Helmut Kohl: "Durch unsere gemeinsamen Anstrengungen, durch die Politik der Sozialen Marktwirtschaft werden schon in wenigen Jahren aus Brandenburg, aus Mecklenburg-Vorpommern, aus Sachsen, aus Sachsen-Anhalt und aus Thüringen blühende Landschaften geworden sein."
Statt mit blühenden Landschaften sieht sich die Berliner Republik nun seit Jahren mit Debatten über die soziale und wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit Deutschlands konfrontiert. Gerhard A. Ritter, einer der führenden Sozialhistoriker in Deutschland, hat sich mit seinem Buch in die Reformdebatte eingeschaltet und stellt sie auf eine breite wissenschaftliche Grundlage.
Ritter fragt nach dem Preis der Einheit, also nach den politischen und wirtschaftlichen, vor allem aber sozialen Kosten, die die wiedervereinigte Bundesrepublik zu tragen hat. In drei großen Kapiteln verfolgt er die Rahmenbedingungen der Einheit, die Entstehung der Sozialunion und schließlich den Wandel des Sozialstaates nach der Wiedervereinigung.
Eine Konsequenz der massiven Intervention des Staates zur sozialverträglichen Absicherung des Umbruchprozesses lag darin, dass die vorangegangenen Tendenzen zum Abbau des Staates, zur Stärkung von Subsidiarität und Eigenvorsorge umgekehrt wurden und der Staat letztlich die Verantwortung für die Lebensverhältnisse der Menschen im Osten übernahm. Dem entsprach die Haltung der ostdeutschen Bevölkerung und Politiker, die auch aufgrund ihrer Sozialisation in der DDR ihre Hoffnungen und Erwartungen in hohem Maße an den Staat knüpften.
Im Zentrum des Buches, für das Ritter die Archive der Parteien und der wichtigsten Ministerien durchforstet hat, steht die Vereinigung der Sozialsysteme beider deutscher Staaten. Die politischen, juristischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen analysiert er dabei mit ebenso großer Sachkenntnis, wie er das politische Handeln der Akteure nachvollziehbar macht. Dies gelingt wohl auch deshalb so überzeugend, weil er mit den wichtigsten Sozialpolitikern der Parteien umfangreiche Interviews geführt hat.
Ritter wartet nicht mit wohlfeilen Patentlösungen oder den üblichen Untergangsszenarien auf. Er ist ein sachlich-kühler Analytiker, der Zustände beschreibt und wesentliche Fragen aufwirft - Lösungen muss aber immer noch die Politik liefern:
Der Wandel der Arbeitswelt und die Krise der Arbeit, insbesondere die offene und verdeckte Massenarbeitslosigkeit, werfen die Frage auf, ob die im internationalen Vergleich besonders enge Bindung des deutschen Systems sozialer Sicherung an die Erwerbstätigkeit vor allem im Rahmen eines Normalarbeitsverhältnisses nicht mittelfristig aufgehoben oder doch zumindest gelockert werden muss, um den Zusammenbruch des Sozialversicherungssystems durch eine Überlastung des tendenziell immer kleiner werdenden Kreises der dauerhaften Beitragszahler zu verhindern
Vieles von dem, was Ritter darstellt, ist natürlich bekannt: Die hohen Kosten der Einheit, die vor allem durch Beiträge statt durch Steuern gedeckt wurden; die Dominanz der Exekutive der alten Bundesrepublik gegenüber den anderen verfassungsmäßigen Organen; das große Problem der überhöhten Lohnnebenkosten und dergleichen mehr.
Ritter weist nun aber überzeugend nach, dass es für den schließlich beschrittenen Weg keine wirkliche realpolitische Alternative gab. Dazu bietet das Buch sozialstatistisches Material in Hülle und Fülle. Aus rein wirtschaftlichen Erwägungen hätte die Wiedervereinigung anders ablaufen müssen; aber an den Bedürfnissen der Ostdeutschen führte für Ritter kein Weg vorbei. Ihnen - den Bürgern im Osten - hat der Münchner Historiker im übrigen schon seinen großartigen Essay mit dem Titel "Über Deutschland" gewidmet:
Der eigentliche Partner der Bundesregierung in der Übergangszeit war die Bevölkerung der DDR. Nur eine Minderheit des Volkes beteiligte sich an den großen Demonstrationen für die deutsche Einheit. Hinter ihnen stand aber die Mehrheit der vielen Millionen, die in der Vereinigung mit der Bundesrepublik die Perspektive für ein besseres Leben, für mehr Wohlstand, aber auch für eine dauerhafte Sicherung der Freiheit sahen. Neben dem wirtschaftlichen Niedergang hat das letztlich die innere Stabilisierung der DDR verhindert.
Joachim Gauck, der ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, hat die Gefühlslage der Ostdeutschen nach zehn Jahren Wiedervereinigung folgendermaßen charakterisiert:
"Nach der Einheit waren wir wieder Lehrlinge. Viele fühlten sich fremd im eigenen Land. Sicher erklärt sich ihre Bitterkeit auch aus neu erfahrener Hilflosigkeit und Enttäuschung. Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten in Nordrhein-Westfalen auf."
Als Rheinländer wird man sagen dürfen, dass es sich in Nordrhein-Westfalen nicht allzu schlecht leben lässt. Und daher ist Ritter auch zuzustimmen, wenn er mit der Wiedervereinigung - trotz aller Probleme - eine Erfolgsgeschichte beschreibt. Tatsächlich ging es vielen Menschen nach der Wiedervereinigung auch ökonomisch besser als zuvor, wie er überzeugend belegt. Nur: Die subjektive Einschätzung der Gesamtsituation ist nach wie vor recht trübe:
Besonders groß ist in Ostdeutschland die Enttäuschung über die Marktwirtschaft. Im Februar und März 1990 hatten 77 Prozent, im August 1994 nur noch 38 Prozent eine gute Meinung vom Wirtschaftssystem der Bundesrepublik, während der Anteil der Kritiker von fünf auf 33 Prozent und der der Unentschiedenen von 18 auf 29 Prozent angestiegen war.
Der Preis der Einheit war immens hoch, und die Folgen einer bisweilen illusionären Politik werden noch lange zu spüren sein. Aber dennoch:
Die schnelle und relativ reibungslose Übertragung des westdeutschen Sozialstaates auf den Osten war insgesamt eine Meisterleistung der Verwaltung, aber auch der Organisationen der weiteren sozialpolitischen Akteure. Sie hat die politischen und sozialen Kosten der Vereinigung gesenkt, aber hohe wirtschaftliche Kosten verursacht und die sozialen Sicherungssysteme besonders durch die massive Förderung der Frühverrentung und die aktive Arbeitsmarktpolitik zusätzlich belastet.
Die Zukunft des Sozialstaates in Deutschland wird von seiner Fähigkeit abhängen, auf den ständigen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft adäquat zu reagieren und die Balance zwischen Eigenvorsorge, Solidarität und staatlicher Hilfe immer neu auszutarieren - und dies, ohne den Zusammenhalt der Gesellschaft und die politische Freiheit zu gefährden.
Dazu hat Ritter eine profunde Analyse des Sozialstaates im wiedervereinigten Deutschland vorgelegt, die sich durch ihren wissenschaftlichen Faktenreichtum von der Masse neuerer Publikationen abhebt. Das ist selten leicht verdauliche Kost, aber eine Gute-Nacht-Lektüre ist hier auch weder beabsichtigt, noch wäre sie hilfreich. Wer sich zuverlässig über Vergangenheit und Gegenwart des Sozialstaates informieren will, wird in Zukunft nicht an Ritters Buch vorbeikommen.
Thomas Gerhards war angetan von Gerhard A. Ritters jüngstem Buch: Der Preis der Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats. C. H. Beck Verlag, München 2006, 541 S., 38 Euro.
Statt mit blühenden Landschaften sieht sich die Berliner Republik nun seit Jahren mit Debatten über die soziale und wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit Deutschlands konfrontiert. Gerhard A. Ritter, einer der führenden Sozialhistoriker in Deutschland, hat sich mit seinem Buch in die Reformdebatte eingeschaltet und stellt sie auf eine breite wissenschaftliche Grundlage.
Ritter fragt nach dem Preis der Einheit, also nach den politischen und wirtschaftlichen, vor allem aber sozialen Kosten, die die wiedervereinigte Bundesrepublik zu tragen hat. In drei großen Kapiteln verfolgt er die Rahmenbedingungen der Einheit, die Entstehung der Sozialunion und schließlich den Wandel des Sozialstaates nach der Wiedervereinigung.
Eine Konsequenz der massiven Intervention des Staates zur sozialverträglichen Absicherung des Umbruchprozesses lag darin, dass die vorangegangenen Tendenzen zum Abbau des Staates, zur Stärkung von Subsidiarität und Eigenvorsorge umgekehrt wurden und der Staat letztlich die Verantwortung für die Lebensverhältnisse der Menschen im Osten übernahm. Dem entsprach die Haltung der ostdeutschen Bevölkerung und Politiker, die auch aufgrund ihrer Sozialisation in der DDR ihre Hoffnungen und Erwartungen in hohem Maße an den Staat knüpften.
Im Zentrum des Buches, für das Ritter die Archive der Parteien und der wichtigsten Ministerien durchforstet hat, steht die Vereinigung der Sozialsysteme beider deutscher Staaten. Die politischen, juristischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen analysiert er dabei mit ebenso großer Sachkenntnis, wie er das politische Handeln der Akteure nachvollziehbar macht. Dies gelingt wohl auch deshalb so überzeugend, weil er mit den wichtigsten Sozialpolitikern der Parteien umfangreiche Interviews geführt hat.
Ritter wartet nicht mit wohlfeilen Patentlösungen oder den üblichen Untergangsszenarien auf. Er ist ein sachlich-kühler Analytiker, der Zustände beschreibt und wesentliche Fragen aufwirft - Lösungen muss aber immer noch die Politik liefern:
Der Wandel der Arbeitswelt und die Krise der Arbeit, insbesondere die offene und verdeckte Massenarbeitslosigkeit, werfen die Frage auf, ob die im internationalen Vergleich besonders enge Bindung des deutschen Systems sozialer Sicherung an die Erwerbstätigkeit vor allem im Rahmen eines Normalarbeitsverhältnisses nicht mittelfristig aufgehoben oder doch zumindest gelockert werden muss, um den Zusammenbruch des Sozialversicherungssystems durch eine Überlastung des tendenziell immer kleiner werdenden Kreises der dauerhaften Beitragszahler zu verhindern
Vieles von dem, was Ritter darstellt, ist natürlich bekannt: Die hohen Kosten der Einheit, die vor allem durch Beiträge statt durch Steuern gedeckt wurden; die Dominanz der Exekutive der alten Bundesrepublik gegenüber den anderen verfassungsmäßigen Organen; das große Problem der überhöhten Lohnnebenkosten und dergleichen mehr.
Ritter weist nun aber überzeugend nach, dass es für den schließlich beschrittenen Weg keine wirkliche realpolitische Alternative gab. Dazu bietet das Buch sozialstatistisches Material in Hülle und Fülle. Aus rein wirtschaftlichen Erwägungen hätte die Wiedervereinigung anders ablaufen müssen; aber an den Bedürfnissen der Ostdeutschen führte für Ritter kein Weg vorbei. Ihnen - den Bürgern im Osten - hat der Münchner Historiker im übrigen schon seinen großartigen Essay mit dem Titel "Über Deutschland" gewidmet:
Der eigentliche Partner der Bundesregierung in der Übergangszeit war die Bevölkerung der DDR. Nur eine Minderheit des Volkes beteiligte sich an den großen Demonstrationen für die deutsche Einheit. Hinter ihnen stand aber die Mehrheit der vielen Millionen, die in der Vereinigung mit der Bundesrepublik die Perspektive für ein besseres Leben, für mehr Wohlstand, aber auch für eine dauerhafte Sicherung der Freiheit sahen. Neben dem wirtschaftlichen Niedergang hat das letztlich die innere Stabilisierung der DDR verhindert.
Joachim Gauck, der ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, hat die Gefühlslage der Ostdeutschen nach zehn Jahren Wiedervereinigung folgendermaßen charakterisiert:
"Nach der Einheit waren wir wieder Lehrlinge. Viele fühlten sich fremd im eigenen Land. Sicher erklärt sich ihre Bitterkeit auch aus neu erfahrener Hilflosigkeit und Enttäuschung. Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten in Nordrhein-Westfalen auf."
Als Rheinländer wird man sagen dürfen, dass es sich in Nordrhein-Westfalen nicht allzu schlecht leben lässt. Und daher ist Ritter auch zuzustimmen, wenn er mit der Wiedervereinigung - trotz aller Probleme - eine Erfolgsgeschichte beschreibt. Tatsächlich ging es vielen Menschen nach der Wiedervereinigung auch ökonomisch besser als zuvor, wie er überzeugend belegt. Nur: Die subjektive Einschätzung der Gesamtsituation ist nach wie vor recht trübe:
Besonders groß ist in Ostdeutschland die Enttäuschung über die Marktwirtschaft. Im Februar und März 1990 hatten 77 Prozent, im August 1994 nur noch 38 Prozent eine gute Meinung vom Wirtschaftssystem der Bundesrepublik, während der Anteil der Kritiker von fünf auf 33 Prozent und der der Unentschiedenen von 18 auf 29 Prozent angestiegen war.
Der Preis der Einheit war immens hoch, und die Folgen einer bisweilen illusionären Politik werden noch lange zu spüren sein. Aber dennoch:
Die schnelle und relativ reibungslose Übertragung des westdeutschen Sozialstaates auf den Osten war insgesamt eine Meisterleistung der Verwaltung, aber auch der Organisationen der weiteren sozialpolitischen Akteure. Sie hat die politischen und sozialen Kosten der Vereinigung gesenkt, aber hohe wirtschaftliche Kosten verursacht und die sozialen Sicherungssysteme besonders durch die massive Förderung der Frühverrentung und die aktive Arbeitsmarktpolitik zusätzlich belastet.
Die Zukunft des Sozialstaates in Deutschland wird von seiner Fähigkeit abhängen, auf den ständigen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft adäquat zu reagieren und die Balance zwischen Eigenvorsorge, Solidarität und staatlicher Hilfe immer neu auszutarieren - und dies, ohne den Zusammenhalt der Gesellschaft und die politische Freiheit zu gefährden.
Dazu hat Ritter eine profunde Analyse des Sozialstaates im wiedervereinigten Deutschland vorgelegt, die sich durch ihren wissenschaftlichen Faktenreichtum von der Masse neuerer Publikationen abhebt. Das ist selten leicht verdauliche Kost, aber eine Gute-Nacht-Lektüre ist hier auch weder beabsichtigt, noch wäre sie hilfreich. Wer sich zuverlässig über Vergangenheit und Gegenwart des Sozialstaates informieren will, wird in Zukunft nicht an Ritters Buch vorbeikommen.
Thomas Gerhards war angetan von Gerhard A. Ritters jüngstem Buch: Der Preis der Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats. C. H. Beck Verlag, München 2006, 541 S., 38 Euro.