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Der Prototyp eines moralischen Skeptizismus

Die Fehlerhaftigkeit des Menschen ist das Grundthema in Ian McEwans Episodenroman "Solar". McEwan verwebt Intrigen und Betrügereien des Wissenschaftsbetriebes mit einer Hauptfigur, die sowohl Ekel als auch Sympathie beim Leser auslöst.

Von Tanya Lieske | 28.11.2010
    Im Jahr 2005 besuchte der britische Schriftsteller Ian Mc Ewan mit einer Gruppe von Künstlern die norwegische Arktis. Sinn des Unternehmens war es, das Thema des Klimawandels in die Kunst zu bringen. Nun, fünf Jahre später, ist der zugehörige Roman erschienen: Solar. Es ist ein gewagter Roman. Denn der Klimawandel ist höchst präsent, in der Presse, auf den großen internationalen Konferenzen. Es gibt nichts, was nicht schon gesagt wurde, und das Publikum teilt sich, jenseits der Bereitschaft den häuslichen Müll zu trennen, in zwei Gruppen. Es gibt die Sorglosen, die weiter machen wie bisher. Und es gibt die Alarmisten, die den Rest der Menschheit zur Umkehr zwingen wollen, jetzt und sofort Jutetaschen für alle.

    An diesen Positionen kommt auch ein Romanautor nicht vorbei. Doch wie Stellung nehmen, ohne ins Thesenhafte abzurutschen? Auch der Stand von Wissenschaft und Forschung müsste erklärt werden – und schon befindet man sich im Bereich der angewandten Literatur. Hier geht bekanntlich gar nichts mehr.

    Der Booker-Preisträger Ian McEwan ist spätestens seit seinem Roman "Abbitte” (2001) ein Weltschriftsteller, ein Global Player unter den Romanautoren. Kein Anfänger also, er muss das Problem durchdacht haben, und er hat Lösungen anzubieten, und die sehen so aus: Ian Mc Ewan schreibt weniger über die Klimadebatte als darüber, wie die Debatte geführt wird, über die Kultur der Debatte also. Er verlässt sich in der Folge auf Komik, da wo Thesen ausgetauscht werden müssen und er hat eine Hauptfigur gefunden, die sowohl interessant ist als auch intelligent genug, den wissenschaftlichen Diskurs zu durchschauen. Der findet so weniger in erklärenden Erzählpassagen statt als in den Dialogen und natürlich in den Gedanken des Autors. "Solar" ist ein Roman, der in Inhalt und Ausführung im Wesentlichen von seiner Hauptfigur getragen wird. Und hier hat Ian McEwan aus dem Vollen geschöpft. Michael Beard ist Nobelpreisträger. Zum Auftakt des Romans ist er 53 Jahre alt, am Ende Anfang Sechzig.

    Er hatte eine Ehrenprofessur an der Universität Genf inne, lehrte dort aber nicht; er gab seinen Namen, seinen Titel – Professor Beard, Nobelpreisträger – für Briefköpfe und Institute her, unterzeichnete internationale "Initiativen", saß in einer Königlichen Kommission für Forschungsförderung, hielt populärwissenschaftliche Radiovorträge über Einstein, Photonen und Quantenmechanik, (...) schrieb Fachgutachten und Empfehlungen, interessierte sich für Klatsch und Tratsch, (....) nahm Ehrendoktortitel entgegen und hielt Tischreden und die eine oder andere Lobrede auf Kollegen, die in Pension gingen oder zur Einäscherung anstanden. Dank Stockholm war er in dieser spezialisierten Binnenwelt eine Berühmtheit und konnte sich, seiner selbst leicht überdrüssig und mangels anderer Alternativen, von Jahr zu Jahr treiben lassen.

    Seit mehr als einem Vierteljahrhundert trägt Michael Beard den Nobelpreis für seine Forschungsleistungen im Bereich der Photovoltaik. Doch der Schatten eines Nobelpreises ist lang, das suggeriert der Roman. Bekommt man ihn jung, so wie Michael Beard, lebt man fortan mit dem Wissen der eigenen Unzulänglichkeit. Das ist komisch und tragisch zugleich. Es macht aus Michael Beard einen Antihelden. Mit seiner Karriere als Wissenschaftler hat er eigentlich schon abgeschlossen.

    Bestenfalls las er populärwissenschaftliche Zeitschriften wie gerade jetzt den Scientific American, um sich, wenn auch nur auf Laienniveau, in physikalischen Dingen auf dem Laufenden zu halten. Aber selbst dabei war seine Konzentration beeinträchtigt, da er aus lästiger lebenslanger Gewohnheit ständig nach seinem eigenen Namen Ausschau hielt. (....) Schon nach fünf Minuten schlug sein Herz plötzlich höher, als er in einem Nebensatz die drei magischen Worte erblickte: Beard-Einstein-Theorem. Nicht das Bose-Einstein-Kondensat, nicht das Einstein-Podolski-Rosen-Paradoxon, nicht Einstein pur, sondern das eigentlich Wahre, jene Verschmelzung aus Einstein und Beard. (...)
    Natürlich war er sich des Glücksfalls bewusst, dass ihn der Bulldozer von einem weltberühmten Genie auf dem winzigen Vehikel seines Talents, diesem schmächtigen Dreirad, ein Stückchen hinter sich hergezogen hatte.


    Der dreiteilige Roman beginnt im Jahr 2000. Um den Scherben seiner fünften Ehe zu entfliehen, nimmt Michael Beard eine Einladung zu einer Künstlerreise in die Arktis an. Er gibt seinen zugkräftigen Namen, bekommt dafür eine illustre Gesellschaft. Eine französische Choreographin ist unter den Mitreisenden, ein spanischer Bildhauer, ein britischer Schriftsteller, den man sich durchaus als alter ego des Autors vorstellen kann. Michael Beard erlebt auf dem Schiff, was auch der Autor Ian McEwan auf seiner Reise erlebt hat: Mal anregende, mal absurde Debatten und Einiges an Ernüchterung. Es soll der Blick in einen Schrank gewesen sein, der die Inspiration für den vorliegenden Roman gab. In diesem Schrank wird die Schneeausrüstung für die Teilnehmer der Exkursion aufbewahrt. Wollen sie das Schiff verlassen, müssen sie sich in dicke Schutzanzüge zwängen, eine Brille aufsetzen, Handschuhe anziehen:

    Unterdessen wurde die Situation in der Stiefelkammer, hinter der Wand, die er Schott zu nennen gelernt hatte, immer kritischer. Mitte der Woche fehlten vier Helme, drei der schweren Kälteschutzanzüge und zahlreiche kleinere Gegenstände. Nur noch zwei Drittel der Gruppe konnte gleichzeitig ins Freie gehen. Wer raus wollte, musste stehlen. (....) Niemand, dachte er und bewunderte seinen Edelmut, hatte sich schlecht benommen, alle hatten sich, da sie aufs Eis hinauswollten, unter den gegebenen Umständen vollkommen logisch verhalten, wenn sie ihre fehlenden Biwakmützen oder Handschuhe an einer unvermuteten Stelle "entdeckt" hatten. Es mochte pervers oder zynisch sein, sich über diese Vorstellung zu amüsieren, aber er konnte nicht anders: Wie wollten sie die Erde retten – vorausgesetzt sie musste gerettet werden, was er bezweifelte -, die doch viel größer war als die Stiefelkammer?

    Die Fehlerhaftigkeit des Menschen ist also das Grundthema, der basso continuo des Romans. Michael Beard verkörpert diese Fehlerhaftigkeit aufs Vortrefflichste. Zählt man all seine Laster auf, fällt es schwer, nicht an den Katalog der Sieben Todsünden zu denken. Michael Beard isst und trinkt zu viel. Schon zu Beginn des Romans weist er einen beträchtlichen Körperumfang vor; am Ende kann er sich kaum noch vom Fleck bewegen. Er ist untreu, lässt sich von insgesamt fünf Frauen scheiden, denkt unablässig an Sex. In Gesellschaft verhält er sich skrupellos, narzisstisch und eigensüchtig bis zum Anschlag. Eine Art moderner Jedermann ist dieser Michael Beard, er hat als Figur eine allegorische Dimension. Er ist ein Platzhalter für die Fehler der Menschheit, die konisch zulaufen in der Klimasünde, in dem Willen zu eigenen Untergang. Der wird bei Ian McEwan aber nicht apokalyptisch, sondern immer in der ersten Ableitung beschworen, in der karikierenden Zeichnung all jener, die zu Untergangsszenarien neigen.

    Am Ende aber dominierte statt der Enttäuschung nackte Panik die Klangkulisse. Der Golfstrom würde versiegen, die Europäer in ihren Betten erfrieren, das Amazonasgebiet werde zur Wüste, ganze Kontinente würden in Flammen aufgehen, andere im Meer versinken, im Jahr 2085 sei die Arktis im Sommer eisfrei und der Eisbär ausgestorben. Beard hatte alle diese Prophezeihungen schon oft gehört und glaubte kein Wort. (....) Ein kinderloser Mann, vor dem Scherbenhaufen seiner fünften Ehe, konnte sich ein Quentchen Nihilismus leisten.
    Entdeckt Michael Beard Unzulänglichkeiten bei Anderen, bei seinen Mitreisenden etwa, dann verwandelt er sich in einen beißenden Spötter. Von der Fraktion der romantisch gestimmten Umweltschützer distanziert sich so auch der Erzähler mit fast aggressiv anmutender Geste. Vom Autor Ian McEwan weiß man, dass er zwar ein engagierter Umweltschützer ist, sich aber lieber auf die Wissenschaft als auf den Menschen verlässt, wenn es darum geht, den Planeten zu retten. Hier fungiert Michael Beard durchaus als Sprachrohr des Autors. Vielleicht belässt Ian Mc Ewan ihm aus dieser inneren Verbindung her einen Rest an Würde, denn im Dienste eines oft überdrehten Plots wird Michael Beard zum Clown. Doch er besitzt nicht nur die Fähigkeit zum Spott, sondern auch die zur Selbstreflexion. Er weiß um seine Schwächen.

    Beard hätte es nicht für möglich gehalten, dass er einmal mit so vielen Gleichgesinnten in einem Raum sitzen und trinken würde, dass es hehre Kunst wäre – Dichtung, Bildhauerei, Tanz, absolute Musik, Konzeptkunst -, die den Klimawandel als Thema auserkor, veredelte und umspielte, die den ganzen Schrecken und die verlorene Schönheit und die ungeheure Bedrohung enthüllen und die Öffentlichkeit anspornen wollte, sich Gedanken zu machen, etwas zu unternehmen oder das von anderen einzufordern. Er saß da, vor Staunen stumm. Idealismus war seinem Wesen so fremd, dass es ihm die Sprache verschlug. Er befand sich auf unbekanntem Terrain, bei einem freundlichen Stamm von Exoten

    In Michael Beards Gedanken und in deren Brechungen bündelt sich der Roman. Genau hier liegt aber das Konstruktionsproblem. Michael Beard ist Allegorie und Mensch und in beiden Funktionen nicht wandelbar. Der Roman verlangt aber nach einer Entwicklung. Ian McEwan, der in seinen früheren Büchern viel Sinn für die Psychologie und Entfaltung seiner Figuren bewiesen hat, muss sich mit diesem Manko auseinandergesetzt haben. Er setzt nun andere dynamische Elemente ein, und die liegen auf der Ebene des Plots. Er übertreibt, er kolportiert, er greift zum Slapstick. Das wirkt genau so grell, wie es sich anhört. Zwängt der übergewichtige Michael Beard sich in seinen Schneeanzug, dann beschlägt die Brille, die Brille gefriert, und dann hat er auch noch vergessen, vor der Abfahrt mit einem Schneemobil Wasser zu lassen, also muss er mitten im Eis noch mal anhalten, seine Blase entleeren, was zum nahen Frostschockzustand seines membrum virile führt.

    Panik stieg in ihm auf, aber um Hilfe rufen kam nicht infrage. Gegen die aufkommende Panik half es ihm auch nicht gerade, dass sein Kopf in einer erstickenden Vlieshaube, einem massiven Helm sowie einer Schutzbrille feststeckte, durch die er so gut wie nichts mehr sehen konnte. Mangels anderer Möglichkeiten bedeckte er seine Blöße mit einer Hand – einer Hand, die einem Eisklotz glich. (...). Er sah Jock Braby im Fernsehen mit nachsichtigem Lächeln einen Nachruf sprechen. Er wollte sich mit eigenen Augen von der globalen Erwärmung überzeugen. Unsinn, natürlich würde er überleben. Allerdings ohne Penis. Ein gefundenes Fressen für seine Exfrauen, besonders Patrice.

    "Solar" ist ein Episodenroman, in dem sich viele clowneske Szenen aneinanderreihen. Auch das Thema des Schelmenromans klingt an, denn natürlich mogelt Michael Beard sich lieber durch, statt zu arbeiten. In der Summe wirkt das skizzenhaft, dem Roman fehlt das dramaturgische Zentrum. Stattdessen inszeniert Ian McEwan eine Verwechslungskomödie mit fatalem Ausgang.

    Als Michael Beard von seiner Polarreise nach London zurückkehrt, erwischt der Nobelpreisträger einen Nachwuchswissenschaftler in seinem Haus, einen seiner Schüler. Er ist der neue Liebhaber seiner fünften Frau Patrice. Es kommt zum Streit, der junge Mann rutscht aus, schlägt mit dem Kopf auf einen Glastisch und stirbt. Zurück bleiben Studien, die er zur angewandten Photosynthese getätigt hat, und die widmet er ausdrücklich seinem Lehrer Michael Beard. Der erkennt nach anfänglicher Verblüffung den Nutzen. Eine mit Sonnenkollektoren künstlich nachgeahmte Photosynthese setzt große Mengen an Energie frei. Michael Beard hofft nun auf das große, schnelle Geld.

    Im folgenden zweiten und auch im dritten Teil des Romans wird er zu einem Handlungsreisenden ausgerechnet in Sachen sanfter Energie, zu einer medientauglichen Kopie seines immer noch zynisch gestimmten Selbst. Dahinter liegt natürlich das Thema von Original und Fälschung, oder - und hier hat man die moralische Dimension des Romans erreicht - von Wahrheit und Lüge. Michael Beard ist der Prototyp eines moralischen Skeptizismus, ein Ideenräuber; sein Produkt ein Plagiat.

    An diesem Spiel hat der Autor sichtlich Vergnügen gewonnen. Er zieht die Schraube noch um eine Umdrehung an, inszeniert eine Verwechslung in der Verwechslung und bringt das Plagiat nun auch als Erzählstrategie zurück in seine Romanhandlung. Das geschieht wie folgt:

    Stellen Sie sich vor, wir begegnen am Waldrand einem Mann. Es regnet in Strömen. Der Mann ist kurz vor dem Verdursten. Er hat eine Axt und fällt damit Bäume, um den Saft aus den Stämmen zu saugen. Nur ein paar Schlucke pro Baum. Um ihn herum ist alles verwüstet, Bäume liegen am Boden, kein Vogel singt, und er weiß, der Wald wird bald verschwunden sein. Warum legt er nicht einfach den Kopf in den Nacken und trinkt den Regen?

    Ein Auszug aus einer Rede, die Michael Beard vor einer Gruppe skeptischer Anleger hält, er will sie gewinnen, sie sollen in seine neuen Sonnenkollektoren investieren. Der Redner gibt eine kümmerliche Figur auf dem Podium. Ihm ist schlecht, er hat vor seinem Auftritt zu viele Fischbrötchen verschlungen. Er verachtet seine Zuhörer, er schert sich einen Deut um die Rettung des Planeten. Doch er greift zu großen, sentimentalen Worten. Was nur der Leser weiß: Die zitierten Sätze sind nicht seine eigenen, sie stammen von seinem verstorbenen Schüler. Das merkt im Raum natürlich niemand. Trotzdem wird Michael Beard später, nach seinem Vortrag, des Ideenklaus bezichtigt.

    Michael Beard hat seinen Zuhörern als krönende Pointe ein persönliches Erlebnis erzählt. Früher am Tage hatte der zunehmend gefräßige Nobelpreisträger sich eine Tüte Chips gekauft, mit der Absicht, sie im Zug zu verspeisen.

    Vor ihm auf dem Tisch schimmerten die Salz- und-Essig Chips durch seine fast geschlossenen Lider. (...) Er hatte Beherrschung bewiesen – der Zug war schon vor mehreren Minuten losgefahren -, doch jetzt gab es keinen vernünftigen Grund mehr, sich länger zurückzuhalten. (...). Er nahm die Tüte in beide Hände und riss sie auf. Sogleich strömte ihm der klebrige Duft von Bratfett und Essig entgegen: der raffiniert im Labor nachgebaute Geruch des Fish-and-Chip-Shops an der Ecke, eine Inszenierung schöner Erinnerungen und Sehnsüchte und nationaler Identität. Die Flagge auf der Tüte war natürlich kein Zufall. (...)
    Er sah auf, und in diesem Moment beugte sein Mitpassagier sich vor, fixierte ihn mit diesem unheimlichen Blick und pflanzte, vielleicht in bewusster Parodie, seine Ellbogen auf dem Tisch auf. Dann senkte er einen Unterarm wie einen Kran auf die Tüte hinab, bemächtigte sich eines Chips, vermutlich des größten im ganzen Päckchen, betrachtete ihn kurz und verschlang ihn, nicht genüsslich wie Beard, sondern mit unverschämt übertriebenen Kaubewegungen (...) .


    Der vermeintliche Dieb war der eigentliche Besitzer der Tüte, so weit diese Pointe, die Michael Beard in seine Rede einfließen lässt mit dem erkenntnistheoretischen Hinweis darauf, dass die Dinge nicht immer das sind, was sie scheinen. Nun aber nähert sich ihm aus dem Publikum ein Folkloreforscher, der ihn darauf aufmerksam macht, dass die Geschichte des Dieb wider Willen ein moderner Mythos sei, und dass er, Michael Beard als Redner sich dieses Mythos’ unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bemächtigt habe. Das sitzt. Michael Beard ist gekränkt. Ian Mc Ewan aber ist spätestens jetzt bei einem zentralen Anliegen des zeitgenössischen Romans angekommen: Erzählstrategien zu entwickeln, zu verwerfen, und so dem Zweifel an der Welt als ganzer Ausdruck zu verleihen. Das Thema des Klimawandels dient spätestens ab hier nur noch als Kulisse, vor der all dies stattfindet.

    Eine Andeutung dafür, dass es so laufen würde, gab es übrigens schon im ersten Teil des Romans. Dort, man befindet sich noch auf dem Schiff, wendet sich der Romanautor an den Physiker mit der Frage, ob die Heisenberg’sche Unschärferelation sich nicht auch auf moralische Dilemmata anwenden ließe. Der Fragende wurde unangespitzt in den Boden gerammt:

    Worauf Beard, der gerade sein achtes Glas Wein austrank und jetzt merkte, wie ihm Nase und Oberlippe vor Verachtung für diesen ahnungslosen Eindringling auf seinem Gebiet nach oben wanderten, nachdrücklich erwiderte, es sei mit der Unschärferelation durchaus vereinbar, den Zustand, sagen wir, eines Photons präzise zu bestimmen, solange man es wiederholt beobachten könne. Eine Analogie zu Fragen der Moral könne man allenfalls darin sehen, dass man ein moralisches Problem mehrmals untersuchen sollte, bevor man irgendwelche Schlüsse ziehe.
    Der Austausch zielt auf den guten alten Disput zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Jede beansprucht das Primat der Weltdeutung für sich. Übergriffe wurden, bis vor Kurzem, noch streng geahndet. Ian McEwan, der sich tief in die Teilchenphysik versenkte, bevor er seinen Roman "Solar" schrieb, verteilt hier, vorläufig, den Punktestand eins zu eins, also Unentschieden.

    All das ist zugegeben amüsant, geistreich; doch es verpufft, weil die dürftige Konstruktion des Romans so viel erzählerische Metaphysik nicht verkraftet. Und das liegt am Schluss offen. Einen Roman ohne Dramaturgie kann man nicht auflösen. Man schreibt nun das Jahr 2009, Tony Blair regiert nicht mehr in England, dafür Barack Obama in den USA. Michael Beard ist körperlich in desolater Verfassung, er ist von körperlichen Symptomen umzingelt wie von antiken Rachegöttinnen:

    Das war der Beitrag des Alkohols zur Schlaflosigkeit – er war ausgetrocknet, erschöpft, hellwach. Das übliche Bündel erstarrter Ängste erschien vor ihm im Dämmerlicht des überheizten Badezimmers. Nicht alle seine Sorgen waren abstrakt. Manche waren ausgesprochen konkret: sein Gewicht, sein Herz, das dieser Tage sehr unregelmäßig zu schlagen schien, das Schwindelgefühl beim Aufstehen, die Schmerzen in seinen Knien, seinen Nieren, seiner Brust, die bleierne Müdigkeit, die ihn niemals ganz losließ, der rote Fleck an seinem Handrücken, der sich vor einigen Monaten violett verfärbt hatte, der Tinnitus, ein dünnes Rauschen, das sich niemals legte und jetzt ganz deutlich war, das ebenso konstante Kribbeln in seiner linken Hand. Er empfand die Symptome als Verbrechen. Er sollte zum Arzt gehen und ein umfassendes Geständnis ablegen. Aber das Urteil wollte er nicht hören.

    Stattdessen will Michael Beard in der Wüste von Neu-Mexiko unter erheblichem Interesse der Öffentlichkeit den Prototypen seines neuen Sonnenkollektors in Betrieb nehmen. Die Medien sollen mit dabei sein, und für sie haben Beard und sein Kollege Toby Hammer noch einmal alle Ängste vom drohenden Weltuntergang inszeniert:


    - Was hast du eigentlich? Ärger zuhause?
    - Nein, nein. Nur dass ich mich so abrackere, und dann treten irgendwelche Typen in weißen Kitteln im Fernsehen auf und behaupten, der Planet wird gar nicht wärmer. Das macht mich nervös.
    Beard legte seinem Freund eine Hand auf den Arm, ein sicheres Zeichen, dass er zu viel getrunken hatte.
    -Toby, glaub mir. Es ist eine Katastrophe. Entspann dich!


    Es kommt es zum Showdown. Michael Beards Sünden schlagen zurück, personifiziert in den Menschen, denen Unrecht getan wurde. Ein alter Nebenbuhler taucht auf, der statt seiner eine Gefängnisstrafe wegen Mordes verbüßen musste. Dann ein Anwalt, der ihn, diesmal zu recht, des Diebstahls von geistigem Eigentum bezichtigt. Zuletzt zwei Frauen, zwei Geliebte, denen er wie üblich mehr versprochen hat, als er halten kann und will, mindestens eine Ehe war mit dabei. Michael Beard ist umringt, und Michael Beard bleibt stur. Er will weitermachen, so lange es geht, und so lange Beard weitermacht, hat seine Geschichte kein Ende. Daher das sowohl abrupt anmutende als auch offene Ende dieses Romans.

    Ian McEwan hat mit "Solar" viel bewiesen. Er kann virtuos mit modernen Erzähltechniken jonglieren, und er vermag wissenschaftliche Fragen elegant im Stile eines Konversationsromans aufbereiten. Auf der ganzen Strecke aber verhält es sich mit Ian McEwans neuem Roman "Solar" wie mit dessen Hauptfigur. Groß war die Inszenierung, klein ist die Substanz. Es bleibt die Erkenntnis, dass in jedem Menschen ein unvollkommener Jedermann steckt. Das hat man schon vorher gewusst.