Wer von Istanbul aus mit der Eisenbahn nach Osten will, muss zunächst über das Wasser. Mit einer alten Dieselfähre geht der Weg über den Bosporus hinüber, der Weg von Europa nach Asien.
Haydarpascha heißt der Sackbahnhof am östlichen Bosporusufer - ein klassizistischer Prachtbau, entworfen von deutschen Architekten. Die ehrwürdigen Schalterhallen mit den stuckverzierten Decken erinnern an die Anfänge der anatolischen Eisenbahn. Die Fahrkartenpreise auch: Umgerechnet 25 Euro kostet eine Reise von Istanbul ans andere Ende der Türkei.
Fast zwei Tage wird der "Ost-Express" für die 1500 Kilometer nach Kars an der armenischen Grenze brauchen. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist in das türkische Eisenbahnnetz nicht mehr investiert worden. Die Folge: 95 Prozent des türkischen Personenverkehrs werden über die Strasse abgewickelt. Von den zentralen Busbahnhöfen Istanbuls kann man heute in jeden Winkel des Landes fahren - das Bahnnetz dagegen entspricht dem Stand von vor 80 Jahren.
In einem ungeheizten Einzelabteil sitzt die 65-jährige Sura Tözumoglu mit ihrem Enkel Mahmud. Sie sind auf der Rückreise. Die beiden haben noch den ganzen Weg in ihre Heimatstadt Kars vor sich. Auf der Sitzbank stapeln sich Tüten mit Sesamkringeln und Hartwürsten. Auf dem Boden steht eine Fünf-Liter-Flasche Wasser. Der elfjährige Mahmut schaut stumm aus dem Fenster. Seine Beine sind teilweise gelähmt. Seit seine Mutter früh gestorben war, kümmert sich die Oma um ihn. Sura Tözumoglu probiert ihrem Enkel Mahmud die neuen Gehhilfen aus Istanbul an: Plastikschalen, die Ferse und Unterschenkel beim Laufen Halt geben.
"Zweimal im Jahr fahre ich nach Istanbul. Denn nur dort gibt es die Medikamente, die Physiotherapie und die ganzen orthopädischen Hilfen für meinen Enkel. Das alles haben wir in Kars nicht."
Der Zug passiert die dichten Wälder des Mittelgebirges von Bolu, langsam geht es bergan Richtung anatolisches Hochland. "Höchstgeschwindigkeit 90 Stundenkilometer" steht mahnend im Führerstand der Diesellok angeschlagen. Doch Lokführer Murat Yildirim würde sich ein solches Tempo auf den hundert Jahre alten Schienen ohnedies nicht trauen. Auf Geschwindigkeit kommt es ihm nicht an:
"Mir gefällt an meinem Beruf, dass wir die weit von einander entfernt wohnenden Familieangehörigen zusammenführen. Das macht mich stolz. Aber man muss verdammt aufpassen. Ständig kann einem etwas vor die Lokomotive laufen: Tiere, unachtsame Menschen, Fahrzeuge. Und dann die Gefahr von Steinschlag hier oben in den Bergen."
Von der miserablen Bezahlung und den schweren Arbeitsbedingungen erzählt der Lokführer erst als das Mikrofon abgeschaltet ist. Umgerechnet 700 Euro im Monat erhält er für eine 60-Stunden-Woche. Übermüdete Fahrer lösen in der Türkei immer wieder schwere Unfälle aus. Der schwerste ereignete sich im Juli 2004 als 34 Menschen in einem entgleisten Schnellzug starben.
Nach sieben Stunden hat der Zug die Hauptstadt Ankara erreicht. Die Diesellokomotive wird gewechselt, Arbeiter steigen ins Gleisbett, um die Kupplungen noch einmal zu überprüfen. Die von der Regierung versprochene Modernisierung des Schienennetzes kommt nur langsam voran. Immerhin ist jetzt eine Schnellbahntrasse zwischen Istanbul und Ankara im Bau.
So geht es nach einer halben Stunde im gemächlichen Tempo hinaus aus dem nächtlichen Ankara weiter Richtung Osten. Und je tiefer es in die karge Landschaft im Osten geht, desto versprengter tauchen nur noch einzelne Siedlungen und Höfe auf. Jeder dritte der 70 Millionen Türken lebt heute bereits in einer der Großstädte, in Istanbul, Ankara oder Izmir. Auch Familie Tözumoglu ist auseinandergerissen, beklagt Oma Sura. Drei Töchter wohnen mittlerweile in Istanbul:
"Ich vermisse meine Kinder sehr. Aber wenn ich sie besuchen will, kann mir mit meinen umgerechnet 300 Euro Rente nur die Eisenbahn leisten. Dabei wäre selbst der Bus schneller."
Hinter der Stadt Erzurum beginnt Kurdenland. Der seit zwei Jahren wieder heftig flammende Krieg zwischen der türkischen Armee und den kurdischen Separatisten von der PKK hinterlässt Spuren. Entlang der Route finden sich Kasernen, Bunker und aus Steinen geformte Halbmonde auf de Berghängen. Panzer und Armee-LKW sind die einzigen Schienengüter, die den Bahnreisenden auf dieser Strecke begegnen.
Als der Ost-Express nach 40 Stunden endlich sein Ziel erreicht, ist es dunkel: die Stadt Kars. Mahmud und seine Oma sind endlich wieder Zuhause.
Kars ist eine alte Stadt, in ihrer Geschichte abwechselnd regiert von Russen, Armeniern und Türken. Die Grenze zum Nachbarn Armenien ist geschlossen - auch darum ist Kars weit weg vom wirtschaftlichen Aufschwung der Westtürkei. Die meisten der 70.000 Einwohner von Kars sind Kurden. Wer nicht arbeitslos ist, lebt vom Handwerk oder Viehhandel.
Sura Tözumoglus Sohn Torul betreibt ein kleines Elektrogeschäft in einer dunklen Basarpassage der Karser Innenstadt. In der staubigen Auslage liegen Fernbedienungen für TV-Geräte und Glühbirnen. Mutter und Sohn sehen für sich hier keine Zukunft mehr:
"Mit einem behinderten Kind geht es hier einfach nicht mehr. Ich schaffe es nicht mehr hin- und herzufahren. Darum werden auch wir nächstes Jahr nach Istanbul ziehen."
"Die wirtschaftliche Situation hier ist einfach schlecht. Ich muss in Istanbul mein Glück versuchen. Sonst kann ich die teure Therapie meines Sohnes nicht mehr bezahlen."
In manchen Regionen des Ostens kommt ein Arzt auf 10.000 Einwohner. An Lehrern fehlt es ebenso. Trotz allgemeiner Schulpflicht erreicht die Analphabetenrate unter Frauen immer noch 20 Prozent. Darum werden, wie bald auch die Tözumoglus, weiter Tag für Tag Menschen in Anatolien ihre Koffer packen. Dann nehmen sie den Ost-Express in entgegengesetzter Richtung, auf der Suche nach Glück und Arbeit.
Haydarpascha heißt der Sackbahnhof am östlichen Bosporusufer - ein klassizistischer Prachtbau, entworfen von deutschen Architekten. Die ehrwürdigen Schalterhallen mit den stuckverzierten Decken erinnern an die Anfänge der anatolischen Eisenbahn. Die Fahrkartenpreise auch: Umgerechnet 25 Euro kostet eine Reise von Istanbul ans andere Ende der Türkei.
Fast zwei Tage wird der "Ost-Express" für die 1500 Kilometer nach Kars an der armenischen Grenze brauchen. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist in das türkische Eisenbahnnetz nicht mehr investiert worden. Die Folge: 95 Prozent des türkischen Personenverkehrs werden über die Strasse abgewickelt. Von den zentralen Busbahnhöfen Istanbuls kann man heute in jeden Winkel des Landes fahren - das Bahnnetz dagegen entspricht dem Stand von vor 80 Jahren.
In einem ungeheizten Einzelabteil sitzt die 65-jährige Sura Tözumoglu mit ihrem Enkel Mahmud. Sie sind auf der Rückreise. Die beiden haben noch den ganzen Weg in ihre Heimatstadt Kars vor sich. Auf der Sitzbank stapeln sich Tüten mit Sesamkringeln und Hartwürsten. Auf dem Boden steht eine Fünf-Liter-Flasche Wasser. Der elfjährige Mahmut schaut stumm aus dem Fenster. Seine Beine sind teilweise gelähmt. Seit seine Mutter früh gestorben war, kümmert sich die Oma um ihn. Sura Tözumoglu probiert ihrem Enkel Mahmud die neuen Gehhilfen aus Istanbul an: Plastikschalen, die Ferse und Unterschenkel beim Laufen Halt geben.
"Zweimal im Jahr fahre ich nach Istanbul. Denn nur dort gibt es die Medikamente, die Physiotherapie und die ganzen orthopädischen Hilfen für meinen Enkel. Das alles haben wir in Kars nicht."
Der Zug passiert die dichten Wälder des Mittelgebirges von Bolu, langsam geht es bergan Richtung anatolisches Hochland. "Höchstgeschwindigkeit 90 Stundenkilometer" steht mahnend im Führerstand der Diesellok angeschlagen. Doch Lokführer Murat Yildirim würde sich ein solches Tempo auf den hundert Jahre alten Schienen ohnedies nicht trauen. Auf Geschwindigkeit kommt es ihm nicht an:
"Mir gefällt an meinem Beruf, dass wir die weit von einander entfernt wohnenden Familieangehörigen zusammenführen. Das macht mich stolz. Aber man muss verdammt aufpassen. Ständig kann einem etwas vor die Lokomotive laufen: Tiere, unachtsame Menschen, Fahrzeuge. Und dann die Gefahr von Steinschlag hier oben in den Bergen."
Von der miserablen Bezahlung und den schweren Arbeitsbedingungen erzählt der Lokführer erst als das Mikrofon abgeschaltet ist. Umgerechnet 700 Euro im Monat erhält er für eine 60-Stunden-Woche. Übermüdete Fahrer lösen in der Türkei immer wieder schwere Unfälle aus. Der schwerste ereignete sich im Juli 2004 als 34 Menschen in einem entgleisten Schnellzug starben.
Nach sieben Stunden hat der Zug die Hauptstadt Ankara erreicht. Die Diesellokomotive wird gewechselt, Arbeiter steigen ins Gleisbett, um die Kupplungen noch einmal zu überprüfen. Die von der Regierung versprochene Modernisierung des Schienennetzes kommt nur langsam voran. Immerhin ist jetzt eine Schnellbahntrasse zwischen Istanbul und Ankara im Bau.
So geht es nach einer halben Stunde im gemächlichen Tempo hinaus aus dem nächtlichen Ankara weiter Richtung Osten. Und je tiefer es in die karge Landschaft im Osten geht, desto versprengter tauchen nur noch einzelne Siedlungen und Höfe auf. Jeder dritte der 70 Millionen Türken lebt heute bereits in einer der Großstädte, in Istanbul, Ankara oder Izmir. Auch Familie Tözumoglu ist auseinandergerissen, beklagt Oma Sura. Drei Töchter wohnen mittlerweile in Istanbul:
"Ich vermisse meine Kinder sehr. Aber wenn ich sie besuchen will, kann mir mit meinen umgerechnet 300 Euro Rente nur die Eisenbahn leisten. Dabei wäre selbst der Bus schneller."
Hinter der Stadt Erzurum beginnt Kurdenland. Der seit zwei Jahren wieder heftig flammende Krieg zwischen der türkischen Armee und den kurdischen Separatisten von der PKK hinterlässt Spuren. Entlang der Route finden sich Kasernen, Bunker und aus Steinen geformte Halbmonde auf de Berghängen. Panzer und Armee-LKW sind die einzigen Schienengüter, die den Bahnreisenden auf dieser Strecke begegnen.
Als der Ost-Express nach 40 Stunden endlich sein Ziel erreicht, ist es dunkel: die Stadt Kars. Mahmud und seine Oma sind endlich wieder Zuhause.
Kars ist eine alte Stadt, in ihrer Geschichte abwechselnd regiert von Russen, Armeniern und Türken. Die Grenze zum Nachbarn Armenien ist geschlossen - auch darum ist Kars weit weg vom wirtschaftlichen Aufschwung der Westtürkei. Die meisten der 70.000 Einwohner von Kars sind Kurden. Wer nicht arbeitslos ist, lebt vom Handwerk oder Viehhandel.
Sura Tözumoglus Sohn Torul betreibt ein kleines Elektrogeschäft in einer dunklen Basarpassage der Karser Innenstadt. In der staubigen Auslage liegen Fernbedienungen für TV-Geräte und Glühbirnen. Mutter und Sohn sehen für sich hier keine Zukunft mehr:
"Mit einem behinderten Kind geht es hier einfach nicht mehr. Ich schaffe es nicht mehr hin- und herzufahren. Darum werden auch wir nächstes Jahr nach Istanbul ziehen."
"Die wirtschaftliche Situation hier ist einfach schlecht. Ich muss in Istanbul mein Glück versuchen. Sonst kann ich die teure Therapie meines Sohnes nicht mehr bezahlen."
In manchen Regionen des Ostens kommt ein Arzt auf 10.000 Einwohner. An Lehrern fehlt es ebenso. Trotz allgemeiner Schulpflicht erreicht die Analphabetenrate unter Frauen immer noch 20 Prozent. Darum werden, wie bald auch die Tözumoglus, weiter Tag für Tag Menschen in Anatolien ihre Koffer packen. Dann nehmen sie den Ost-Express in entgegengesetzter Richtung, auf der Suche nach Glück und Arbeit.