Ein Quertreiber war er, der es gern und heftig krachen ließ: ob mit Institutionen wie den Salzburger Festspielen, mit allem, was ihm als (zu) bürgerlich schien oder mit dem Konzertbetrieb in seiner herkömmlichen Form. Den ehrwürdigen Frack hat er früh gegen Pulli und Käppi eingetauscht, die Klassik begann er irgendwann zu meiden und tauschte sie gegen Jazz und eine eigene Art von Welt-Musik. Und wenn ihm sein eigentliches Instrument, das Klavier, zu eng wurde, dann zog er halt eine Blockflöte aus der Tasche. So war er: unberechenbar, Querdenker, Kauz. Am 16. Mai wäre der österreichische Pianist Friedrich Gulda 90 Jahre alt geworden. Mit seinen Beethoven-Interpretationen hat er Maßstäbe gesetzt.
Diabelli-Variationen: Keine Kompromisse
Als der Wiener Musikverleger und Komponist Anton Diabelli im Jahr 1819 einen eigenen Walzer an eine Reihe von Pianisten und Komponisten schickte, damit sie je eine Variation darüber schreiben würden, hielten sich rund 80 Musiker an diese Vorgabe. Nur einer nicht: Ludwig van Beethoven. Er komponierte einen ganzen Zyklus, die so genannten Diabelli-Variationen. Friedrich Gulda hat sie im November 1957 für den ORF aufgenommen. In der ersten Variation folgt Gulda seiner Prämisse: Keine Kompromisse! Klar in den Akzenten, klar in der Stimmverteilung, klar im Rhythmus. Gulda, der Rigide, Gulda, der Motoriker. Aber es gibt auch Momente in diesen "Diabelli-Variationen", die eine andere Seite zeigen: die des Feinmotorikers, des Sensiblen. Die beiden gegensätzlichen Aspekte, die auch Beethovens musikästhetische Vorstellung von der Wirkung größtmöglicher Kontraste spiegelt, zeigt sich in den Variationen Nr. 7 und 8.
Karrieretagebuch mit vielen Beethoven-Einträgen
Ludwig van Beethoven und Friedrich Gulda – das war eine Liaison, die von früh an vorgezeichnet war. Am 16. Mai 1930 kommt Gulda als Sohn zweier Hobby-Musiker in Wien zur Welt. Mit zwölf Jahren findet er Aufnahme an der Wiener Musikakademie bei Bruno Seidlhofer – einer Koryphäe. Mehrere große Pianisten hat er ausgebildet, darunter Nelson Freire, Rudolf Buchbinder, Martha Argerich – und eben Gulda. Doch als seinen eigentlichen Entdecker hat Gulda später den Genfer Musikwettbewerb betrachtet. 1946 gewinnt der 16-Jährige dort, noch bevor er die Akademie absolviert hat, den Ersten Preis, beim ersten namhaften Musikwettbewerb nach dem Krieg. In dieser Zeit wächst nicht nur Guldas Interesse am Jazz, er beginnt auch (zusammen mit seiner Mutter) ein Karriere-Tagebuch zu schreiben. In Schulheften notiert er all seine Auftritte. Kein Wunder, dass der Name Beethoven dort entsprechend häufig auftaucht.
Beethoven statt Schönberg
Dennoch wissen wir wenig, wie Gulda konkret über Beethoven gedacht hat. Gut, es gibt einzelne Interviews, doch bleibt der Pianist darin meist vage. Man würde gern wissen: Was hat er über Beethoven alles gelesen, gerade in jungen Jahren (es dürfte eine Menge gewesen sein)? Einer seiner späteren Jazz-Kollegen hat einmal behauptet, Gulda habe seine Bücher irgendwann weggeschmissen. Ob’s stimmt? Man würde auch gern wissen: Von welchen Pianisten ließ er sich beeinflussen? Gulda gestand einmal: "Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich in meiner Jugend mit Beethoven und Schubert gefüttert wurde und nicht mit Schönberg." Solche Sätze ließen den jungen Gulda als einen der Nachfahren von Artur Schnabel oder Wilhelm Kempff erscheinen und in einer Reihe stehen mit Altersgenossen wie Alfred Brendel, Paul Badura-Skoda oder Jörg Demus. Doch Gulda war anders. Er folgte immer der Maxime: "Spiele jeden Ton so, als ob es um Dein Leben ginge."
Jahrelange Treue zum eigenen Stil
Gulda war ein Pedant, der gerade in den frühen Jahren seiner Laufbahn nichts dem Zufall überließ – im Gegensatz zu seinen freien Improvisationen später. Bei seinen ersten Konzerten ließ er immer ein Tonband mitlaufen und hörte sich den Mittschnitt meist noch in derselben Nacht an. Vielleicht dürfte diese Akribie wesentlich zu Guldas Stil-Sicherheit beigetragen haben. Ab 1948 plante Friedrich Gulda zyklische Aufführungen aller 32 Klaviersonaten Beethovens. Anfang der 50er Jahre spielte er diese Werke dann u.a. in Wien, Salzburg, Linz und Graz. Dreimal hat er diesen pianistischen Kosmos im Studio aufgenommen: 1953 und 1954 für den ORF, darum herum gestrickt zwischen 1950 und 1958 für die englische Decca und dann 1967/68 für die Firma Amadeo. Man könnte diese drei Zyklen nun von Sonate zu Sonate hörend nebeneinanderlegen und wäre überrascht, wie wenige substanzielle Unterschiede es gibt, vor allem, was die Tempi betrifft. Es ergibt sich eine Beinahe-Synchronizität, die man so bei Kempff oder Brendel, die den Sonatenzyklus ebenfalls mehrfach dokumentiert haben, nicht ermitteln würde. Sucht man nach Unterschieden, so wirken einige der langsamen Sätze in Guldas frühen Aufnahmen eine Spur empfindsamer, finden sich einige vorsichtige Verlangsamungen oder Abtönungen, die in der späteren Produktion geradezu kühl wirken. So klingt etwa der Kopfsatz der Mondschein-Sonate bei kaum einem Pianisten ähnlich trostlos und bitter wie bei Gulda. Kein Hauch von seifiger Romantik!
Hinwendung zum Jazz
Die letzte dieser drei Aufnahmen verdient insofern Beachtung, als sie in eine Zeit fiel, als Gulda sich (seit Beginn der 1960er Jahre) mehr und mehr von der Klassik ab- und dem Jazz zugewandt hatte. Also kann und darf man in dieser letzten Gesamteinspielung eine vom Jazz sicher beeinflusste motorische Frische und Leidenschaft erkennen, die in den frühen Einspielungen sich zumindest nicht mit dieser Konsequenz vermittelt. Das zeigt sich etwa im Schlusssatz der Sonate D-Dur, der so genannten "Pastorale", deren wiegender Charakter leicht wie ein Idyll in Tönen wirken kann. Nicht aber bei Gulda: Der Beginn erinnert mit seiner Strenge eher an ein mechanisches Uhrwerk, frei von Sentimentalitäten. Spätestens beim ersten Forte wird klar, dass die leisen Passagen lediglich als Teil eines dramaturgischen Ganzen dienen, das sich vor allem aus Gegensätzen speist. Ihre Unmittelbarkeit würde durch jeden Pedalnebel gefährdet.
Ungleiches Duett: Ruggiero Ricci
Vom Februar 1954 stammt mit dem Geiger Ruggiero Ricci eine Aufnahme zweier Violinsonaten Beethovens; ungleich populärer ist die Einspielung sämtlicher Werke für Violoncello und Klavier mit dem Franzosen Pierre Fournier. Was für ein ungleiches Paar! Auf der einen Seite Gulda, der Energiker, der Querkopf, der seinen Wiener Schmäh kaum je so richtig verbergen konnte und wollte; auf der anderen Seite der Franzose Fournier, ein "Gentilhomme" in Wesen und Kunst, zurückhaltend und nobel, Meister einer Eleganz, die vor allem seiner besonderen Bogentechnik zu verdanken ist. Was auf den ersten Blick als schräges Paar durchgehen mag, findet in einem gemeinsamen Nenner dann doch zusammen: Denn Gulda war, bei aller Motorik, zeitlebens ein Verehrer des Gesanglichen (was auch seine Leidenschaft für Mozart erklärt). Gulda dürfte also Fourniers Stil der Diskretion und der Noblesse im Grunde verehrt haben. Ihre gemeinsame Beethoven-Produktion entstand im Sommer 1959. Der Überlieferung des Sohnes von Pierre Fournier nach verliefen die Proben zunächst ohne Probleme. Plötzlich aber hörte Gulda auf zu spielen und sagte: "Sehr schön, aber sehr französisch." Fourniers trockene Antwort darauf: "Für Artur Schnabel und Wilhelm Kempff klang es nicht gallisch." Gulda lachte, und damit nahm eine lebenslange Freundschaft ihren Anfang.
Feuriger Schwung in Live-Aufzeichnungen
Guldas Sicht auf Beethoven war und blieb ein Leben lang ungeschönt. Er hat Beethovens Text immer beim Wort genommen, nicht mehr und nicht weniger. Die Genauigkeit, mit der er eine Oberstimme formuliert, die Detailversessenheit, mit er eine Bassstimme nicht zur reinen Begleitung degradiert – das macht seine Aufnahmen zeitlos und auch im 21. Jahrhundert noch so wertvoll. Nach dem Erfolg der dritten zyklischen Einspielung aller Sonaten wagte Gulda 1970/71 schließlich auch eine Gesamtaufnahme der fünf Klavierkonzerte Beethovens, mit den Wiener Philharmonikern und Horst Stein. Man mag nun darüber streiten, ob Gulda etwa im fünften Konzert den feurigen Schwung in seinen Live-Aufzeichnungen (etwa fürs Fernsehen) noch glühender eingefangen hat. Der Kopfsatz dieses Es-Dur-Konzerts ist auf jeden Fall ein Beispiel dafür, dass Gulda in Beethovens Musik nichts hineingeheimnist. Bei ihm dominieren Klarheit, Disziplin und – selbst in einem fantasieartig-improvisiert wirkenden Satz wie diesem – eine innere Logik. Was zeigt: Gulda hat sich nie für musikalische Weltanschauungen, für irgendwelche Ideologien interessiert, er schaute durch seine Brillengläser ganz direkt auf Beethovens Welt.