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Der Praktikant im fremden Land

Indien sucht händeringend nach Wirtschaftsfachleuten. Für deutsche Praktikanten kann die Arbeit dort den Sprung ins Berufsleben bedeuten. Sie schätzen bei den indischen Unternehmen den Teamgeist und die flachen Hierarchien.

Von Guillaume Decamme | 27.09.2006
    Harish Patel und Sonja Rehmann sitzen an der knochentrockenen Halbjahresbilanz eines deutschen Pharmagiganten. Seit Beginn ihres Praktikums vor fünf Monaten arbeitet die deutsche BWL-Studentin mit dem indischen Wirtschaftsingenieur zusammen. Gemeinsam erstellen sie Marktforschungsberichte für deutsche Firmen. Und verstehen sich prächtig.

    " Als ich ankam - neu in meinem Team - wurde ich gleich gefragt: "Wie sieht's aus? Was ist deine Meinung?". Und die wird auch ernst genommen und sie wollen die auch wissen. Ich war dann so : "OK. Ihr wollt meine Meinung wirklich wissen?" Ja, das ist der Unterschied. Es wird auch viel für die Teambildung gemacht. Es gibt sogenannte Offsides - Ausflüge - von den ganzen Gruppen und auch innerhalb vom Team wird sehr viel gemacht für die Teambildung und für das Wir-Gefühl. Das ist sehr schön."

    Neben Sonja Rehmann sind zur Zeit vier andere angehende Wirtschaftsanalysten aus Deutschland bei Evalueserve in Gurgaon beschäftigt - fünf von insgesamt 50 ausländischen Praktikanten, die das Wirtschaftswunder Indien hautnah erleben wollen. Und die Bewerberschwemme reißt nicht ab. Etwa 1000 Bewerbungen aus Deutschland, Korea oder Kanada landen jährlich auf dem Vorstandsschreibtisch von Ashish Gupta.

    " Indien hat sich einen festen Platz an der Spitze der Weltwirtschaft erkämpft. Das ist der Hauptgrund, weshalb so viele ausländische Wirtschaftsingenieure bei uns ein Praktikum machen wollen. Meistens verbringen sie ein bis zwei Jahre in unserer Firma. Unserer Erfahrung nach wertet ihr Arbeitsaufenthalt in Indien ihren Lebenslauf deutlich auf. Wenn sie sich dann in ihrem Heimatland bewerben, müssen sie nicht lange suchen. Manche können sich sogar vor Jobangeboten kaum retten."

    Das weiß auch Andrea Demsic aus Jena zu schätzen. Im Gegensatz zu Sonja Rehmann hat sie ihren BWL-Abschluss schon seit einem Jahr in der Tasche. Nach unzähligen erfolglosen Bewerbungen kehrte sie aber dem deutschen Arbeitsmarkt den Rücken und versuchte ihr Glück in Indien. Als die Zusage eintraf, buchte Andrea Demsic einen Hinflug nach Neu-Delhi. Ihr gefällt ganz besonders die flache Hierarchie, die in indischen Unternehmen herrscht.

    " Wir sind ein Team und jeder geht zur gleichen Zeit. Es ist nie so, dass einer auf seine 9 oder 10 Stunden Arbeit pocht. Wir sind da, bis die Arbeit vorbei ist und man macht es auch gerne. Was ich auch toll finde ist, dass man bekommt ständig Feedback. Man muss nicht immer ein Jahr warten, bis der Chef Zeit für einen hat und einem erzählt, wie es weiter geht und was gut und schlecht ist. Hier bekommt man es wöchentlich."

    Ihre Lohnforderungen musste Andrea Demsic allerdings deutlich zurückschrauben. Monatlich bekommt sie ein Minigehalt von 25.000 Rupien, umgerechnet 500 Euro. "Taschengeld", wie die junge Frau sagt. Denn die Praktikanten werden umsonst untergebracht. Für die Krankenversicherung müssen sie allerdings selbst sorgen. Und ihre Urlaubstage können sie an den Fingern einer Hand abzählen.

    In der Boomstadt Gurgaon seien die Freizeitangebote sowieso begrenzt, lamentiert Marcel Lee. Eigentlich hätte der 24jährige Deutsch-Koreaner nach seinem Praktikum nach Berlin zurückgehen sollen. Doch möchte er noch ein wenig Globalisierungsluft einatmen. Als die Firma ihm im Frühjahr einen unbefristeten Arbeitsvertrag anbot, schlug er zu. Dafür musste er sich widerwillig an den indischen Arbeitsrythmus anpassen.

    " Ich habe mich resigniert mehr oder weniger. Man darf halt keine westlichen Standards ansetzen, wenn man von den Indern etwas verlangt. Sie machen alles mit ihrem eigenen Zeitrahmen, mit ihren eigenen Vorstellungen und so. Man müsste ständig Druck ausüben, das geht gar nicht!"

    Die seltenen Pausen, die er sich gönnt, verbringt Marcel Lee in der klimatisierten Unternehmenskafeteria. Bei 20 Grad lässt es sich leichter plaudern als draußen, in der brütenden Hitze - geschweige denn im Wohnzimmer.

    " Ich habe zum Beispiel keine Klimaanlage. Und selbst wenn ich eine hätte, würde zwei-, dreimal am Tag der Strom ausfallen. Manchmal gibt's kein Wasser. Und man muss seine Wohnung gegen Hunde, Insekten, Kühe verteidigen."

    Prosaische Probleme mit denen Marita Brischke als Neuankömmlinge tagein, tagaus konfrontiert wird. Professionell klappe es wunderbar, schwärmt die 30jährige Berufseinsteingerin aus Würzburg. Privat sei die Umstellung auf die indische Denkweise aber ein Stück kniffliger als sie es anfangs gedacht hatte.
    " Ich habe in den letzten zweieinhalb Wochen immer wieder Diskussionen geführt, wenn ich abends alleine zu Hause bleiben wollte. "Wieso willst Du alleine zu Hause bleiben?" Und dann sage ich: "Leute, es ist für mich Zeit zum Durchatmen. Wenn ich mindestens zehn Stunden unter Menschen bin, dann muss ich erstmal sehen, wo ich stehe." Und dann hat man mir auch gesagt, dass es kulturell so gesehen wird, dass wenn man alleine ist, dass negative Gedanken auf einen zukommen, dass es einem schlecht gehen könnte."