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Der Obrist und die Tänzerin

Dyer, Ich-Erzähler und Lateinamerika-Korrespondent, will sich mit einem "wahren Meisterwerk" von seinem Büro in Rio de Janeiro verabschieden, bevor man ihn weglobt auf einen ungeliebten Posten in Moskau oder Jerusalem. Seine Reportage kommt nicht zustande, statt dessen entsteht dieses Buch, dieser eng an historischen Ereignissen entlanggearbeitete Roman. Ideen- und Inspirationsquelle ist zum einen Perus jahrelanger Kampf gegen den einstigen Philosophieprofessor und Terroristen Abimael Guzmán und seine maoistische Terrorbewegung "Leuchtender Pfad".

Lutz Hagestedt | 29.04.1998
    Die zweite Haupt- und Erzählerfigur des Romans ist Oberst Agustín Rejas, ein Geheim-Ermittler der peruanischen Polizei, zugleich der Mann, der sich rühmen darf, den meistgesuchten Terroristen des Kontinents, Edgardo Vilas alias Presidente Ezequiel (alias Abimael Guzmán), zur Strecke gebracht zu haben.

    Dyer, der Lateinamerika-Korrespondent, und Agustín, der Polizeioberst, treffen halb gezielt, halb zufällig aufeinander. Sie kommen ins Gespräch, weil sie dasselbe Buch lesen: "Krieg im Sertão" von Euclides da Cunha. Das geniale Reportagenwerk "Krieg im Sertão" stellt so etwas wie die Geburtsstunde der modernen lateinamerikanischen Literatur dar. Die wichtigsten Autoren haben der virtuosen Erzähltradition, die es begründete, Referenz erwiesen. Man denke an den magischen Realismus Manuel Scorzas und - den berühmteren Fall - an Manuel Vargas Llosa und seinen Roman "Der Krieg am Ende der Welt".

    Wie ein Palimpsest scheint "Krieg im Sertão" auch hier unterlegt zu sein. Dieses Buch steht in der Logik von Shakespeares Roman zeichenhaft für den tiefgreifenden Konflikt, den Peru in sich auszutragen hat, für die Metamorphose, die Dyer und Agustín erfassen wird: Beide reifen durch die Umstände zu Erzählern, ähnlich wie der Journalist und Ingenieur Euclides da Cunha im Angesicht des Schreckens zum Erzähler wurde.

    Agustín Rejas, der erfolgreiche Terroristenjäger, ist Mestize. Er trägt spanisches und indianisches Blut in sich und bildet insofern eine Durchschnittsmenge beider Kulturen. Er ist in den Hochanden aufgewachsen und hat seinen Weg in die peruanische Hauptstadt genommen. Er hat eine Weiße geheiratet und mit ihr eine zwölfjährige Tochter. Er kennt die Nöte der Armen ebenso wie die Bedürfnisse der Reichen.

    Ezequiel, der Terrorist, ist sein Antagonist. Er ist Indio, leidet aber an einer Krankheit des weißen Mannes - an der Psoriasis, der Schuppenflechte. Diese Krankheit ist sein Verhängnis: Sie nagt schmerzhaft an ihm, sitzt überall, hat sich im Nacken und an den Innenseiten der Beine ausgebreitet, ja sich bis in den Spalt der Hinterbacken vorangefressen. Sie macht ihm das Leben zur Hölle, so wie er anderen die Hölle auf Erden bereitet.

    In Nicholas Shakespeare Roman fungiert die Schuppenflechte als Bild für das dichte Gewebe des Terrors, das sich im Land ausbreitet. Der Terror dringt aus dem mythischen Hochland des Ausangate in die Täler und Dörfer vor und gelangt von dort in die Städte und bis nach Lima. In der Hauptstadt löst er Panik und eine Gegenbewegung des Terrors aus, die von General Lache, einem peruanischen Pinochet, ihren Ausgang nimmt. Jetzt wird auch von Staats wegen gemordet, wird mit brutaler Härte und Rücksichtslosigkeit gegen vermeintliche Sympathisanten Ezequiels vorgegangen - ohne erst Schuldbekenntnisse oder Beweise abzuwarten.

    Selbst Agustín wird mürbe: Denn der Staatsterror stellt alles in Frage, wofür er gekämpft hat. Schon beginnt er, sich wiederholt selbst im Nacken zu kratzen, als habe die Flechte des Terrors auch auf seine Haut übergegriffen.

    Es sind unter anderem diese kleinen Zeichen, die Shakespeares Buch spannend und wertvoll machen. Shakespeare erzählt bildhaft. Viele Mikrogeschichten aus Agustíns Polizeierfahrung bereiten den Leser schon frühzeitig auf den zentralen Konflikt des Romans vor. Oberst Agustín wird sich in eine Tänzerin verlieben und nicht glauben können, daß sie zum innersten Zirkel um Ezequiel gehört. Ihretwegen wird er dem Journalisten Dyer seine Lebensgeschichte erzählen.

    Der Engländer Nicholas Shakespeare (geboren 1957) hat ein beachtliches, handwerklich solide gearbeitetes Buch geschrieben. Er hat viele Jahre in Lateinamerika verbracht und sich den Respekt Mario Vargas Llosas erschrieben. Ein Wichtiges ist Shakespeare gelungen, und es ist schön, das beobachten zu dürfen: wie ein kontinentales, historisch eng begrenztes Thema geöffnet wird, wie sich eine Erzähltradition, die vor bald hundert Jahren auf einem winzigen Plateau begründet wurde, Thema der Weltliteratur wird.