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Der Opfermythos in Österreichs Erinnerungskultur

Viele Österreicher betrachten ihr Land nach wie vor ausschließlich als Opfer der Hitler-Regimes. Mittäterschaften wurden erst spät und nur selten thematisiert. Hier setzt Maximilian Gottschlich an und liefert "kritische Befunde zur sozialen Krankheit" - dem Tabuthema Antisemitismus.

Von Karla Engelhard | 23.07.2012
    Wieder stört der Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich das Harmoniebedürfnis der Österreicher mit seiner unangenehmen Dauerfrage: "Wie antisemitisch ist Österreich?" Sie ist nicht nur Teil des Titels seines jüngsten Buches "Die Große Abneigung", sondern Leitfrage seiner kontinuierlichen Forschung in den vergangenen 25 Jahren.

    "Vergleicht man den Antisemitismus in Österreich mit dem Antisemitismus in Europa, dann könnte man eigentlich beruhigt sein. Weil wir nicht wesentlich antisemitischer sind als andere europäische Länder. Allerdings muss man dazu sagen, dass der Antisemitismus in Europa insgesamt ein Höchstmaß nach dem Krieg erreicht hat, sodass dieser Vergleich mit Europa wenig beruhigt, eigentlich. Um nur zwei Zahlen zu nennen: Zwölf Prozent der Österreicher sagen heute noch dass es besser wäre für Österreich, keine Juden im Land zu haben und immerhin jeder fünfte Österreicher würde sich dafür einsetzen, dass vermehrt Politiker auftreten, die etwas gegen den jüdischen Einfluss im Lande unternehmen. Das zeigt eigentlich, dass die hohen Erwartungen, die man in die Aufarbeitungsbemühungen, seit dem Fall Waldheim, seit 1986 gesetzt hat, dass diese Erwartungen eigentlich nicht erfüllt wurden."

    Maximilian Gottschlich schreibt nachvollziehbar und gut lesbar über die Entwicklung des Antisemitismus in Österreich nach 1945 bis in die Gegenwart, klar gegliedert in drei Kapiteln. Er beschreibt zum Einstieg das "Österreichische am Antisemitismus", kurz: den Opfermythos:

    "Der Opfermythos hat alle spärlichen Versuche der Aufarbeitung der Geschichte, der Frage: Welchen Anteil hatten die Österreicher an Schuld und Mitschuld an den Gräuel und an den Verbrechen des Nationalsozialismus (verhindert). All diese Fragen konnten unter dem Titel "Wir waren ja selbst Opfer", ausgeblendet werden. Und daher kommt es, dass Österreich sehr spät erst, im Unterschied zu Deutschland begonnen hat, sich mit seiner Geschichte zu beschäftigen."

    Für Gottschlich verlor Österreich mit der Affäre Waldheim, die Unschuld. Als im Frühjahr 1986 - im laufenden Präsidentenwahlkampf - das Magazin "Profil" die NS-Mitgliedschaft und die verschwiegenen Kriegsjahre in Uniform von Dr. Kurt Waldheim enthüllte. Waldheim war Präsidentschaftskandidat und früherer UN-Generalsekretär.

    "Die Affäre Waldheim war zwar ein Wendepunkt in der Geschichte Österreichs, weil von da weg eine neue Form der Erinnerungskultur gepflegt wurde: Aufklärungsaktivitäten, sei es an den Schulen oder in der Erwachsenen Bildung oder in der Politik - klar zu machen, dass Österreich natürlich Mitverantwortung trägt. Das war der positive Aspekt dieser Kehrtwendung, aber der negative Aspekt war, dass der Antisemitismus, der hier wieder aufgebrochen war, nicht weiter bearbeitet wurde, der ist dann wieder langsam in die Latenz verschwunden und man hat sich bis zum heutigen Tage nicht damit auseinander gesetzt."

    Heute, 25 Jahre später, diagnostiziert der Kommunikationswissenschaftler eine Symptomverschiebung zwischen "altem" und "neuem" Antisemitismus. Für ihn steckt hinter der Kritik an Israel alter Antisemitismus in neuem Gewand, eine Schuldumkehr.

    Dahinter stecke eine kollektive Entlastungsstrategie: Um die immer noch belastende schuldhafte Vergangenheit der Deutschen und Österreicher möglichst auszublenden, müsse der Fokus nur scharf genug auf die vermeintliche Schuld des jüdischen Staates gerichtet werden. Die Mechanismen der Schuldumkehr bestünden darin, die Verbrechen des Nationalsozialismus - Rassentrennung, ethnische Säuberung, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit - nun Israel vorzuwerfen.

    Ein auch in Deutschland weit verbreiteter Mechanismus - wir erinnern uns an die Israelkritik von Günter Grass in seinem Gedicht "Was gesagt werden muss" und die dadurch ausgelösten vertrauten Antisemitismus-Rituale.

    In Österreich ist Maximilian Gottschlichs Buch "Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich? Kritische Befunde einer sozialen Krankheit" eine große Ausnahmeerscheinung. Das Thema "Antisemitismus" bleibt ein Tabuthema in der österreichischen Öffentlichkeit. Jedoch wurde das Buch ausschließlich positiv in den Medien besprochen und sogar als ein Standardwerk begrüßt. Es ist keine Streitschrift, keine Provokation a la Henrik Broder "Vergesst Auschwitz", aber eine solide Diagnose einer sozialen Krankheit - die nicht nur in Österreich anzutreffen ist.


    Maximilian Gottschlich: Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich? Kritische Befunde zu einer sozialen Krankheit
    Czernin Verlag, 280 Seiten, Euro 24,90
    ISBN: 978-3-707-60410-8