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Der neue Papst Benedikt XVI.

Papstwahl: Benedikt XVI. und die Entchristianisierung in Europa +++ Das theologische Profil des neuen Papstes +++ Das Lachen des Pontifex' +++ Münteferings Kapitalismuskritik

Von Jochen Thies |
    Timothy Garton Ash geht in der Süddeutschen Zeitung auf die Wahl von Joseph Kardinal Ratzinger zum neuen Papst ein. Er schreibt: "Atheisten sollten die Wahl von Benedikt XVI. begrüßen, denn dieser alte, gelehrte, konservative und uncharismatische bayerische Theologe wird sicherlich die Entchristianisierung in Europa vorantreiben, auch wenn er genau das Gegenteil beabsichtigt. Am Ende seines Pontifikats wird Europa vielleicht genauso unchristlich sein, wie es schon einmal vor 15 Jahrhunderten war, als St. Benedikt, einer der Schutzheiligen Europas, den Benediktinerorden gründete. Das christliche Europa beginnt mit Benedikt und endet mit Benedikt - Ruhe in Frieden".

    "Europa ist derzeit der säkularste Kontinent der Welt", fährt der in Oxford und Stanford lehrende britische Historiker, fort. Auf einer Internetseite der amerikanischen Baptisten heißt es: "Westeuropa ist eines der schwierigsten Missionsgebiete der Welt".

    Garton Ash weiter: "Osteuropa gab bis vor kurzem ein anderes Bild ab, vor allem weil die Kirche unter dem Druck des kommunistischen Regimes ihre Stärke bewahrte. Johannes Paul II trug bekannt nachhaltig zum Untergang des Kommunismus bei. Inzwischen gehört es jedoch zu den Ironien der Geschichte, dass eben dieser Untergang des repressiven Regimes Osteuropa seit 1990 Wellen wirtschaftlicher Modernisierung beschert hat, die unweigerlich die Säkularisierung vorantreiben. Wie zuvor in Westeuropa lässt nun auch hier der Einfluß der Kirche deutlich nach. Gleichzeitig erstarkt der Islam, durch Einwanderung und EU-Erweiterung, zur wohl dynamischsten Glaubensgemeinschaft in Europa. In einer Metropole wie Berlin leben mittlerweile mehr Moslems als Katholiken".

    Helmut Hoping und Jan-Heiner Tück betrachten in der Neuen Zürcher Zeitung das theologische Profil des neuen Papstes. Die am Freiburger Institut für systematische katholische Theologie arbeitenden Wissenschaftler schreiben: "Wollte man die Grundzüge der Theologie des neuen Papstes nachzeichnen, deren Kontinuität übrigens größer ist, als es die gängige Unterscheidung zwischen dem frühen, "progressiven" und späten, "konservativen" Ratzinger insinuiert, dann müsste wohl die lebendige Beziehung zu Jesus Christus im Raum der Kirche ins Zentrum rücken. In Christus hat Gott buchstäblich Gesicht und Stimme erhalten, in ihm ist das Leben und Sterben eines konkreten Menschen zum authentischen Kommentar des göttlichen Willens geworden. Das ist aus der Sicht des Glaubens die Gabe Gottes an die Menschen, die in der fortlaufenden Geschichte tradiert und in der Verkündigung des Evangeliums sowie der Feier der Sakramente präsent gehalten wird".

    Die Freiburger Autoren beschließen ihre Überlegungen so: "Ohne Kirche kein angemessener Zugang zu Jesus Christus; ohne Jesus Christus kein angemessener Zugang zur Wahrheit des lebendigen Gottes - so ließe sich der Grundakkord der Theologie des neuen Papstes zusammenfassen. Seinen Namen dürfte er auch deshalb gewählt haben, weil Benedikt von Nursia der "Patron Europas" ist und dessen Maxime ora et labora die abendländische Kultur maßgeblich geprägt hat".

    In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verweist Christian Geyer auf jene, die wie Ernst Böckenförde meinen: "Das kommende Pontifikat wird sich daran entscheiden, wie es die Wahrheit mit der Freiheit verbindet. Um schon heute eine Vorstellung zu bekommen", schreibt Geyer weiter, "von welchen eigenen Voraussetzungen her Joseph Ratzinger diese Frage im Weltmaßstab entscheiden könnte - gerade deshalb sind die verstreuten Hinweise so aufschlussreich, die sich in seinen Schriften zur Verständigung der Kulturen und näherhin zum Verhältnis der Religionen finden lassen. Mission und Dialog, so lässt der neue Papst wissen, dürften nicht länger als Gegensätze aufgefasst werden".

    Christian Schlüter meint in der Frankfurter Rundschau: "Voraussagen über das Pontifikat des 265. Papstes sind müßig, alles ist möglich. Gerade das theologisch-philosophische, in zahlreichen Schriften hinterlegte Credo Ratzingers gibt dafür einigen Anhalt. Es ist intellektuell überaus anspruchsvoll, vor allem aber erweist es sich, von einigen Marotten einmal abgesehen, als überaus anschlussfähig im Hinblick auf den philosophischen Diskurs der Moderne. Das zeigt sich insbesondere bei einem Zentralmotiv Ratzingers, der Eucharistie".
    Gustav Seibt meint in der Süddeutschen Zeitung: "Natürlich ist die Entscheidung für Ratzinger radikal: Er gilt nicht als Mann des Ausgleichs, er ist keine populäre Erscheinung. Gelehrsamkeit und Intellektualität wirken nicht nur auf viele Gläubige abschreckend. Bei Ratzinger kommt ein nicht beiläufiger physiognomischer Zug hinzu: der durch seine schleppende, hohe Stimme bei aller Freundlichkeit erzeugte Eindruck von Ironie. Das ist keine leichte Hypothek, denn Kälte, Brillanz und eben Ironie zählen immer zu den schwersten Vorwürfen von Kirchenfeinden gegen einzelne Päpste. Es sind unjesuanische Eigenschaften, in denen sich eine Verbindung von geistiger Überlegenheit und irdischer Macht ausdrückt, die für viele geradezu unchristlich wirkt".

    Holger Kreitling kommt in der Welt zu einem ganz anderen Urteil:
    "Das vielleicht Erstaunlichste an der Papst-Verkündigung war das Lachen von Benedikt XVI. Der neue Papst trat aus dem Dunkel des Zimmers auf den Balkon, breitete die Arme weit auseinander, und sein Gesicht strahlte. Benedikt lächelte, lachte, der Körper schwang gelöst hin und her, und die Entspanntheit, die überwältigende Reaktion auf dem Gesicht Joseph Ratzingers fand schier kein Ende…Hier zeigte ein Mensch lachend sein Glück".

    Thomas Steinfeld geht in der Süddeutschen Zeitung auf die Äußerungen des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering ein. Dort heißt es: "Die Aufregung rührt daher, dass Müntefering sich dem Zynismus der systemtheoretischen Betrachtung verweigert. Er macht etwas, was es in der Sozialdemokratie schon lange nicht mehr gab: Er versucht, den Kapitalismus mit Gesichtern auszustatten. Er fahndet nach den Kapitalisten im Kapitalismus. Er will den Kapitalismus persönlich nehmen. Der Auftritt des Vorsitzenden hat daher etwas Naives, ja Drolliges. Aber in dieser Naivität liegt etwas Wahres".

    Steinfeld fährt fort: "Münteferings Kritik am Kapitalismus ist nicht, wie jetzt viele aufgeregte Reaktionen aus Wirtschaft und Politik glauben machen wollen, ein Rückfall in längst überwunden geglaubte radikale Positionen. Sie ist nicht anti-kapitalistisch. Nein, hier spricht ein enttäuschter Liebhaber, einer, der an die soziale Partnerschaft glauben wollte, einer, der davon überzeugt war, dass es zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern einen zwar nicht fixierten, doch moralisch fest gegründeten Sozialvertrag gebe, zum beiderseitigen Vorteil".