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Der Prozess

Gleich mehrere Bücher sind über den Prozess des Wettermoderators Jörg Kachelmann angekündigt, der seine Freundin vergewaltigt haben sollte. Bereits in den Buchhandlungen angekommen ist Thomas Knellwolfs Prozesschronik "Die Akte Kachelmann".

Von Sabine Pamperrien | 20.06.2011
    Das schnelle Buch zum Prozess um den Schweizer Wettermoderator liefert der Schweizer Journalist Thomas Knellwolf. Er erzählt nach, was er selbst bereits im Vorwort nicht nur als Medienskandal, sondern auch als Justizskandal einordnet. Der Gerichtsreporter vom Zürcher Tages-Anzeiger und Berner Bund war an fast allen Prozesstagen im Gerichtssaal dabei und zählt selbst zu den Medienvertretern, die jene - wie er schreibt - "unfreiwillige Kachelmann-Peepshow" illustrierten. Die kritische Lektüre dieses Buchs muss deshalb von der Frage begleitet sein, wie sich der Autor aus diesem Dilemma rettet. Um es vorweg zu nehmen: Es gelingt ihm recht gut.

    "Der Fall Kachelmann machte nicht nur Konsumenten von Boulevardblättern, sondern auch solche von seriösen Blättern zu Voyeuren",
    schreibt Thomas Knellwolf im Vorwort und merkt zur eigenen Involviertheit - nicht ohne Hinweis auf seine gründliche Recherche - selbstkritisch an:

    "Das Ganze bleibt ein Bericht aus subjektiver Sicht und damit eine Bewertung des Schreibenden."

    Die Einschränkung ehrt ihn angesichts einiger Kollegen in den Medien, die sich, wie Knellwolf schreibt, zum Mitverteidiger oder publizistischen Nebenkläger machten. Neben der Bild-Zeitung haben sich für den Schweizer Journalisten die beiden Wochenpublikationen "Spiegel" und "Zeit" journalistisch unmöglich gemacht. Die als unschöner Sidekick der Prozessberichterstattung entstandene Konfrontation namhafter deutscher Journalistinnen der drei Leitmedien schildert der Autor ohne Häme.

    Tendenziöse Berichterstattung entlarvt er an ihrer Sprache. Weil der erste Verhandlungstag wegen Befangenheitsanträgen bereits nach fünf Minuten beendet wurde, konzentrierten die Prozessbeobachter ihr Interesse offenbar auf physische Merkmale der Prozessbeteiligten und die Frage: "Wer warf wem wann welchen Blick zu?" Knellwolf geht davon aus, dass die unterschiedlichen Sichtweisen "vor allem etwas über den Standpunkt der Schreibenden verraten". Sein Beispiel:

    "Spiegel-Autorin Gisela Friedrichsen will gesehen haben, wie der Angeklagte mehrfach den Blickkontakt – fragend und irritiert wirkend – zu seinem mutmaßlichen Opfer' suchte. Doch die 'junge Frau, sehr dünn, blass und spitz im Gesicht, verweigerte jeglichen Blick in seine Richtung'.'Kachelmann würdigte Ex-Geliebte keines Blickes', titelte die Bild. Und die Bild-Sondergesandte Alice Schwarzer hatte eine 'zarte, blonde junge Frau' erblickt, das Gesicht 'blass, aber gefasst, ja entschlossen'."

    Der Autor beschreibt, wie Sabine Rückert, die Gerichtsreporterin der "ZEIT", sogar aktiv in den Prozess eingriff, um dem Angeklagten zu einem ihrer Meinung nach besseren Anwalt zu verhelfen. Der empfohlene Anwalt war ihr Co-Autor bei einem Buch über Fehlurteile in Vergewaltigungsprozessen. Johann Schwenn übernahm später tatsächlich die Verteidigung - ohne weiteres Zutun der ZEIT-Journalistin, wie Knellwolf nicht ganz überzeugt referiert. Dem Autor waren offensichtlich zahlreiche Quellen bei den Prozessbeteiligten zugänglich. Mehr als zwei Drittel des Buchs handeln von den Ereignissen vor der Eröffnung der Hauptverhandlung. Alle Ermittlungsschritte werden minutiös nachgezeichnet. Fast wünscht man sich genauer zu erfahren, wer die Informationen gab und wie der Autor die zahlreichen Indiskretionen einordnet. Wie etwa gelangte das geheime Tagebuch des mutmaßlichen Opfers an die Presse?

    Es ist einer der Hauptkritikpunkte im Fall Kachelmann, dass die Beteiligten schon während der laufenden Ermittlungen massiv versuchten, die Presse für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Dabei wurden insbesondere von Personen, die eigentlich nur bei Polizei und Staatsanwaltschaft angesiedelt sein können, diverse der Verschwiegenheit unterliegende Informationen durchgestochen – wie im journalistischen Fachjargon gezielte Indiskretionen genannt werden. Notgedrungen muss man dem Schweizer Journalisten und seiner professionellen Distanz daher bei der Würdigung der zugetragenen Informationen vertrauen - oder eben selbst spekulieren.

    "Im Fall Kachelmann läuft alles verkehrt: Während der Strafuntersuchung, eigentlich geheim, ist fast alles publik geworden, während des Prozesses, eigentlich öffentlich, bleibt das meiste geheim."

    Für den Schweizer ist es ein Unding, dass das Gericht so häufig die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausschloss.

    "Wer Recht hat, können Außenstehende nicht abschätzen, denn durch den umfassenden Zeuginnenschutz ist das Verfahren längst zu einem Geheimprozess verkommen. Zwei Drittel der Aussagen finden ohne Publikum und Presse statt. Medien können so die Justiz nicht kontrollieren oder fundiert kritisieren, was in einem Rechtsstaat grundlegend wäre."

    In der Tat mutet es paradox an, dass ein Gericht Belastungszeuginnen zum Schutze ihrer Persönlichkeitsrechte hinter verschlossenen Türen verhört, obwohl dieselben Zeuginnen zuvor in Zeitschriften gegen gute Honorare intimste Details ihrer Beziehungen ausplauderten. Knellwolf hat immerhin so viele Informationen, dass er die deutlichen Diskrepanzen zwischen den Aussagen vor ermittelnden Beamten und skandalisierenden Journalisten aufzeigen kann. In der Schweiz, so resümiert er am Ende des spannend geschriebenen Real-Krimis, wäre ein solcher Prozess unmöglich gewesen. Da es kein Unmittelbarkeitsprinzip gebe, müssten auch nicht alle bereits mit ihren Aussagen während der Ermittlungen aktenkundig gewordenen Zeugen nochmals angehört werden. Statt 44 Prozesstagen wären es wahrscheinlich drei geworden – 41 Tage weniger Spießrutenlaufen für die Beteiligten.

    "Kaum jemand in Deutschland scheint sich zu fragen, ob an einem Rechtssystem etwas faul ist, das einen solchen Monsterprozess nicht nur zulässt, sondern nahezu verlangt. Vielleicht liefert der Extremfall Kachelmann Anlass, ein Rechtssystem zu überdenken, das den Anforderungen des Medienzeitalters nicht mehr gewachsen ist. Dann würde aus der Peepshow, die Schaden in so vieler Menschen Leben angerichtet hat, immerhin ein Lehrstück."

    Man merkt diesem Buch an, dass Anfang und Ende schnell geschrieben wurden, wohl, damit das Buch wenige Tage nach dem Urteil auf den Markt kommen konnte. Vorwort und Nachwort fallen so knapp aus, dass die übliche kritische Gesamtschau nicht die wünschenswerte Tiefe hat. Die Fallschilderung selbst gleicht das mit breiter Recherche und genauer Beobachtung bestens aus. Wer bisher angewidert einen großen Bogen um die Kachelmann-Berichterstattung gemacht hat, kann sich erfreulich objektiv über den Prozess des Jahres informieren. Und auch, wer der Meinung ist, schon alles zu wissen, wird sich nochmals wundern.

    Thomas Knellwolf: "Die Akte Kachelmann. Anatomie eines Skandals"
    Orell Füssli Verlag, 256 Seiten, 14,90 Euro
    ISBN 978-3-280-05443-7