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Der Protest, die Demokratie und die Grünen

Grünen-Bashing ist bei Konservativen und Liberalen derzeit schwer in Mode. Kein Wunder – schließlich etablieren sich die Grünen - so zeigen alle jüngeren Umfrageergebnisse - derzeit als neue Volkspartei, sehr zum Ärger der politischen Konkurrenz.

Von Norbert Seitz |
    Um das mögliche Abschneiden der Grünen bei den bevorstehenden Landtagswahlen ranken sich derzeit Blütenträume ungeahnten Ausmaßes. Einen davon schildert uns Albrecht von Lucke in den "Blättern für deutsche und internationale Politik". Er versteigt sich dabei zu der kühnen Behauptung, hierzulande müsse wieder in klassischer Manier zwischen "zweierlei Bürgerlichkeit" unterschieden werden einem reinen Klientelbürgertum, wie es primär von der FDP verkörpert wird oder einem aufgeklärten, durchaus links-liberalen Bürgertum. Schwarz-Gelb ist noch einmal, soweit die Bilanz des ersten Jahres, der Sieg des materialistischen Bourgeois. Die Grünen dagegen bedienen, wie ihnen gerne vorgehalten wird, ebenfalls eine Klientel, nämlich gerade die Klientel jener, die keine (oder zumindest nicht primär) Klientelpolitik wünschen, sondern eine am Gemeinwohl orientierte Politik. Damit zielen sie auf den Citoyen als dem politisch engagierten Zeitgenossen und werden zum Profiteur jener neuen Politisierung, deren Vorschein man soeben in Stuttgart und Gorleben erleben konnte.
    Ganz so rosig werden die Chancen der Grünen nicht überall gesehen. Für Peter Siller zum Beispiel wirft der enorme Zuspruch für die Ökopartei ein paar Fragen auf, die das Selbstverständnis der neuen Protestbewegungen berühren. Im SPD-Theorieorgan "Berliner Republik" gibt er kritisch zu bedenken:

    In den Protesten äußert sich vielfach der Wille zur republikanischen Einmischung. Es ist aber nicht zu übersehen, dass daneben gerade in Teilen der gehobenen Mittelschicht ein Politikverständnis wieder aufersteht, das sich gegen den Primat der Demokratie in Stellung bringt. Der demokratische Staat und seine Institutionen werden hier nicht mehr als Garant, sondern als Gefährdung des eigenen Status verstanden. Demokratische Entscheidungen werden so zur unzulässigen öffentlichen Einmischung in private Angelegenheiten. Dagegen arbeitet grüne Politik daran, die Legitimation demokratischer Entscheidungen und Institutionen zu verbessern.

    Doch die grüne Partei profitiert derzeit nicht nur von den schwerfälligen Neuerfindungsversuchen der SPD, sondern auch von der diskursiven Stagnation der Partei Die Linke, die bei Sarrazin, im Atomstreit, bei Stuttgart 21, den Hartz-Korrekturen, der Rentendiskussion, beim Umbau der Bundeswehr oder der Gesundheitsreform kaum wahrgenommen wurde. Von der unterirdischen jüngsten "Kommunismus"-Debatte nicht erst zu reden! "Programmatisch festgefahren" sei seine Partei, befindet deren Berliner Landesvorsitzender Klaus Lederer in den "Blättern für deutsche und internationale Politik":

    Es ist die Grundannahme, die meisten Menschen würden aus sozialen Ungerechtigkeiten und ungelösten Herausforderungen schlussfolgern, dass der Kapitalismus schleunigst zu überwinden sei. Ich halte diese These für grundfalsch. In den großen Industriestaaten wird von Mehrheiten in einem breiten gesellschaftlichen Konsens so etwas wie kritische Systemanpassung gelebt, die auf der Akzeptanz der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beruht. Mit Bewunderung wird auf die Proteste in Frankreich geschaut und ein Protestimport prophezeit. Kommt jener nicht, bleibt nur die unerfüllte Sehnsucht.
    Von wegen Vorbildfunktion Frankreich in Sachen Protest! Benjamin Korn hält klar dagegen und stellt in der Zeitschrift "Lettre International" sogar die Frage, warum sich das französische Volk all die zahlreichen Bestechungs- und Staatsskandale und den autoritären Zugriff auf die staatlichen Medien gefallen lässt, ohne zu reagieren:

    Es geht für seine sozialen Rechte auf die Straße, unterbricht den Zugverkehr, besetzt Raffinerien, legt den halben Staat lahm – aber tut nichts für seine Freiheitsrechte. In Spanien demonstrieren Zehntausende gegen die Entlassung des Richters Baltasar Garzón, der die Verbrechen Francos aufdecken wollte: Die Italiener protestieren massenhaft gegen den Zugriff Berlusconis auf die Presse: Aber die Mehrheit der Franzosen rührt sich nur noch für ihre Löhne und Privilegien.
    Derweil bewundere Staatspräsident Sarkozy das deutsche Modell. Schreibt Reinhard Mohr in der Zeitschrift "Cicero". Der Autor ironisiert die Tatsache, wie in Zeiten der weltweiten Finanzkrisen Deutschland draußen als "Musterknabe" und "Vorbild" angesehen werde, während es den Deutschen eher schwerfalle, "diese neue Rolle für sich zu akzeptieren":

    Wie kann das sein: "Vorbild Deutschland"? Was, bitte schön, ist mit Hartz IV, Gorleben, Stuttgart 21, Kinderarmut, Kitamangel, Zweiklassenmedizin, Pflegenotstand, Bildungselend, Pisa & Co. Das geradezu penetrante Lob aus dem Ausland bringt das geordnete Verhältnis von Fremd- und Selbstwahrnehmung gehörig durcheinander. Da heißt es stark bleiben und weiterkämpfen. Motto: Wir lassen uns unser kritisches Verhältnis zum eigenen Land doch nicht von dahergelaufenen Franzosen und Amerikanern nehmen! Wäre ja noch schöner.

    Norbert Seitz war das mit seinem allmonatlichen Blick in Politische Zeitschriften.