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Der Nimbus der Nation

20. April 1948, genau zwei Monate vor dem Tag, an dem die D-Mark das Licht der Welt erblicken wird: In Bad Homburg startet ein Bus mit undurchsichtigen Milchglasscheiben Richtung Rothwesten bei Kassel. Er unterliegt dem Kommando von Lt. Col. Emory D. Smoker und bringt Mitglieder der "Sonderstelle Geld und Kredit", die unter der Leitung von Ludwig Erhard und dem Münchner Stadtkämmerer Erwin Hielscher steht, in einen streng bewachten amerikanischen Fliegerhorst in Nordhessen.

Von Jürgen Roth | 08.06.2008
    Dort werden die letzten entscheidenden und geheimen Vereinbarungen über die Modalitäten der Abschaffung der Reichsmark und der Einführung jener Währung getroffen, die über fünf Jahrzehnte lang ein Kernelement des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland bleiben wird.

    Das Konklave von Rothwesten im Haus Posen, einem mit Stacheldraht eingezäunten Kasernengebäude, trägt in der Rückschau durchaus bizarre Züge. Karlheinz Walz schreibt über die "Die Geschichte der Deutschen Mark in Ost und West":

    Anstatt bequemer Einzelzimmer gab es spartanisch eingerichtete Kasernenstuben und Gemeinschaftswaschräume, anstelle gehobener Verpflegung einfache amerikanische Militärkost. Dieses Umfeld war eher dazu geeignet, den Frust zu fördern als effizientes Arbeiten. So berichtete Prof. Hans Möller, das letzte überlebende und erst 1996 in hohem Alter verstorbene Konklave-Mitglied, dass an dem Stacheldrahtverhau Schilder mit der Aufschrift "Fence jumpers will be shot" , das heißt "Zaunkletterer werden erschossen", angebracht waren, dass die Konklave-Teilnehmer anfangs nur eine Stunde täglich an die frische Luft durften, und das nur in den Abendstunden und unter strenger Bewachung [ ... ]. Kontakte zu Angehörigen waren zu Beginn verboten beziehungsweise unterlagen der Zensur. Erst nach massiver Beschwerde wurden Bedingungen, Verpflegung und Unterbringung verbessert.
    Werner Meyer, früherer Chefreporter der Münchner Abendzeitung, bezeichnet in seiner Retrospektive "Mythos Deutsche Mark - Zur Geschichte einer abgeschafften Währung" die Inthronisation der D-Mark als "abenteuerlich". In den drei Jahren von 1945 bis 1948, in denen Konzepte über Konzepte , 300 sollen es gewesen sein, zur Einführung einer neuen Währung entwickelt worden waren, sei das Wesentliche streng geheim oder wenigstens geheimnisvoll gewesen: vom wahren Vater der D-Mark, einem gewissen, völlig unbekannten US-Leutnant Edward Tenenbaum, über die unzähligen Akten und internen Erlasse der US-Amerikaner bis zur Operation "Bird Dog", in deren Zuge die neuen Geldnoten im Frühjahr 1948 schließlich per Schiff von den USA nach Frankfurt am Main gebracht wurden.

    Hans Möller, der die Unterbringung der deutschen Finanzfachleute in Rothwesten als "deprimierend" charakterisierte und zugleich "die vertrauensvolle und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen den deutschen Experten" hervorhob, umriss die Aufgaben, die hinter Schloss und Riegel zu bewerkstelligen waren:

    Gewissermaßen über Nacht das gesamte alte Reichsmark-Geld aus den Portemonnaies, den Kassen, den Tresoren usw. herauszuziehen und durch einen Mindestbetrag an neuer DM zu ersetzen, damit der Zahlungsverkehr und damit das gesamte Wirtschaftsleben durch die Einführung der DM-Währung möglichst wenig gestört wurde.

    Diesen gigantischen Anforderungen, die nun gemeistert werden mussten (man einigte sich nach wochenlangen Diskussionen auf eine Kopfquote von 60 DM, Bankguthaben sollten im Verhältnis 10:1 umgetauscht werden, feste Verbindlichkeiten wie Löhne, Mieten und Renten im Verhältnis 1:1), waren drei existenziell schwierige bis chaotische Jahre vorausgegangen, und es konnte dem Expertengremium in Rothwesten auch nicht darum gehen, "das gesamte Wirtschaftsleben", das in weiten Teilen den Gesetzen des Schwarzmarktes und des Naturalienhandels gehorchte, neu zu regeln oder wenigstens zu verbessern.

    Im Gegenteil, Ziel der Währungsreform war es, das Nachkriegschaos zu bändigen, das Schieberwesen und die Blockaden in den Betrieben aufzulösen, die "unterdrückte Inflation" aufzuheben und "das gesamte Wirtschaftsleben" auf eine neue Grundlage zu stellen - mit dem Fernziel der "Sozialen Marktwirtschaft". Der Begriff stammte - bei aller bis heute fortgesetzten Sucharbeit in der Forschung - vom Münsteraner Nationalökonomen und Kultursoziologen Alfred Müller-Armack.

    Tausend Jahre sind vergangen, samt der Schnurrbartmajestät! Und nun heißt's: Von vorn anfangen! Vorwärts Marsch! Sonst wird's zu spät!
    In diesem Chanson Erich Kästners, das im Münchner Kabarett "Schaubude" zur Aufführung kam, drückt sich die Aufbruchsstimmung aus, die im Sommer 1945 in den drei alliierten Westzonen herrschte. Es hieß:

    Denn wir hab'n ja den Kopf, denn wir hab'n ja den Kopf noch fest auf dem Hals", hieß es.
    Flüchtlingselend, Lebensmittelknappheit, Armut und Streiks gegen den Hunger werden hier noch nicht besungen. Doch das sollte sich bald ändern. Bereits 1947, nach dem berüchtigten "Hungerwinter", war von dem Aufatmen, überlebt zu haben und vor einem Neuanfang zu stehen, nicht mehr viel zu spüren. Erich Kuby schildert:

    Bei einer Tagesration im Nährwert von 1.500 Kalorien, seien viele Deutsche in einer derart schlechten körperlichen Verfassung, dass sie eine weitere Herabsetzung der Zuteilung an Nahrungsmitteln nicht mehr überstehen würden. Alle Kinder zwischen 6 und 14 Jahren, alle alten Leute, alle "Normalverbraucher" befänden sich in Lebensgefahr, wenn die Versorgung nicht bald verbessert werden könnte.
    Auf dem blühenden Schwarzmarkt stiegen die Preise für Lebensmittel und Grundgüter, die gegen Bezugsscheine kaum oder gar nicht mehr erhältlich waren. Es waren ungeheure Mengen der praktisch wertlos gewordenen Reichsmark im Umlauf, ohne dass denen ein Angebot von Waren gegenüberstand. Karlheinz Walz erläutert:

    Der immense Kaufkraftüberhang in den Händen sozusagen konsumgedrosselter Verbraucher entfaltet seine inflatorische Sprengkraft, die die diversen Varianten des Schwarzmarkts in all ihren Facetten wuchern lässt.
    Ludwig Erhard erinnert sich in seiner Kritik an die damals dominierenden Verfechter der Planwirtschaft in allen Parteien und Gruppen:

    Es war die Zeit, in welcher man errechnete, dass auf jeden Deutschen nur alle fünf Jahre ein Teller komme, nur alle zwölf Jahre ein Paar Schuhe, nur alle fünfzig Jahre ein Anzug, dass nur jeder fünfte Säugling in eigenen Windeln liegen konnte, dass aber jeder dritte Deutsche die Chance habe, in seinem eigenen Sarg beerdigt zu werden.
    Allein, Edward Tenenbaum, der junge Finanzberater der amerikanischen Militärregierung, der das Konklave von Rothwesten sowie die Operation "Bird Dog" leitete, schätzte die Lage anders sein. Seine unsentimentalen Ausführungen, die Werner Meyer zitiert, dürften bis heute für Erstaunen sorgen. Denn Tenenbaum schrieb in seinen nie gedruckten, höchst irritierenden Memoiren, in denen er den Nachkriegsdeutschen mehr Selbstmitleid als Hunger unterstellt:

    Es gab natürlich einige Gruppen von Deutschen, die schwer unter der Nahrungsmittelknappheit litten, besonders sehr alte Leute und einige Kinder. Für die Mehrheit der Deutschen gilt, dass ihr Hunger ein Märchen war, geboren aus einem wohlentwickelten Instinkt für Selbstmitleid der Deutschen und dem Mitgefühl der Alliierten für den "underdog", den Schwächeren. Die Tatsachen, die das Märchen vom Hunger platzen hätten lassen können, wurden sowohl von den deutschen Ernährungsbehörden wie von ihren Partnern in den britischen und amerikanischen Militärregierungen verborgen [ ... ]. Während die normalen Rationen tatsächlich klein waren, musste praktisch kein Deutscher davon leben.
    Das sagte ein 25-Jähriger, der zu Beginn seiner Tätigkeit über keinerlei praktische Erfahrung auf dem Gebiet des Geld- und Währungswesens verfügte, aber in kurzer Zeit als Autorität anerkannt war. Der wahre Grund für die Währungsreform entsprach nicht selbstloser Gestimmtheit, sondern einem politisch-ökonomischen Kalkül. Der berüchtigte Morgenthau-Plan vom September 1944, der als "Programm, um Deutschland davon abzuhalten, einen dritten Weltkrieg zu beginnen" die territoriale Zerschlagung Deutschlands, die totale Demontage seiner Industrien und die Umwandlung in ein reines Agrarland vorsah, ist zu keinem Zeitpunkt ernsthaft diskutiert worden. Statt dessen galt es im Rahmen des sich rasch zuspitzenden Konflikts zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion, der am 20. März 1948 einen ersten Höhepunkt erreichte, als Marschall Sokolowski den Alliierten Kontrollrat verließ, die Westzonen zum Puffer gegenüber der Einflusssphäre Moskaus auszubauen. Dazu bedurfte es zum einen eines - übrigens für ganz Europa geltenden - Hilfsprogramms, des "European Recovery Program's", kurz: des Marshall-Plans, - dessen Wirkung freilich mehr auf im Psycholgischen zu sehen ist -, außerdem der Reorganisation der Finanzwirtschaft nach marktwirtschaftlich-liberalen Prinzipien und schließlich des Wiederaufbaus der deutschen Wirtschaft.

    Und Erich Kuby, damals für die Süddeutsche Zeitung tätig, fasste seine Eindrücke vor der Währungsreform wie folgt zusammen:

    Es war erstaunlich, für deutsches Geld legten deutsche Hühner keine Eier, trugen deutsche Obstbäume kein Obst, gaben deutsche Kühe keine Milch. Mit anderen Worten, die Geldentwertung offenbarte drastisch, was der Mensch ist oder wozu er wird, wenn seine materiellen Interessen auf dem Spiel stehen: zu einem inhumanen, widerlichen Egoisten. Natürlich gab es auch vor der 'Währungsreform‘ Kirschen zuhauf, Milch in Strömen, Fleisch zu Bergen, aber nur für diejenigen, die über Sachwerte oder Devisen verfügten, das heißt die tauschen konnten.
    Am Tag nach der Währungsreform, am 21. Juni 1948, füllten all die Waren, die seit Monaten von Kaufleuten gehortet und von der Bevölkerung vermisst worden waren, plötzlich die Auslagen und Regale. Das damalige Wunder der D-Mark, ein "Schaufenstereffekt", war kein hausgemachtes, sondern ein durch die US-Administration unter außenpolitischen Aspekten forciertes Programm zum Anschub der Produktiv- und Marktkräfte und zur Neuordnung der monetären Rahmenbedingungen auf jenem Territorium, an dessen Ostgrenze ein dem expansiven Kommunismus verschworenes Regime herrschte.

    General Lucius D. Clay, der Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, erklärte noch zur Situation im Frühjahr 1947

    Je schneller wir den Ernährungsstand verbessern, desto schneller können wir erwarten, dass die deutsche Industrie wieder zum Leben erwacht, und desto schneller wird die Zeit kommen, in der deutsche Exporte die Kosten der laufenden Importe decken.
    Die D-Mark galt seitdem als "ein Garant für wirtschaftliche Sicherheit und Wohlstand". Hymnisch-wehmütige Töne künden bis heute noch davon, sie sei der maßgebliche Schritt zur Staatsgründung der Bundesrepublik ja eine "nationale Ikone" gewesen. Noch 1999 auf einer Tutzinger wurden die Einführung der D-Mark als "das eigentliche Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland" und die D-Mark als ein "Symbol für Jahrzehnte des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands" gefeiert:

    Die Währungsreform im Jahre 1948 und die zeitgleiche Einführung der Sozialen Marktwirtschaft erwiesen sich als ein Glücksfall für Deutschland. Die vielgerühmte Stabilität der bundesdeutschen Demokratie und ihre Einwurzelung in den Gefühlshaushalt der Bürger wären ohne das sprichwörtliche Wirtschaftswunder mit der D-Mark als weltweit anerkannter Währung so schnell nicht Wirklichkeit geworden.
    Woher rührt dieser nationalgeschichtliche Nimbus, diese Gloriole eines, ökonomisch nüchtern betrachtet, primär als Wertvergleichs-, Tausch- oder Wertaufbewahrungsmittels anzusehendes Medium? Wie konnte es dazu kommen, dass noch Ende der achtziger Jahre ein früherer Vizepräsident der Deutschen Bundesbank feierlich erklären konnte, die "Stärke und Solidität" der D-Mark seien zu einer Art Gütezeichen für die Bundesrepublik geworden"?

    Der Historiker und Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg erzählt in seinen Memoiren von einem konspirativen Treffen einiger Herren im Oktober 1944 in Berlin. In der Runde anwesend ist auch Ludwig Erhard, der am Rande der Unterhaltung Eschenburg eine Denkschrift aus dem März des gleichen Jahres überreicht, betitelt "Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung". Sie sollte zur "Geburtsurkunde der Sozialen Marktwirtschaft" werden. Eschenburg erinnert sich:

    In den ersten Sätzen stand nach meiner Erinnerung ungefähr: Nachdem einwandfrei feststehe, dass Deutschland den Krieg verloren hätte, wäre die dringende Aufgabe, die Reform seiner Währung vorzubereiten. [ ... ] Wie konnte einer, nach dem, was wir nach dem 20. Juli erlebt hatten, es überhaupt noch wagen, so etwas niederzuschreiben, einer anderen Person in die Maschine zu diktieren und vervielfältigen zu lassen?
    Erhard stellte in besagtem Traktat seine großen prognostischen Fähigkeiten unter Beweis. Er sah den Schwarzmarkt und die überschüssige Nachfrage voraus, legte das Umtauschverhältnis der künftigen Währungsreform auf 10:1 fest und postulierte eine enge internationale Zusammenarbeit. Erhard in seinem Fazit:

    An dieser sehr realen Aufgabe des Wiederaufbaues einer neuen Welt auf den Trümmern der teils vernichteten, teils einseitig verzerrten Wirtschaft mag sich eine wahre und echte Solidarität der Völker erweisen und erhärten.
    Erhards politischer Aufstieg nach dem 8. Mai 1945 vom bayerischen Wirtschaftsminister in der Regierung des Sozialdemokraten Wilhelm Hoegners zum Vorsitzenden der "Sonderstelle Geld und Kredit", die den "Homburger Plan" zur Reform der Währung entwarf, und schließlich, am 2. März 1948, zum Direktor für Wirtschaft der Bizone ließ ihn zur Repräsentationsfigur des Neuanfangs und zur Inkorporation des "Wirtschaftswunders" werden, das nicht wie ein Kaninchen aus dem Zylinder gezogen wurde, sondern dem ein mühsamer Willensbildungsprozess vorausgegangen war. Konrad Adenauer hatte um den stets parteilosen Franken werben müssen, im innerparteilichen Kampf gegen planwirtschaftlich denkende Köpfe wie Jakob Kaiser oder Karl Arnold, die Anhänger des Ahlener Programms oder die sozialkatholischen Wallberberger Priester. Gegen

    Widerstände in sämtlichen Parteien und in den Gremien der Alliierten - die beispielsweise eine Umtauschquote von 10:3 forderten, setzte Ludwig Erhard einen radikalen Schnitt durch:

    Der Verfechter "der härtesten Währungsreform", das heißt der Verknappung des Geldes um neunzig Prozent, führte am 21. April 1948 in seiner Rede "Weg in die Zukunft" in Frankfurt am Main aus:

    Nicht in der Nivellierung des Mangels und der Not, sondern in der gerechten Verteilung eines mählich wachsenden Wohlstandes muss das Heil gesucht werden.
    Am 14. Juni des Jahres sorgte Erhard im Verwaltungsrat für Wirtschaft, dem Vorläufer des Bundesparlaments, für die Verabschiedung des "Gesetzes über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform", das nahezu sämtliche Güter - gegen den Willen der Alliierten - aus der Bewirtschaftung und Preisbindung herausnahm.

    Damit war der Weg geebnet zu der von Erhard empfohlenen Öffnung der Märkte, des Wettbewerbs, des frei investierenden Unternehmertums und der freien Konsumwahl. Diese Regelungen, durch die viele Güter aus der Rationierung, Preisbindung und Bewirtschaftung herausfielen, stellten - nach der DM-Einführung 1948 - die eigentliche Wirtschaftsreform dar.

    Die "große Freiheit in der Marktwirtschaft", wie Werner Meyer sie verstand, nahm hier in der von Ludwig Erhard beschworenen "freien Wahl des Arbeitsplatzes und vor allem in der Freiheit des Konsums" ihren Anfang. Eine Nation mobiler Konsumenten und Unternehmer war geboren - und mit ihr das Selbstbild und -verständnis eines stetig prosperierenden jungfräulichen Staates, in dem, wie es später Wirtschaftsminister Karl Schiller ausdrückte, "die natürliche Beziehung zwischen Leistung und Gegenleistung wiederhergestellt" worden war.

    Jürgen Habermas sah es systemkritischer: Der Staat Bundesrepublik habe seine "Identität" weder aus geschichtlichen noch aus kulturellen Ressourcen schöpfen können, weil der westorientierten Bundesrepublik von "der Rückgriff auf eine nationalgeschichtliche Identitätsbildung verwehrt" geblieben sei:

    Auf dem Wege der Abwehr und der Ausklammerung der negativ besetzten Periode des Nationalsozialismus, sind in Deutschland die narrativ hergestellten nationalgeschichtlichen Kontinuitäten zerbrochen. Längerfristig hat dieser Schock auch einen Einbruch der Reflexion ins öffentliche Geschichtsbewusstsein ausgelöst und die Selbstverständlichkeiten einer vom Nationalismus geprägten kollektiven Identität erschüttert.
    Habermas versucht der "stummen Überzeugungskraft des ökonomischen Erfolgs" eine prägende Kraft für den 'mentalen Haushalt‘ der Bundesrepublik zuzuschreiben. Die D-Mark und das Wirtschaftswachstum hätten den aus Verdrängung und Verschweigen entstandenen kollektiven Leerraum besetzt.

    Die Währungsreform von 1948 sei eine alliierte Maßnahme gewesen, die von deutscher Seite unterstützt worden sei, hob Karl Schiller 1989 hervor. Bei dieser Gelegenheit erinnerte er daran, dass die Ministerpräsidenten der Länder 1946 von den Amerikanern regelrecht gedrängt werden mussten, die Entzerrung des Bankwesens und die Einrichtung einer unabhängigen Zentralbank - der Bank deutscher Länder - gemäß den Vorschlägen des Colm-Dodge-Goldsmith-Plans endlich anzugehen.

    Es handelte sich also um ein Geflecht aus administrativen
    (Geheim-)Entscheidungen, welt- und bündnispolitischen Strategien, Ludwig Erhards wirtschaftspolitischen Grundsatzerklärungen und symbolisch aufgeladenen Erzählungen und Legenden über die wundergleiche Auferstehung aus Trümmern und Ruinen, gegen die sich Ludwig Erhard freilich immer mit den Worten gewandt hatte, er sei kein Wundertäter.

    Der Erhard-Biograf Volker Hentschel weist auf vielerlei widersprüchliche Aussagen in Erhards politischer Karriere hin und nennt den "Vater des Wirtschaftswunders" einen "Adepten und Proselyten". "Erhard war nicht der Vater des Gedankens", konstatiert Hentschel, sondern als Franz-Oppenheimer-Schüler sozialer Liberaler gewesen, der in der Kriegszeit eher ein kritischer Betrachter des lenkenden, planenden und den Krieg verlierenden Staates war. Zur klassischen Sozialpolitik hielt er Distanz. Sein Einfluss werde heute noch enorm überschätzt. Hentschel geht soweit zu sagen:

    Die beiden maßgeblichen ordnungspolitischen Grundlagengesetze, ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und ein Zentralbankgesetz, lagen vor, als Erhard erst Direktor der bizonalen Verwaltung für Wirtschaft und dann Bundeswirtschaftsminister wurde. Das Wettbewerbsgesetz war von den angelsächsischen Besatzungsmächten oktroyiert, das Zentralbankgesetz von ihnen inspiriert worden. Dem Wettbewerbsgesetz hatte Erhard sich als bayerischer Wirtschaftsminister vehement widersetzt, weil es Erholung und Wachstum hemme. Mit dem Gesetz über die Bank deutscher Länder hatte er nichts zu tun gehabt.
    Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass die "Fixierung der nachkriegsdeutschen Geldpolitik auf den Grundsatz 'stability first‘" den standortmythischen Ruhm der Bundesrepublik als Exportnation Nummer eins begründet hat. Die D-Mark hat, über alle konjunkturellen Krisen seit den siebziger Jahren hinweg, ihre Strahlkraft nie verloren, auch nach ihrer Abschaffung bei einem ziemlich großen Teil der Bevölkerung nicht.
    "Kommt die D-Mark nicht nach hier, kommen wir zu ihr", skandierten die Bürger der in Auflösung begriffenen DDR 1990 aus Not, Freude, Erwartung, sicher auch aus Illusionen. Die Kritiker und Wiedervereinigungsgegner sahen darin einmal mehr die Bedeutung der von Marx bespöttelten "Magie des Geldes" bestätigt, schwangen Bananen - wie Otto Schily - oder beklagten - wie Jürgen Habermas - einen heraufziehenden "DM-Nationalismus".

    Die D-Mark wurde zum Katalysator der deutschen Einheit. Der "Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion" wurde am 19. Mai 1990 unterschrieben, und trat am 1. Juli in Kraft, die Beträge wurden im Verhältnis 2:1 umgestellt, und die Hoffnung auf die glückverheißende harte Währung kannte keine Grenzen. Der SWR berichtete:

    Bis zum Abend des 2. Juli zählte allein die Sparkasse der Stadt Berlin rund 320.000 Kunden. Bei den 15.000 Bankfilialen in der DDR wurden am Tag der Währungsumstellung 3,4 Mrd. DM abgehoben.
    Jürgen Habermas befürchtete daraufhin die "Potenz eines erweiterten Imperiums der D-Mark" und ihre identitätsstiftende Funktion:

    Wird die D-Mark libidinös besetzt und in der Weise emotional aufgewertet, dass eine Art wirtschaftsnationale Gesinnung das republikanische Bewusstsein überwältigt?
    Nachdem die D-Mark Ende Februar 2002 vollständig aus dem Zahlungsverkehr verschwunden war, blickte der Monatsbericht März der Deutschen Bundesbank noch einmal mit hohem Respekt auf jene fast vierundfünfzig Jahre zurück, "in denen die D-Mark auch international zu einem Symbol für wertstabiles Geld und wirtschaftlichen Wohlstand wurde".

    Seit der Einführung des Euro zum 1. Januar 2002 scheinen sich - trotz der in den Boulevardmedien regelmäßig wiederkehrend beschworenen "Wut auf den Teuro" - die festen, sozialpsychologisch nach wie vor nicht hinreichend ausgeloteten Bindungen an die Deutsche Mark gleichwohl peu à peu ein wenig zu lockern, scheint jener Mythos allmählich etwas zu verblassen, der seine wie immer geartete integrative gesellschaftliche Kraft über Jahrzehnte hinweg nicht verlor. Zudem richtet die rasante Globalisierung und in deren Zuge die Expansion und krisenhafte Entwicklung spekulativer Finanz- und Fondsmärkte heute, da die Rolle des - so Joachim Hirsch - "nationalen Wettbewerbsstaats" im Weltmaßstab gänzlich neu zu definieren sei, das Augenmerk womöglich wieder stärker auf eine substanzielle Kritik an einer über das allgemeine Warenäquivalent vermittelten und organisierten (Welt-)Gesellschaft zu richten sei.

    Der linke Ökonom Elmar Altvater bemerkt dazu in seiner Kritik am Geldfetischismus als Strukturprinzip der globalen Ökonomie:

    Geld ist ein Rätsel, das die ökonomische Theorie bis heute nicht hat lösen können. Das liegt vor allem daran, dass sie die falschen Fragen stellt. Das Geld ist insofern das "wahre Gemeinwesen". Man muss Geld erwerben, um gesellschaftlich zu gelten. Mit dem Geld verbindet sich ein Fetischismus, der die gesellschaftlichen Widersprüche und Entwicklungstendenzen in ein verklärendes Dämmerlicht taucht, das deren Konturen nicht mehr erkennen lässt. Besonders trübe ist das Licht, in das die globalen Finanzmärkte getaucht sind. Die monetäre Sphäre scheint von der realen Ökonomie, also von der Welt der Arbeit, entkoppelt zu sein. Daher rührt die Verachtung, mit der Geldleute und ihre Wasserträger, die sogenannten "Analysten", auf diejenigen herabschauen, die Geld durch Hand- und Kopfarbeit verdienen und nicht, indem sie Geld für sich 'arbeiten‘ lassen.
    Appelle an die Politik, Auswüchse des Manager- und Börsenkapitalismus durch gesetzliche Regeln einzudämmen, dürften wohl verhallen, denn anders als zu Zeiten des sog. Wirtschaftswunders, als bündnispolitisch bedingte staatliche Interventionen und Investitionen der Idee der Sozialen Marktwirtschaft und schließlich des Sozialstaates auf die Beine halfen, ist dieser Tage die "soziale Balance" beziehungsweise der "historische Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital" nicht mehr gewährleistet. Dieser Bruch und Verlust der Balance liege, so der Soziologe Claus Offe, "an Europa, an der sog. Globalisierung, am Ende des Kalten Krieges", der dazu genötigt habe, verteilungspolitische Kompromisse zur Demonstration westlicher Systemüberlegenheit einzugehen."

    Ungeachtet spezieller geschichtlicher Konstellationen bleibt das Rätsel des Geldes - seine Macht, seine emotionale Attraktivität - ungelöst. Womöglich spielen dabei weniger moralische und politische als vielmehr opake anthropologische Gründe eine gewichtige Rolle.

    Das Thema Geld - gab der philosophierende Kabarettist Gerhard Polt jüngst zu bedenken,

    ist natürlich ein Thema wie Glaube, Liebe, Hoffnung. Da kannst dir Zeit lassen. Das geht ja zurück bis in die frühesten menschlichen Kulturen. Da reden wir von 8000 Jahren vor Christus. Rein philosophisch geht es um die Frage: "Hab' ich es, das Geld, oder hat es mich?"
    Die affektive Beziehung, die das Geld erzeuge, habe auch was mit Nekrophilie zu tun.

    Wesentlich weniger dramatisch hat der Soziologe Niklas Luhmann das Geld begrifflich gefasst. Für ihn steht zum Beispiel fest,

    dass Organisation nur geldabhängig funktionieren kann und dass auf diesem indirekten Wege alle Funktionssysteme, soweit sie Organisationen benutzen, in Geldabhängigkeit geraten. Wer Organisation braucht, braucht Geld.
    Die D-Mark ist nicht weggelaufen. Sie vermochte, so hart und stabil sie auch war, vor der Geschichte der globalen Ökonomie, aber auch vor den Konsequenzen der deutschen Einheit nicht standzuhalten und wurde durch einen konzertiert-europäischen Akt abgeschafft. Welchen enormen Respekt sie wegen ihrer stets soliden Härte unter unseren Nachbarn einflößte, beweist noch immer die Tatsache, dass Staats- und Regierungschefs ihr Ja zur deutschen Wiedervereinigung von der späteren Abschaffung des bundesdeutschen Stabilitätssymbols abhängig zu machen versuchten. Vermisst wird sie bisweilen noch immer, die DM, beklagt wird ihr unvermeidlicher Verlust, als sei damit auch ein selbstbewusstes Symbol an nationaler Souveränität und gewiss auch ewiger Prosperität dahingegangen.