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Der Outsider-Künstler

George Widener fand spät zur Kunst. Davor entschlüsselte er Spionagecodes für das US-Militär, lebte zeitweilig auf der Straße und verbrachte Stunden damit, Tausende Bücher auswendig zu lernen. Er ist ein sogenannter Savant mit Asperger-Syndrom - seine Ausstellung heißt "Secret Universe IV".

Von Carsten Probst | 27.01.2013
    In dem Hollywood-Streifen "Rain Man" von 1988 spielt Dustin Hoffman einen Autisten mit außergewöhnlichem Gedächtnis für Zahlen und einigen anrührend-schrägen Eigenschaften.
    Er weigert sich, mit dem Flugzeug zu reisen, weil er sämtliche Abstürze der Luftfahrtgeschichte mit Flugnummer und Anzahl der Toten aufsagen kann. Quasi über Nacht kann er sich alle Nummern in einem Telefonbuch merken, und als eine Packung Zahnstocher zu Boden fällt, erkennt er sofort, dass 3 x 82 Stück davon auf dem Boden liegen, insgesamt 246.

    Vorbild für die Filmfigur war Kim Peek, der es unter den autistischen Inselbegabungen zu Ruhm gebracht hat. Dieser Kim Peek, 2009 im Alter von 58 Jahren gestorben, hatte in Wirklichkeit sogar noch mehr drauf als Dustin Hoffmans "Rain Man". Nach eigenen Angaben kannte er den Inhalt von 12.000 Büchern auswendig, die er mithilfe einer besonderen Fähigkeit gelesen hatte: Peek konnte zwei Seiten gleichzeitig lesen, die eine mit dem linken, die andere mit dem rechten Auge.

    Kim Peek zählte auch zu den großen Idolen von George Widener, der ebenfalls auf der Liste von Menschen mit herausragenden Inselbegabungen zu finden ist, von denen es nicht allzu viele gibt auf der Welt.
    George Widener steht nun vor einem, vor seinen großformatigen Bildtafeln im Hamburger Bahnhof, lässt sich bereitwillig fotografieren und von einer Schar Kunstkritiker befragen, aber irgendwas ist anders als sonst. Die Fragen zielen auffallend weniger auf die Kunst selbst, als auf Wideners kuriose Art von Wahrnehmung schlechthin – und auf die Biografie des heute 50-Jährigen, die man fürwahr als bewegt bezeichnen kann. In den 80er-Jahren diente Widener bei der US Air Force in Deutschland, wo er wegen seiner Zahlenbegabung als Entschlüsseler von Spionage-Codes tätig war und damit zeitweilig zu den Top-Geheimnisträgern des Militärs gehörte. Später brach er sein Studium der Ingenieurwissenschaften ab, machte in der Amsterdamer Hausbesetzer-Szene mit, übernachtete später in Obdachlosen-Asylen, während er tagsüber in Bibliotheken Tausende Bücher in sein Gedächtnis scannte. Erst relativ spät, mit 38 Jahren, wurde er als Savant mit Asperger-Syndrom erkannt.

    Schon früh in seinem Leben habe er Zahlenbilder gemalt, berichtet Widener, aber erst nach und nach habe er zur Kunst gefunden. Im Jahr 2000 hatte er seine erste Galerieausstellung und kann inzwischen vor allem in den USA durchaus als etablierter Künstler bezeichnet werden. Auch in Deutschland und Europa vertreten ihn mehrere Galerien. Kunst bezeichnet er als Brücke für sich zwischen der Welt in seinem Kopf und der realen Welt. Zahlensysteme, Daten, Codes bestimmen seine Bilder, er ist fasziniert von mathematischen Figuren, Kalendern, superintelligenten Computern, denen er eine Verschmelzung mit dem menschlichen Geist vorhersagt und seine Vision einer friedlichen und menschenfreundlichen Welt eingibt. Andererseits erzählt er, dass sein Gehirn Bilder und Zahlen gleichzeitig sieht und seine Kunst die Möglichkeit bietet, diese seltsame Eigenschaft auszuleben. So entstehen kryptisch anmutende Deutungen des Weltgeschehens nach rechnerischen Methoden, Listen von Opfern und Begleitumständen von Katastrophen, aus denen Früherkennungssysteme zur Vermeidung allen Übels entstehen, aber auch Entwürfe für Megastädte der Zukunft, die auf der Basis von komplexen Kalenderdatenberechnungen eine utopisch anmutende Wohnidylle bieten sollen.

    George Wideners Ausstellung ist die vierte und vorerst letzte in der "Secret Universe" betitelten Reihe, durch die Kuratorin Claudia Dichter in erster Linie mit der noch immer gängigen Diskriminierung sogenannter Outsider-Künstler aufräumen will. Statt Künstler wie George Widener als exotische Sonderbegabungen zu begaffen, widmet ihnen Udo Kittelmann im Hamburger Bahnhof demonstrativ eine "normale" künstlerische Einzelschau, die für jeden der vier bisher Gezeigten zugleich einen Karriereschub auf dem regulären Kunstmarkt zur Folge hatte. Insofern ist dieses Ausstellungsformat plausibel: in Abgrenzung zu gut besuchten, aber sensationsheischend-zirkushaften Schauen wie "Weltenwandler - Die Kunst der Outsider" in der Frankfurter Schirn 2010. Dort wurde übrigens auch George Widener bereits eher vorgeführt als ausgestellt. Die Berliner Einzelschauen sind im Vergleich zu der Frankfurter zweifellos ein Fortschritt, ein würdevollerer Rahmen ohne Sensationsgier.

    Indem man hier nun aber einen Künstler wie Widener wegen seiner Zahlenobsession eilfertig mit Hanne Darboven, On Kawara oder mit der Zeichnerin Jorinde Voigt vergleicht, weicht man in Berlin wiederum der Frage aus, ob zum Staunen über sein Werk in diesem Fall nicht doch zwingend die kuriose Biografie des Künstlers gehört, die in Museen sonst doch programmatisch vom Alleingeltungsanspruch der Kunst getrennt wird. Und wie denn ausgerechnet Museen und freier Kunstmarkt als berufene Institutionen künstlerischer Gleichberechtigung taugen sollen, bleibt auch der Fantasie der Besucher überlassen.