Archiv


Der Nichtstuer

Vor 2500 Jahren schrieb der Vorsokratiker und Urdialektiker Heraklit ein Buch, das in Fragmenten, vor allem aber in Form späterer Kommentare überliefert ist. Er war es, der den Gedanken von der Einheit der Gegensätze, der Harmonie des Widerstreitenden ins Abendland brachte und das berühmte Panta Rhei formulierte. "In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht." Der Sinologe Hans Peter Hoffmann hat den Gedanken, dass alles fließt, zur Grundlage einer Erzählung gemacht, die unscheinbar auftritt und dennoch eine kleine Sensation ist, der man große Wirkung wünscht. Wie einer der Kommentatoren jener alten Texte, deren Original im Dunkeln liegt, schreibt der Erzähler den langen Monolog eines Mannes nieder, der dem Buch seinen Titel gibt: "Der Nichtstuer." Was tut ein Nichtstuer? Er fährt regelmäßig im ICE zwischen Basel und Konstanz am Rhein entlang, merkt sich eine Stelle im Fluss - ein bestimmtes Blau, ein Lächeln, ein Stirnrunzeln des Wassers -, verfolgt sie und eilt ihr voran. Ebenso verfährt er mit der Sprache, deren Eigenbewegung er folgt, um hier und da einzuhalten und sich weitertreiben zu lassen. Seine Rede schäumt, schlängelt, gleitet, holpert, strudelt, fängt sich und strömt weiter, von den Fragen des Nichtstuns über die Liebe, den Tod, das Bewusstsein und die Krankheiten unserer Gesellschaft bis hin zu Zeit und Zeitlosigkeit und zurück zur Kindheit und zur Frage nach seinem Vater, der -vielleicht - nach China ausgewandert ist.

    Denn dem Nichtstuer sind Fragen wichtiger als Antworten - "Antworten", sagt er, "gebe es schließlich genug"; die "Menschen würden in einer widerlichen Antwortenmast antwortengestopft, sie trügen früh ein Antwortengehirn, ein Responsbewusstsein davon, eine Antwortenleibigkeit, sie würden zu Antworten erzogen, zu Kopfgeldjägern ungestellter Fragen." Der hier mit solch unbändiger, ansteckender Sprachlust Worte, Figuren, Redeweisen und Ausdrucksgewohnheiten überführt, auflöst, überlistet und neu schöpft, ist selbst ein Sprachkritiker, freilich einer, der den abendländischen Sprachkäfig sprengt. Wittgenstein forderte, über das Mystische, das Unaussprechliche zu schweigen, der Nichtstuer dagegen formuliert: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber kann man auch nicht schweigen." Mit rasanter Überzeugungskraft zieht er über die klitternden Sprachzuhälter genauso her wie über die Sprachebewahrer mit ihrem Eunuchengefistel, über das Sprachgebreche hermetischer Rätselpopen genauso wie über die Meute der Aufklärungsgeber mit ihren erigierten Zeigefingern oder das öffentliche Schnalzen der Kauwerkzeuge von Talkmastern.

    Der einzige Umgang mit der Sprache, den der Nichtstuer anerkennt, ist das Übersetzen, jene zwischen Menschen und Sprachen vermittelnde Tätigkeit, die immer im Fluss ist. Denn ein festes Original existiert nicht - bei dem chinesischen Weisen Dschuangd-se, dem Leib- und Magenbuch des Nichtstuers, genausowenig wie bei seinem Zeitgenossen Heraklit. Ja, jede fixe Identität, als Ich-Identität oder Dingdefinition, ist Illusion, Last und Lüge.

    Leicht und schnell sprudeln diese Gedanken - denn der glasklare, mäandernde Sermon des Nichtstuers ist keine philosophische Abhandlung, sondern ein mitreißender Erzählschwall, ein flüchtiges, aber radikales Bekenntnis und zugleich eine schillernde Lebensgeschichte. Sie ist im Konjunktiv gehalten - nicht nur, weil der Sprachfluss des Nichtstuers indirekt wiedergegeben wird, sondern weil der Konjunktiv die angemessenste Form eines Denkens ist, das Daten und Fakten, Definitionen und Endgültigkeiten auflösen will. Erkenntnis, darin kulminiert der zarte Bericht des Nichtstuers über seinen Vater, ist ein Hut, der auf einem Fluss vorbeischwimmt, ein Punkt, der Anhaltspunkt ist, ohne anzuhalten. Und so gibt der Nichtstuer am Ende sogar seine Flussbeobachtung auf und lässt die mit chinesischen Schriftzeichen bedeckten Seiten des Dschuangdse-Buches aufs Wasser flattern. Seine Philosophie aber geht weiter: "Wir brauchen Schulen des Verlernens, Seminare des Wartens, Bleibenlassens und Gar-Nicht-erst-Anfangens, wir brauchen Wettbewerbe des Abwartens, der Nacheiligkeit, Preise für nicht in Angriff genommene Dinge, Goldmedaillen für Trainigsrückstände, Zehnkämpfe im Unterliegen." Vielleicht, so wird angedeutet, finden wir den Nichtstuer irgendwo als Besitzer eines Toto-Lotto-Ladens wieder. Bis dahin sollten wir unbedingt seinen Bericht lesen.