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Der palästinensische Ministerpräsident Mahmud Abbas reicht seinen Rücktritt ein

Die Reise, die wir antreten, ist schwierig. Aber es gibt keine Alternative. Kein verantwortungsbewusster Führer kann weitere Monate und Jahre der Erniedrigung, des Tötens und der Trauer akzeptieren. Und diese verantwortungsbewussten Führer haben heute ihre Erklärungen für die Sache des Friedens abgegeben. Die USA sind dieser Sache verpflichtet und wenn alle Seiten ihre Verpflichtungen nachkommen, dann weiß ich, dass schließlich Frieden kommen kann

Peter Philipp | 06.09.2003
    US-Präsident George W. Bush Anfang Juni im jordanischen Rotmeerhafen Aqaba. Unter der Schirmherrschaft des jordanischen Königs Abdullah hatte Bush sich dort mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon und dessen palästinensischen Counterpart Mahmoud Abbas getroffen, um den Neubeginn der Friedensbemühungen zwischen Israel und den Palästinensern zu besiegeln.

    Ein optimistischer Ausblick, von dem drei Monate später nichts übrig geblieben zu sein scheint. Bereits am Donnerstag war "Abu Mazen" – wie Abbas immer noch seit seiner Zeit im PLO-Untergrund genannt wird – entschlossen, einen Schlussstrich zu ziehen: Vor dem palästinensischen Parlament machte keinen Hehl daraus, dass er auf sein Amt würde verzichten können, wenn die Abgeordneten ihn nicht mit den für diese Aufgabe nötigen Machtbefugnissen ausstatteten.

    Gemeint war vor allem der Konflikt mit PLO-Chef Yasser Arafat, der in den letzten Wochen immer deutlicher geworden war und Abu Mazens Machtposition unterminiert hatte. Arafat, der von Israel und den USA in beiden letzten zwei Jahren fast vollständig isoliert wurde, hatte Ende letzten Jahres nach langem Drängen des Auslandes schließlich zugestimmt, einen Ministerpräsidenten zu berufen, der künftig für die Verhandlungen mit Israel zuständig sein würde. Es dauert dann noch mehrere Monate, bis dieser – Mahmoud Abbas – Ende April schließlich in sein Amt eingeführt werden konnte und bis man international neue Hoffnung schöpfte, auf diesem Weg vielleicht eine Lösung für die verfahrene Situation finden zu können.

    Es war aber von Anfang an mehr als deutlich, dass Arafat nur sehr widerwillig zugestimmt hatte und dass dieser nicht bereit war, sich noch weiter entmachten zu lassen. Zunächst versuchte er, die Ernennung von Ministern im Kabinett Abbas zu beeinflussen, dann aber bestand er darauf, die Kontrolle über die meisten und wichtigsten Sicherheitsdienste zu behalten: Fünf von mindestens acht Dienste werden weiterhin von Arafat kontrolliert und nur drei von Abbas-Innenminister Mohammed Dahlan.

    Mahmoud Abbas war nach 100 Tagen Amtszeit aber vorsichtig und vermied es in seiner Rede vor dem Parlament in Ramallah, Palästinenser-Präsident Arafat zu kritisieren. Dieser ist trotz fortgeschrittenen Alters, trotz seiner Krankheit und trotz – vielleicht auch wegen – seiner Isolierung durch Israelis und Amerikaner viel zu populär unter den Palästinensern, als dass selbst ein alter Mitstreiter wie Abbas – immerhin ein Mitbegründer der PLO – es sich leisten könnte, den "Ra’is" in Frage zu stellen. Abbas beklagte denn auch in seiner Rede die Isolierung Arafats und machte Israelis und Amerikanern den Vorwurf, am bisherigen Scheitern der Friedensbemühungen schuld zu sein.

    Und der palästinensische Außenminister Nabil Shaath versuchte, die mehr als offenkundigen Meinungsverschiedenheiten zwischen Abbas und Arafat als Teil eines demokratischen Entwicklungsprozesses darzustellen, wie es ihn in Europa oder Nordamerika auch geben könne:

    Es geht hier nicht nur um die Sicherheit. Ich meine, es gibt hier Probleme eines völligen Wechsels von einem Präsidentialsystem wie in den USA zu einem parlamentarischen System in etwa wie in Frankreich heute. Und es gibt Fragen über Authorität und Verantwortung und die Richtung der Authorität. Und dies sind die eigentlichen Probleme, die Abu Mazen als Premierminister zu schaffen machten

    Wer solch eine Erklärung hört, der könnte meinen, es handle sich bei dem noch nicht entstandenen palästinensische Staat bereits um eine etablierte Demokratie, die nun um bestimmte Verfahrensfragen und taktische Richtungen ringt. Dabei geht es in Wirklichkeit natürlich um Macht und Einfluss. Nicht nur zwischen Arafat und Abbas, sondern auch zwischen diesen und den radikalen palästinensischen Gruppen. Es geht auch darum, wie weit die Palästinenser zehn Jahre nach Unterzeichnung der Oslo-Verträge und fast drei Jahre nach Beginn der zweiten "Intifada" bereit und in der Lage sind, einer vielleicht unbeliebten, dafür aber realistischen und für beide Seiten gerechten Lösung des Nahostkonflikts zuzustimmen. Und es geht schließlich auch darum, wie sehr oder wie wenig Israel genau dazu bereit und fähig ist.

    Im Mittelpunkt steht weiterhin die Initiative des sogenannten "Quartetts" aus Amerikanern, Europäern, UNO und Russland: Diese hatten eine "road-map", eine "Straßenkarte" für den Frieden in Nahost skizziert, in der zwar keine sensationellen Neuigkeiten festgelegt sind, man aber doch versucht, einige grundlegende Regeln festzulegen, die für eine Wiederaufnahme von Friedensbemühungen unbedingt befolgt werden sollten:

    Zwischen Israel und den Palästinensern solle ein Ende der Gewalt vereinbart werden, Israel solle sich aus den palästinensischen Gebieten zurückziehen, die es seit Beginn der Intifada wieder besetzt habe. Israel solle auch andere Behinderungen der palästinensischen Bevölkerung beenden und die Palästinenser alles daran setzen, radikale Elemente in den eigenen Reihen zu bremsen.

    In Aqaba hatte Israels Ministerpräsident Scharon sich feierlich verpflichtet, dem nachzukommen. Zumindest versprach er, sogenannte illegale Siedlungen zu beseitigen:

    Was die illegale Siedlungsposten betrifft, so will ich wiederholen, dass Israel eine Gesellschaft ist, in der das Gesetz gilt. Deswegen werden wir unverzüglich beginnen, illegale Siedlungsposten zu beseitigen. Es wird aber keinen Frieden geben können ohne die Aufgabe und Eliminierung von Terrorismus, Gewalt und Hetze. Wir werden gemeinsam mit den Palästinensern und anderen Staaten gegen den Terrorismus, gegen Gewalt und Hetze aller Art kämpfen. Wir werden uns bemühen, normales palästinensisches Leben wiederherzustellen, die humanitäre Situation zu verbessern, Vertrauen wieder aufzubauen und für den Fortschritt für eine bessere Zukunft zu arbeiten.

    Worte, die Scharon dann aber doch nicht umsetzte: Zwar ließ er einige unbedeutende Siedlungsposten auflösen und Straßensperren aufheben, andere Siedlungen wurden aber weiter ausgebaut. Zwar zog er israelisches aus Bethlehem und einem anderen Ort ab, es folgten aber keine weiteren Rückzüge. Und auch die Freilassung von Gefangenen sah anders aus als die Palästinenser sich das erhofft hatten: Von über 6000 Inhaftierten kamen nur einige Hundert frei – die einen, weil ihre Zeit ohnehin um war, andere, weil die "kleine Fische" waren.

    Aber auch die palästinensische Seite blieb einiges schuldig: Man stellte zwar demonstrativ jede Hetze in den staatlich kontrollierten Medien ein, man nahm auch wieder Verhandlungen mit Israel auf, aber man zögerte, die radikalen palästinensischen Gruppen zu entmachten. Diese Gruppen – besonders die islamistischen "Hamas" und "Islamischer Jihad" – hatten sich bereits wortstark der "road map" widersetzt, wie sie auch zuvor schon immer alle Initiativen abgelehnt hatten , deren Ziel eine Friedensregelung mit Israel sein sollte. Grund hierfür ist die unversöhnliche Haltung dieser Gruppen gegenüber Israel: Der jüdische Staat wird von ihnen abgelehnt – egal ob in den heutigen Grenzen oder denen von 1967. Und für einen palästinensischen Staat kommt ihrer Meinung nach nur das gesamte Gebiet des historischen Palästina in Frage.

    Obwohl es mit Gruppen solcher Ausrichtung nichts zu verhandeln gibt, weigerte sich Mahmoud Abbas, es auf eine Machtprobe mit ihnen ankommen zu lassen. Je länger und verlustreicher die Intifada sich entwickelt hatte und je härter die israelische Reaktion darauf, desto mehr war das Ansehen der Radikalen in der palästinensischen Bevölkerung gewachsen und ein direktes Vorgehen gegen diese hätte durchaus die Gefahr eines palästinensischen Bürgerkrieges heraufbeschworen.

    Aber noch nicht einmal zu Verhandlungen waren die Radialen bereit. Zumindest nicht mit Abbas. Erst durch die Vermittlung eines in Israel inhaftierten Fatah-Funktionärs gelang es, die beiden Organisationen zur Erklärung einer befristeten Waffenruhe zu bewegen, die Ende Juni in Kraft trat. Diese Waffenruhe – "Hudna" auf Arabisch – brachte eine Beruhigung, aber keine Ruhe. Immer noch gab es kleinere Überfälle und Zwischenfälle, immer noch kam es zu kleineren Terroranschlägen. Die Waffenruhe wurde aber trotzdem aufrechterhalten, obwohl Israel inzwischen wieder begonnen hatte, gezielt gegen die Hintermänner von Anschlägen und Angriffen vorzugehen.

    Die Wende kam mit einem großen Anschlag auf einen Linienbus in Jerusalem: Mindestens zwölf Tote, darunter viele Kinder, wurden gezählt und Israel begann, seine Angriffe auf radikale Palästinenser zu intensivieren: Fast täglich wurden führende Vertreter von "Hamas" und "Islamischem Jihad" attackiert und in den meisten Fällen auch getötet. Die beiden Gruppen kündigten daraufhin die Waffenruhe auf, die eigentlich noch einige Wochen länger hätte in Kraft bleiben sollen.

    Der Weg zurück ins Chaos der Zeit vor der "road map" schien unausweichlich. Ebenso die nächsten Schritte – bis hin zur Rücktrittserklärung von Mahmoud Abbas. In den USA zeigte man gesteigerte Besorgnis, denn der Erfolg von Aqaba war ein außenpolitischer Trumpf in der Hand George W. Bushs. Der amerikanische Präsident hatte Anfang Juni versprochen, er werde zur Verfügung stehen, wenn es Probleme gebe, aber Washingons Reaktion war eher zurückhaltend und ratlos. Zumindest kamen keine neuen Vorschläge oder Initiativen und der zunächst so positive Eindruck, den die USA gemacht hatten, zerrann im Nichts.

    Vor dem Treffen von Aqaba hatte US-Außenminister Colin Powell noch davon gesprochen, dass Israels Besatzung nicht aufrechterhalten könne und er hatte begrüßt, dass ach Scharon zum erstenmal offen von Besatzung sprach, die man in Israel nicht wolle:

    Ich werde es dem Premier überlassen, seine eigenen Worte zu interpretieren. Aber ich denke, es zeigt doch, dass er einsieht – wie immer man das auch interpretiert – dass die Besatzung bestimmter Städte oder Gegenden ein Zustand ist, der auf Zeit nicht aufrecht erhalten werden kann.

    Powell, der auch im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern eine gemäßigtere Position einnimmt, hatte allerdings rasch zu spüren begonnen, dass der Optimismus von Aqaba vielleicht doch etwas verfrüht und übertrieben gewesen war. So meinte er bereits vor einigen Wochen, dass das Ziel, schon im Jahr 2005 einen unabhängigen palästinensischen Staat auszurufen, kaum einzuhalten sei, und in einer ersten Reaktion auf den Zusammenbruch der Waffenruhe meine Powell, Arafat sei nun gefordert, seinen Einfluss auf die Radikalen einzusetzen, damit diese zur Waffenruhe zurückkehrten. Eine deutliche Abkehr von der erklärten Politik Washingtons, Arafat politisch zu ignorieren.

    In der US-Hauptstadt ist man inzwischen auf diese Linie zurückgekehrt. Nach der Rücktrittserklärung von Mahmoud Abbas ist aus Washington zu hören, dass man unter keinen Umständen bereit sei, künftig mit Yasser Arafat zu verhandeln. Und auch wenn dieser einen Nachfolger für den Zurückgetretenen benenn: Abbas bleibe für Washington der Ansprechpartner. Auch in Israel versucht man, die Dinge so darzustellen, aber es ist sehr zu bezweifeln, dass es Amerikanern und Israelis gelingt, sich durchzusetzen. Vielmehr droht Washington, sich zumindest vorübergehend zurückzuziehen und die Regierung Scharon wird dies ohne Zweifel als Grünes Licht für neue und weitere Angriffe auf militante Palästinenser verstehen: Die Ereignisse der ersten Stunden nach dem Rücktritt von Abbas mit den erneuten israelischen Angriffen in Gaza zeigen dies mehr als deutlich.

    Verunsichert und ratlos reagieren bisher die Europäer. Sie sind Mit-Autoren der "road map", sie haben sich aber in den letzten Monaten konsequent geweigert, Yasser Arafat zu isolieren. Er war für sie weiterhin der gewähltre Vertreter der Palästinenser und die Europäer waren nicht bereit einzusehen , dass Arafat nur dem Schein nach Abbas unterstützte, den Premier in Wirklichkeit aber massiv sabotierte.

    Änderung können vermutlich nur die Palästinenser selbst herbeiführen. Dazu müssten sie aber zunächst einsehen und akzeptieren, dass die "road map" von vielen unangenehmen Varianten wohl noch die Beste ist. Und sie müssten einsehen und akzeptieren, dass man nicht Friedfertigkeit beweisen kann, wenn man gleichzeitig extreme Gegner eines Friedens gewähre lässt. Erst wenn diese Erkenntnisse sich durchgesetzt haben und man entsprechend handelt, wird man auch Israel in die Verantwortung nehmen können: Natürlich kann und darf Israel seine Politik der gezielten Liquidierung des Gegners nicht fortsetzen. Auch nicht seine Todfeinde. Solange aber niemand anders etwas gegen diese unternimmt, solange wird man in Israel weiter machen. Und unter einem anderen Regierungschef als Scharon wäre das auch nicht anders.

    Der Rücktritt von Mahmoud Abbas stürzt nicht nur die palästinensische Verwaltung, sondern auch die gesamten Bemühungen um eine Wiederbelebung des Friedensprozesses in die ernsteste und möglicherweise folgenschwerste Krise seit langem:

    Zunächst hieß es, pro forma habe Palästinenser-Präsident Yasser Arafat den Rücktritt angenommen, aber Abbas gebeten, einstweilen die Amtsgeschäfte weiterzuführen, bis ein Nachfolger gefunden sei. Inzwischen ist dies wieder in Frage gestellt und Arafat scheint noch nicht endgültig entschieden zu haben. Hiermit wird der Eindruck eines demokratischen und rechtsstaatlichen Ablaufes erweckt, solche sind in der Region nicht an der Tagesordnung. Es geht hier nicht einfach um einen normalen Wechsel an der Spitze der palästinensischen Regierung. Sondern eher um eine Rückkehr auf den Nullpunkt bei dem Versuch einer friedlichen Regelung. Wenn nicht sogar noch weiter hinter diesen zurück.

    Die Enttäuschung ist um so größer, als die Ernennung von Abbas im April nach über zwei Jahren Intifada und gegenseitigem Blutvergießen ein erster Lichtblick und Hoffnungsschimmer gewesen war, aus dem bisherigen Teufelskreis auszubrechen. Die Berufung von Abbas war auch nicht irgendein taktischer Beschluss von Yasser Arafat, sondern sie fand eher gegen seinen Willen statt. Dafür aber mit breiter internationaler Unterstützung. Ihr lag der Konsensus nicht nur des "Quartetts" zu Grunde, dass zwischen Israelis und Palästinensern erst einmal Ruhe einkehren müsse, dass Israel sich zum Rückzug aus den neu eroberten palästinensischen Gebieten und die Palästinenser sich zur wirkungsvollen Bekämpfung des Terrorismus in ihren eigenen Reihen bereit erklären müssen. Und dass beide Seiten gemeinsam auf die Verkündung eines unabhängigen palästinensischen Staates im Jahre 2005 hinarbeiten sollten.

    Keine sonderlich aufregenden und erst recht keine neuen Erkenntnisse. Aber seit langem wieder eine erste von beiden Seiten offiziell anerkannte Grundlage für neue Friedensbemühungen. Mit all ihren Schwachpunkten, wie sich zeigen sollte. Schwachstellen, die letztlich zum Scheitern von Mahmoud Abbas geführt haben. Wegen der Haltung von PLO-Chef Yasser Arafat, wegen der Haltung der Radikalen, wegen der Haltung Israels und auch wegen der mangelnden Unterstützung aus dem Ausland: Es reicht nicht, einen Plan zu entwerfen und dann den Parteien dessen Umsetzung zu überlassen, nachdem diese jahrzehntelang bewiesen haben , dass sie genau dazu nicht imstande zu sein scheinen .

    Wenn alle etwas aufmerksamer gewesen wären, dann wären die Dinge möglicherweise anders gelaufen. Arafat hätte Abbas mehr Macht zugestehen, Israel sich mehr zurückhalten müssen und die internationale Gemeinschaft hätte offener und entschlossener zur "road map" stehen müssen. Das alles ist nicht geschehen . So mussten die Bemühungen scheitern. Nicht nur der Erfolg hat viele Väter, auch der Misserfolg. Es ist nicht abzusehen, welche Folgen dieses Scheitern haben wird: Es müsste schon etwas dramatisch Neues geschehen, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Und genau das ist angesichts der bisherigen Entwicklung nicht zu erwarten. Nicht nur der Nahe Osten muss sich wohl auf harte Zeiten gefasst machen...