Archiv


Der Rausch des Rasens

Schnelligkeit: zu Beginn der menschlichen Evolution war sie eine Überlebensfrage. Und heute? Wohl kaum mehr. Doch geblieben ist der Kitzel der Geschwindigkeit. Nur hat er sich verlegt - von der freien Wildbahn auf die freie Autobahn.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Das Auto ist ein schönes Beispiel für die Kultivierung urzeitlicher Triebe. Es dient ja, wie wir alle wissen, nicht nur der Beförderung von A nach B, sondern auch dem Ausleben von etwas, das in uns sitzt, das uns besitzt, das stärker ist als wir – nämlich das Rasenmüssen. Der Tempodrang, der Hang zur Hochgeschwindigkeit ist keineswegs ein Phänomen der Gegenwart und auch nicht der Moderne. Im Gegenteil: er ist in zerebralen Tiefenschichten unserer Evolution verankert, denn Schnelligkeit war einstmals eine Überlebensfrage. Fressen oder Gefressenwerden – das entschied sich früher durch die Leistungskraft der Beinmuskeln. Rasches Rennen stand in direkter Relation zum Speiseplan, und es gehört gewiss zu den großen zivilisatorischen Errungenschaften des Homo Sapiens, dass er im Lauf seiner Entwicklung diese direkte Relation abschaffte.

    Aber den Kitzel der Geschwindigkeit – den hat er behalten: den Machtrausch des Kriegenkönnens. Nur wurden diese Jagdrituale von der freien Wildbahn auf die freie Autobahn verlegt. Und wenn der Jäger den Gejagten kriegt, dann fließt – meistens jedenfalls – kein rotes Blut mehr, sondern es genügt, die roten Rücklichter zu zeigen. Dies ist überhaupt die ultimative Erfüllung aller Autofahrersehnsüchte, der Höhepunkt auf linker Spur, der tausendfältige Orgasmus. Man kann den Überholten gewissermaßen die roten Rücklichter rausstrecken. Das Gefühl, das sich dann einstellt, das ist deutsche Innerlichkeit. Da bricht unser innerer Schumi durch und weist zurück aufs Holozän.

    Im Holozän war allerdings der Sprit noch nicht so teuer. Doch leider ist das Holozän-Benzin inzwischen alle und keine Regierung kann mehr irgendwelche Notreserven auf den Markt bringen. Stattdessen müssen wir im Feinstaub kriechen und um unsere deutschen Arbeitsplätze bangen, weil jetzt alle Welt hybride Autos baut. Dem Hybridauto gehört bekanntlich die Zukunft. Nur: Was ist ein Hybridauto? So eine Art Zentaur unter den Kraftfahrzeugen – vorne Auto und hinten Schiff? Oder eine Kreuzung aus Rikscha und Raumfähre? Bei VW arbeiten sie an einer Kombination aus Puff und Auspuff – die hat besonders dem Betriebsrat gut gefallen.

    Es ist aber eigentlich egal, ob sich der Wagen mit Windkraft, Wasserkraft oder Schwerkraft fortbewegt – nur schnell muss er sein. Warum? Weil der Mensch von Angst getrieben ist. Angst wovor? Vor dem zu kurzen Leben. Deshalb muss der Mensch mehr Kilometer in weniger Stunden zurücklegen, mehr Raum in die Zeit packen. Aus Angst vor dem Tod versucht er, ihm davonzufahren. Und fährt ihm doch bloß entgegen.

    Wir möchten das allerdings nicht so stehen lassen. Wir glauben, dass es auch einfach schön sein kann, in einem dicken Auto schnell zu fahren. Es ist der Fortschritt als solcher, der sich hier zeigt – und nicht von ungefähr ist Fortschritt selbst eine Bewegungsmetapher. Schließlich treten wir auch in der Weltgeschichte gern aufs Gaspedal; der Vorwärtstrieb des Menschen kennt einfach keine Grenzen.