Seit dem Goncourt-Preis sind drei weitere Romane auf deutsch erschienen, alle Familiengeschichten und große Publikumserfolge. In "Hadrians Villa in unserem Garten" erzählt Jean Rouaud die Geschichte seines Vaters, der in der Résistance war und früh - mit 41 Jahren - als Haushaltswarenhändler stirbt. In "Die ungefähre Weit" erinnert Rouaud an die fünfziger Jahre, durch die Augen eines kurzsichtigen introvertierten lnternatsschülers. Der jüngste Roman "Pour vos cadeaux" - "der Porzellanladen" - ist nun Annick gewidmet, Jean Rouauds Mutter, die zwei Jahre vor Erscheinen des Buchs starb.
Annick gleitet wie eine gute Fee über das Buch hinweg. Untröstlich nach dem Tod ihres Mannes, entwickelt sie sich innerhalb- von zehn Jahren zu einer tüchtigen Geschäftsfrau mit fixer Idee: Sie will aus dem familiären Haushaltswarengeschäft einen Porzellanladen machen, spezialisiert auf Hochzeitslisten. "Geschenke und Porzellan / bei Rouaud - gleich nebenan" heißt die Devise. Eine Lebensaufgabe für Annick, die sich mit der Zeit als eine Art Robin Hood des Porzellans entpuppt und sich mehr um das Glück der schmalen Börsen als um positive Wirtschaftsbilanzen bemüht. So heisst es in dem Roman.
"Meine Mutter hat ein sehr mühseliges Leben geführt. Es tut richtig weh zu wissen, dass sie in ihrem Laden fast zehn Jahre getrauert hat. Sie dachte, sie würde meinen Vater nicht überleben. Aber auf einmal macht ihr das Geschäft richtig Spaß. Auf einmal ist sie nicht mehr Josephs Frau, sondern Madame Rouaud, die Spezialistin der Hochzeitslisten. Sie müssen sich das einmal vorstellen: Sie war ganz allein mit ihrem Porzellan. Unser Zweitausendseelendorf war von zehn großen Einkaufsmärkten umzingelt. Wie eine Art Wunder des Spätkapitalismus hat sie der Konkurrenz getrotzt. Sie verbrachte sehr viel Zeit mit ihren Kunden, um nur ja das richtige Geschenk für sie zu finden, je nach den finanziellen Möglichkeiten. Ja, sie hatte bestimmt Spaß an der Arbeit. Aber wenn ich zurückdenke, was für ein trauriges Leben sie geführt hat ! Diese Abende und Sonntage, wo sie ganz allein mit ihren Konten beschäftigt war. Sie war so dynamisch, so großzügig. Sie machte sich oft über Leute lustig. Aber wehe, wenn man sich über sie lustig machte. Sie war sehr empfindlich. Es ist schlimm für mich, nicht zu wissen, was sie vom Leben erwartet hat, ob ihre Träume in Erfüllung gegangen sind."
lm"Porzellanladen", wie in allen Romanen von Jean Rouaud, setzen Todesfälle die Geschichte der Protagonisten in Bewegung. In die Welt der Erwachsenen wird die zierliche Annick hineinkatapultiert, als sie ins Kino geht und völlig desorientiert aus dem Cinema "Le Katorza" herauskommt - als eine der wenigen Überlebenden. Wir schreiben das Jahr 1943. Ein Alliierten-Bombardement hat gerade in Nantes 3000 Menschenleben gefordert.
Zum zweiten Mal schlägt das Schicksal in Annicks Leben zu, als sie als junge Mutter von drei Kindern ihren Ehemann verliert. Eine Tragödie, die ihr jedoch ein Fenster zur Welt öffnet: Der Porzellanladen, der von nun an von ihr allein geführt wird, entwickelt sich zu einer Begegnungstätte, zu Annicks Trauer-und Lustspielbühne.
Zehn Jahre später ist die Trauerarbeit geleistet. Und wieder kommt ein Rendez-vous mit dem Tod. Das erste Symptom von Annicks Genesung ist ein Lachkrampf, den sie ausgerechnet bei der Beerdigung ihres langjährigen Buchhalters bekommt. Jean Rouaud über den Aufbau seines Romans, auf Leben und Tod.:
"Man braucht einen Anfang, einen Satz. Ab dann läuft alles über Assoziationen. Meine Romane sind autobiographische Geschichten. Es ist also klar, dass ich den Plot kenne. Da es sich hier um meine Mutter handelt, wusste ich von Anfang an, dass sie nicht mitten in der Geschichte zum Beispiel den österreichischen Erzherzog heiraten würde. Sie heiratet einen Haushaltswarenhändier und basta. Für die Phantasie gibt es da nicht mehr so viel Platz. Aber es ist ein Roman und keine Autobiographie. Der Unterschied liegt in den Handlungssträngen. Die Ausgangsidee ist die Szene mit meiner Mutter mitten im Bombardement von Nantes. Damit sind die Hauptthemen 'Zerstörung und Neubeginn' bereits zusammengebracht. Ausgangspunkt: Annick muß überleben, damit sie meinen Vater kennen lernt, Kinder bekommt und dadurch dieser Roman entsteht. Diese Dialektik zwischen Zerstörung und Geburt wird im Roman weiter gesponnen. Den Höhepunkt bildet der Tod meines Vaters, der zwar Horror ist, aber auch die Wiedergeburt meiner Mutter ermöglicht. Ganz am Ende des Romans kehrt dieses Thema wieder, aber anders herum- die Einrichtung der Kanalisationen in unserem Dorf, also seine Modernisierung, seine Renaissance kündigt den Tod meiner Mutter an. Ab dem Moment, wo ich meine thematischen Fäden gesponnen habe, tobe ich mich sprachlich richtig aus."
Wenn Jean Rouaud sich sprachlich austobt, ist es ein Genuß: eine Mischung aus Raffinesse und saloppen Wendungen. Mit verschachtelten Konstruktionen, voller Spott und Zorn, die witzig und bewegend klingen. Genauso wie man sich Annick vorstellt. Jean Rouaud hat seiner ebenso zerbrechlichen wie unbeugsamen Mutter eine"mitreißende Hommage hinterlassen. Denn - wieer schreibt -"wenn eine Mutter stir,bt, ist es die Prägeform, die plötzlich zerbricht. Ab dann kann man nicht mehr auf einen,zweiten Ani auf hoffen".