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Der Prophet des Dritten Reiches

Die italienische Abt Joachim von Fiore aus dem 12. Jahrhundert beeinflusste mit seiner Vorstellung vom Kommen des "Dritten Zeitalters oder Dritten Reiches" zum Beispiel mittelalterliche Mönchsbewegungen, aber auch Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels.

Von Manuel Gogos | 12.11.2012
    "Etwa um die Stunde zu der, wie man meint, unser Löwe aus dem Stamm Juda auferstanden war, wurde mir bei der Meditation plötzlich eine Offenbarung zuteil."

    "Und zwar saß er da spät in der Osternacht – so beschreibt er uns das auch wörtlich – über der Auslegung der Apokalypse. Und schon beim zehnten Vers kam ein Problem – das lautet nämlich: 'Ich war im Geiste am Tage des Herrn'. Und er wusste nicht, was er damit anfangen soll."

    Er sei gegen diese Bibelstelle geworfen worden wie gegen eine Brandung.

    "Und dachte darüber nach und nach, bis er plötzlich ein visionäres Erlebnis hatte, ein plötzlicher Einblick in die Struktur der gesamten Weltgeschichte."

    "Eine Offenbarung über die Fülle dieses Buches und die ganze Konkordanz zwischen Altem und Neuem Testament, die ich in großer Helligkeit der Einsicht wahrnahm."

    Dieser Augenblick in der Osternacht des Jahres 1185 beendet die Selbstzweifel des kalabrischen Abts Joachim von Fiore, welche Aufgabe ihm Gott zugedacht habe. Nun darf Joachim dieselbe Erfahrung machen wie einst der Seher von Padmos: "Ich war im Geiste des Herrn". Damit gewinnt er tiefen Einblick in Gottes Heilsplan. Und er sieht sich selbst an einem Wendepunkt der Heilsgeschichte stehen – von nun an würde die Menschheit nur noch die Vision dieses Menschen nachvollziehen müssen. Der Politologe und Kirchenhistoriker Matthias Riedl:

    "Nach allem, was man weiß, hat er als apokalyptischer Wanderprediger begonnen. Er ist in Süditalien von Dorf zu Dorf gezogen und hat den Leuten gesagt, dass das Ende naht und der Antichrist vor der Tür steht – der ja so eine ganz mysteriöse Figur ist in der Apokalyptik. Und von dem er wissen wollte, wie er aussieht, welche Gestalt er hat, wann er kommt und so weiter."

    In der apokalyptischen Tradition des Mittelalters herrschte allgemein die Auffassung, in der Johannesoffenbarung verberge sich in verschlüsselter Form die gesamte Geschichte der Kirche. Aber Joachim geht in jener Osternacht auf, mit der Bibel in der Hand lasse sich buchstäblich in der Zukunft lesen. Und er ist überzeugt, erst in seiner analogischen Lesart würde sich das volle geistige Verständnis der beiden Testamente erschließen.

    "Wenn der allmächtige Gott das Alte beenden will, um das Neue aufzubauen, lässt er es zu, dass der Kirche irgendeine Verfolgung geschehe und indem er das, was er beenden will, verlässt, beschützt er das, was bleiben soll."

    Jahrzehnte hat Joachim damit zugebracht, seine Augenblicksintuition auszuarbeiten und in die Lehre von den drei 'Zuständen' oder 'Zeitaltern' zu gießen, die ihn berühmt machen wird. Einmal sei Gott aus seinem Schweigen herausgetreten und habe sich offenbart – das war das Zeitalter des Vaters und derer, die an ihn glauben, der Juden. Dann sei Jesus auf Erden erschienen, Gott und Mensch zugleich, um das Zeitalter des Sohnes einzuläuten und derer, die an ihn glauben – der christlichen Kirche. Die revolutionäre Sprengkraft von Joachims Vision aber liegt darin, dass er die Sohn-Zeit der Kirche durch den zuletzt hereinbrechenden Status des Heiligen Geistes noch einmal überbietet.

    "Der erste Status war der der Wissenschaft, der zweite in der Macht der Weisheit, der dritte in der Vollkommenheit der Erkenntnis. Der erste in der Furcht, der zweite im Glauben, der dritte in der Liebe."

    "Was heißt das? Das heißt zum einen noch mal die Bestätigung für die Strukturgleichheit der Testamente. Das heißt aber noch mehr. Nämlich, dass sich die Geschichte noch ein drittes Mal wiederholen wird auf einer höheren Stufe, dem sogenannten Geistzeitalter. Das Beste kommt erst noch, sozusagen."

    In seinem Buch "Joachim von Fiore. Denker der vollendeten Menschheit", beschreibt Matthias Riedl, wie neu der Gedanke einer Hoffnung auf die Zukunft damals war. In einer Zeit, die noch vollkommen vom Geschichtsdenken des Kirchenvaters Augustinus bestimmt war.

    "Und nach Augustinus war das letzte wirklich große Ereignis Christus' Auftreten in dieser Welt. Und bis zum jüngsten Gericht wird nichts Wesentliches mehr passieren. Und die Erfahrung des Joachim, wie die vieler seiner Zeitgenossen, war, dass eigentlich doch eine ganze Menge passiert. Nämlich gerade im 12. Jahrhundert, in dem er lebt, entwickelt sich in der Kirche eine ganze Reihe neuer monastischer Bewegungen. Die Kleriker organisieren sich in sogenannten Kanoniker-Orden, sind auch bereit, auf Reichtum zu verzichten, Ähnliches findet sich bei den Laien, die organisieren sich in Ritter- oder Hospitalorden."

    Nicht die Kirche wird durch die Endzeit führen, sondern das Mönchtum. Das fordert die kirchlichen Autoritäten heraus. In einem Vorwort zu den Schriften Joachims schrieb der Religionswissenschaftler Mircea Eliade im Jahre 1985:

    "Entgegen Augustins Meinung nahm der kalabrische Abt an, dass nach etlichen Erschütterungen die Geschichte zu einem Zeitalter spiritueller Glückseligkeit und Freiheit finden werde. Es folgt, dass die christliche Vollkommenheit vor uns liegt, in der geschichtlichen Zukunft – eine Idee, die keine rechtgläubige Theologie hinnehmen konnte. Wie man erwarten mag, war es insbesondere der konkrete und historische Charakter des Dritten Zeitalters, der zugleich amtskirchlichen Widerspruch, mönchischen Enthusiasmus und populäre Begeisterung hervorrief."

    Dazu Robert E. Lerner, Professor für Mediävistik an der Universität Princeton:

    "Joachim hat ohne Zweifel im dritten Status eine vollständige Umformung der Kirche erwartet. Petrus als Typus tätiger Weltgeistlichkeit wird dem Typus des Evangelisten Johannes des kontemplativen Mönchtums weichen. Sicherlich wird im dritten Status das Papsttum verschwinden und sehr wahrscheinlich ebenfalls die gesamte Geistlichkeit."

    Darin liegt noch heute seine Sprengkraft. Während Priester noch als Mittler zwischen Gott und die Welt treten, wird das im Liebesverband der Mönche nicht mehr nötig sein.

    "Die Idee ist, dass die Kirche in der Endzeit eine Form annehmen wird, die eigentlich schon die jenseitige Heilsgesellschaft widerspiegelt. Dieses Himmlische Jerusalem wird sich schon in zeitlicher Form in dieser Welt herstellen. Eine Menschheit, die sich in Klöstern versammelt, so stellt er sich das vor."

    Diese Theorie greifen die feurigsten Gemüter im jungen Franziskanerorden ab 1241 begeistert auf. Insbesondere der Spiritualen-Flügel der Franziskaner sieht sich als die von Joachim angekündigte geistliche Vorhut – als Avantgarde, derer sich der Heilige Geist zur Umgestaltung von Kirche und Welt bedienen würde.

    "Dann gibt es aber natürlich bei den Franziskanern die ganz zentrale Erfahrung der charismatischen Gestalt des Heiligen Franziskus. Nun gab's bei Joachim eine ganz interessante Prophezeiung, nämlich eines Führers in das dritte Geistalter. Joachim meinte damit im Grunde einen Papst, der die Kirche reformiert, die Franziskaner haben aber diese Prophezeiung eines Führers auf den Franziskus bezogen."

    Wahrscheinlich ist es im Grunde die joachitische Umformung der Lehren Joachims, die geschichtlich wirksam geworden ist.

    Gerade diese utopistische Lesart Joachims aber ist es, die über Chiliasten wie Thomas Müntzer oder die einflussreiche Schrift "Der Sonnenstaat" des italienischen Dominikanermönchs Campanella bis in die rechten und linken politische Heilslehren des 20. Jahrhunderts fortwirken.

    "Die Wirkungsgeschichte Joachims ist einfach erstaunlich. Man könnte Stunden damit zubringen, alle Berühmtheiten aufzuzählen, die sich auf ihn bezogen haben. Wo er eine große Rolle spielt, ist in der sogenannten 'konservativen Revolution', in bestimmten Formen deutschnationalen Denkens, die im Vorfeld des Nationalsozialismus eine Rolle spielen. Vor allem bei Möller-Vandenbruck, der damals das Buch 'Das Dritte Reich' schrieb, auf das sich auch Goebbels bezogen hat. Man findet das Gleiche auf der Linken. Da findet man es eigentlich noch wesentlich deutlicher, beginnend mit Friedrich Engels, der sich selbst auf den Joachim bezieht in seinem Buch über den Bauernkrieg, noch wichtiger Marxisten der zweiten und dritten Generation, wie Karl Kautzky oder Ernst Bloch. Aber es gab auch in Russland Leute, die Lenin mit dem Führer identifizierten."

    "Schon 1200 ist unser Jahrtausend auf seine politischen Revolutionen getauft worden! Joachim hat damit als Erster den neuen Charakter dieser Vorgänge erfasst. Seine neue Zeitrechnung verdient es, in diesem Zusammenhang mit allen großen Revolutionen bis zur russischen erkannt zu werden. Joachim hatte mit seiner Lehre von der nachkirchlichen Erfüllung einfach recht. Er hat das neue Gesetz, dessen letzter Vollstrecker Lenin hat werden müssen, erkannt."

    Schreibt der Sozialphilosoph Eugen Rosenstock-Huessy. Und der Politologe Eric Voegelin spitzt Joachims Wirkungsgeschichte auf die Behauptung zu:

    "In seiner trinitarischen Eschatologie schuf Joachim das Aggregat der Symbole, die bis zum heutigen Tag die Selbstinterpretation der modernen politischen Gesellschaft beherrschen."

    Aber es sind nicht nur politische Utopien, die sich mit dem Namen des Joachim von Fiore verbinden. Auch spirituelle Bewegungen haben sich von seinem Zeitalter des Geistes her zu legitimieren versucht. So zeigt die sogenannte New-Age-Bewegung mit ihrem heilsgeschichtlichen Entwurf eines "Wassermannzeitalters", in dem die esoterischen Traditionen der Menschheit gewissermaßen demokratisiert werden, viele Anleihen bei Joachims Zeitalter des Geistes. Tatsächlich scheint heute, da Laien in ehemaligen Klöstern die meditativen und kontemplativen Techniken der Mönche üben, der Zustand einer kontemplativen, frei flottierenden Spiritualität erreicht.

    "Denn wenn die Fülle der Zeit kommen wird, wird die verborgene Stimme über das Dach hin schallen. Was im kleinen Volke eingeengt war, wird sich über die Weite der Völker ergießen."

    "Was sich bei ihm findet, und das ist das Entscheidende, ist eben ein neues Epochenbewusstsein. Das Bewusstsein, an einem Wendepunkt der Geschichte zu leben, an dem die Menschheit beginnt, sich zu spiritualisieren."

    Der englische Joachim-Forscher Bernard McGinn:

    "Gläubige schauen weiterhin nach Zeichen aus; sie versuchen, die Geschehnisse ihrer Zeit in einen weiteren Rahmen zu stellen. Das Fortbestehen dieser Anliegen, die Ähnlichkeit der gegebenen Antworten ist zumindest eine Schnittstelle zwischen unserer aktuellen Situation und der apokalyptischen Geschichtstheologie, wie wir sie bei Joachim finden."