in Spanien, über Hendrik de Man in Belgien und Céline in Frankreich bis zu Mircea Eliade in Rumänien. Die kulturrevolutionäre Ästhetik, der andersartige Lebensstil, das neue Lebensgefühl trugen zur Anziehungskraft viel bei; andererseits schien für Rechtsintellektuelle die politische Möglichkeit interessant, dass die Demokratie im Namen des Volkes zerstört werden konnte.

    Als - der Selbstdefinition zufolge - "weder links noch rechts" stehend, schien der Faschismus den verunsicherten Massen anzubieten, das Problem ihrer Identität zu lösen, ohne ein Modell wie das sowjetische oder das westlich-"plutokratische" übernehmen zu müssen.

    Sicher faszinierte Mussolini seinerseits die Idee, dass seine Bewegung eine europäische Bewegung wurde und bald auf den ganzen Kontinent ausstrahlte. In Amerika, in dem der Typus des Self-Made-Man stets große Anerkennung genoss, erzielte die italienische Propaganda besondere Erfolge: Mussolini war populär und wurde von vielen als politischer Star gesehen, als Mann der Tat, der große Entscheidungen traf ohne sie von konkurrierenden Parteien zerreden zu lassen; der gleichsam die Ärmel hochkrempelte und selbst mit anfasste, um sein Land nach vorn zu bringen; der nicht von Geburt an privilegiert oder schon mit allen Gaben ausgestattet war, sondern als im Grunde gewöhnlicher Italiener kraft eigenen Willens und Mutes zum Helden und Halbgott aufgestiegen sei.

    Und dem es gelungen sei, gegen die bestehende Gesellschaft ein nationales Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen - über die internen Rivalitäten und Konflikte hinweg.

    In den frühen 1930er-Jahren, in denen der Konsens zwischen Duce und Volk am stärksten ist, lässt Mussolini zahlreiche Jugend- und Massenorganisationen gründen oder ausbauen. Sie sollen mittels intensiver Pädagogik, beginnend bei den Achtjährigen, den nationalen Charakter verändern, vor allem zu Selbstdisziplin und Opferbereitschaft, zum Einordnen ins Kollektiv erziehen. Vieles davon wird wenig später vom Dritten Reich kopiert oder variiert werden, angefangen bei den Pimpfen und der Hitlerjugend. Auch Auswahlverfahren für den Führernachwuchs werden entwickelt. Die Integration in den und die Identifikation mit dem Staat, in dem alle Werte zur Synthese und Einheit finden sollen, sind oberstes Ziel.

    In der italienischen Sprache - und in vielen anderen - ist das Wort Mensch zugleich jenes für Mann - uomo. Zu fragen ist nach dem Platz der "Neuen Frau" im faschistischen Universum.

    Es ist der alte. Ähnlich wie im deutschen Nationalsozialismus wird versucht, die Relikte eines früheren, ohnehin schwachen Feminismus zu diskreditieren und die Mutterrolle mit neuer Würde zu versehen. Die Frau als Gebärerin, die hilft, den Staat stark und wehrhaft zu machen, indem sie ihm viele Kinder schenkt, verdient Würdigung und hat ein Recht auf Förderung. In Mussolinis Zukunftsplanungen hat die Bevölkerungspolitik, das Wachstum des italienischen Volkes, einen hohen Stellenwert; mehrfach kommt er in seinen Reden darauf zu sprechen. Die Familienmutter, die für Zusammenhalt und Solidarität im kleinen sorge, könne in ihrem Bereich die ersten Keime zur Umsetzung der vorgegebenen Erziehungsideale pflanzen und schon die junge Generation der Gegenwart viel selbstsicherer auftreten als die früheren und stolz darauf sein, Italiener zu sein.

    Von italienischer Rasse sprechen die Faschisten weniger im biologischen oder "völkischen" Sinn, wie die Nationalsozialisten, sondern eher spirituell als einem Resultat der Erziehung. Dennoch gewinnt die "physische Gesundheit der Rasse" immer stärker an Bedeutung. Die Eugenik, die um die Jahrhundertwende nur die positivistischen Naturwissenschaftler kannten, hatte wegen der Präsenz der katholischen Kirche wenig Einfluss. Das änderte sich massiv im Verlauf der zwanziger und dreißiger Jahre, als von der "Schlacht an der Bevölkerungsfront" und vom Verlust an roten Blutkörperchen durch die italienischen Auswanderer die Rede war. In Mussolinis Worten:

    "Eine Nation existiert nicht nur durch ihre Geschichte oder durch ihr Territorium, sondern auch dank ihrer Menschenmassen, die sich von Generation zu Generation reproduzieren. Im anderen Fall ist es die Knechtschaft oder das Ende."

    Der "ordinäre" Rassismus gegenüber den farbigen Kolonialvölkern galt als normal und wenig erwähnenswert; er wurde aber gesteigert durch die mörderischen Eroberungskriege in Libyen und Äthiopien.

    Anders verhielt es sich mit dem Antisemitismus, der bis dahin in Italien kaum eine Rolle gespielt hatte. 1938 wurden antisemitische Gesetze erlassen, die sich an der deutschen Gesetzgebung orientierten. Seine Reise nach Deutschland ein Jahr zuvor hatte Mussolini vermutlich beeinflusst und vom Nutzen eines starken Feindbildes überzeugt. Der Jude wurde zum inneren Feind und Sündenbock erklärt, um negative Energien zu kanalisieren und abzuleiten und so die innere Revolution zu beschleunigen. In anderen Worten: Indem die Propaganda einen imaginären Juden konstruierte, der die verwerflichen Seiten des Bourgeois und des Bolschewiken in sich vereinte, schuf sie ein Gegenmodell zum "Neuen Menschen".

    Die Ausgrenzung der Juden wurde ein Schwerpunkt der 1938 gegründeten Zeitschrift Verteidigung der Rasse - Difesa della Razza; die Atmosphäre sollte unerträglich werden für jenen "Typus von Italiener, ... der substanziell und gefährlich antifaschistisch ist, der die neuen politischen, militärischen und wirtschaftlichen 'Forderungen unserer Epoche' ablehnt und ebenso den Gemeinschaftssinn, ohne den es keinen Sinn für den Staat gibt ... ein Wesen ohne nationale Solidarität."
    Als Wehrmacht und Gestapo im Herbst 1943 Italien besetzen, erleichtern ihr die antisemitischen Gesetze die Verfolgungsarbeit. Ein Viertel der italienischen Juden kommt in deutschen Konzentrationslagern um.

    Im März 1935 hatte der Corriere della sera eine illustrierte Beilage veröffentlicht, deren Titelblatt Mussolinis Beziehung zum Mythos vom "Neuen Menschen" in wichtigen Teilen resümiert. Der Duce, in der Uniform eines Ehrengefreiten der Miliz, schwingt eine Axt, mit der er ein hinfälliges Gebäude über den kaiserlichen Foren in Rom zerstört. Ihm zur Seite hat der Zeichner des Illustrierten-Covers zwei Arbeiter platziert, die ihm bei seiner Abrissaktivität helfen. Damit ist alles gesagt: die Zugehörigkeit des Diktators zur Welt der Arbeiter, das Interesse, das er für die Handarbeit und die anstrengendsten Vorhaben aufbringt, sein Wille, den Kontakt mit den kleinen Leuten zu wahren und sein Bemühen, "für das Volk zu arbeiten", ebenso wie sein Rang als "Baumeister" und Wiederhersteller des imperialen Roms. Die Uniform soll daran erinnern, dass der "Neue Mensch", dessen zivile und moralische Tugenden er symbolisch verkörpert, auch ein Kämpfer ist in ständigem Bereitschaftsdienst für die Nation, so wie es die römischen Legionäre der klassischen Zeit waren: wie er selbst - die moderne Entsprechung eines Cincinnatus - stets bereit, den Pflug mit dem Schwert zu vertauschen.

    Nichts kann freilich darüber hinwegtäuschen, dass Mussolinis faschistische "Revolution" letztlich doch im Dienst der Bewahrung der bestehenden sozialen Ordnung stand. Zwar lehnten seine Partei und später der faschistische Staat den Liberalismus und die bürgerliche Mentalität weiterhin strikt ab; objektiv wurden sie aber das Instrument des kapitalistischen Bürgertums zur gewalttätigen Unterdrückung einer sozialen Revolution, die auf eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse abgezielt hätte.

    Auch wenn der Marsch in eine faschistische Zivilisation nicht durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen worden wäre: Der "Neue Mensch" wäre sicher nicht der freie Mensch geworden, eher eine Art Opfergabe: geopfert dem Staat. Bekanntlich kam es dazu nicht. Kurz vor seinem Sturz erklärte der Duce einem seiner Mitstreiter:

    "Niemand, so hoffe ich, wird die Leidenschaft bestreiten oder verkleinern wollen, mit der ich dieses Italien in Gedanken und Taten geschmiedet habe. Ich verspüre eine Unruhe, die meine innere Traurigkeit erklärt: Ich muss eine Unterscheidung machen zwischen Italien und den Italienern. Die Italiener sind Italiens nicht würdig, zumindest nicht meines Italiens."

    Dass Mussolini im Juli 1943 vom Großfaschistischen Rat und vom König abgesetzt und interniert wurde, ihn einige Monate später ein Kommando der Waffen-SS aus der Schutzhaft befreite und er noch eineinhalb Jahre eine norditalienische "Republik von Salò" führen konnte, reduziert zum Vasallen Hitlers: Das änderte wenig mehr am abschüssigen Lauf der Dinge.

    Während des Zweiten Weltkriegs warf Mussolini den Italienern das Scheitern seiner Ambitionen vor. Er hatte den Krieg gesehen als Mittel, die Italiener abzuhärten. Während der Krieg sich fortsetzte und die militärischen Niederlagen sich häuften, nahm er dies den Italienern übel, in der Art eines Künstlers, der sein Material dafür verantwortlich macht, dass seine Werke missraten:

    "Es ist das Material, das nicht genügt. Selbst Michelangelo brauchte Marmor, um seine Statuen zu machen. Wenn er nur Lehm gehabt hätte, wäre er ein Töpfer gewesen."