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"Der Reigen oder Vivre sa vie" in Leipzig
Keine Dramaturgie, nirgends

Arthur Schnitzlers Theaterstück "Der Reigen" über das vergebliche Bemühen, Sex und Seele auseinanderzuhalten, und Jean-Luc Godard "Vivre sa vie" über das Leben einer Prostituierten in den 1960ern: Beide Werke hat Jungregisseur Philipp Preuss am Schauspiel Leipzig beherzt in einen Mixer geschüttet.

Von Alexander Kohlmann | 01.02.2014
    Daniela Keckeis (v.) und Felix Axel Preißler (Projektion) in "Der Reigen oder Vivre sa vie" am Leipziger Schauspiel
    Daniela Keckeis (v.) und Felix Axel Preißler (Projektion) in "Der Reigen oder Vivre sa vie" am Leipziger Schauspiel (Rolf Arnold/Schauspiel Leipzig)
    Ein Film lebt von der Montage. Von der Möglichkeit der Regie durch Bildauswahl und Schnitt den Blick des Zuschauers zu fokussieren und zu lenken. Das Theater bietet im Gegensatz dazu ein großes Panorama, aus dem, wenn man so will, jeder Zuschauer seine eigene Fassung im Kopf montieren kann. Bei der Adaption von Schnitzlers "Reigen" und Godards Prostituierten-Drama "Vivre sa vie" versucht Regisseur Philipp Preuss mit enormen technischen Aufwand, in einem Theaterraum Möglichkeiten einer filmischen Montage zu schaffen.
    Nur etwa 150 Zuschauer haben auf der kleinen Tribüne Platz, die auf der Leipziger Hinterbühne aufgebaut ist. Jenem Spielort, auf den seit Beginn der Intendanz Enrico Lübbe alle Formate verbannt sind, die irgendwie experimentell daher kommen. Und experimentell ist in Leipzig heute jeder Text, der kein lupenreiner dramatischer Klassiker ist. Sechs Schauspieler räkeln sich vor dem eisernen Vorhang, hinter dem der Zuschauerraum liegt. Gekleidet sind sie in historisierenden Huren-Kostümen und sprechen im Chor den ersten Dialog aus Godards Film. "Ich weiß nicht, ich frage mich, was ich mir eigentlich vorstelle. Hat er mehr Geld als ich. Und wenn schon. Dir fehlt wohl was. Was spielt Geld denn für eine Rolle."
    Für all diejenigen unter den Zuschauern, die Godards Film nicht am Tag der Aufführung schnell noch einmal angesehen haben, ist bereits dieser Einstieg eine ziemlich unverständliche Nummer. Ohne die konkrete Situation bleibt nichts von der Essenz der kühl beobachteten Godard Szene übrig, nicht mal die Sprache, denn gesprochen wird an diesem Abend konsequent eine deutsche Übersetzung. Lange wundern kann man sich über diesen Einstieg allerdings nicht, weil die Drehbühne, auf der das Publikum sitzt, sich zu drehen beginnt. Und damit bis fast zum Schluss nicht mehr aufhören will - bis einem schwindelig wird.
    Daran ist allerdings nicht nur das Drehen schuld, sondern die Flut an völlig ungefilterten Bildwelten aus Schnitzlers "Reigen" und aus Godards Film, die vor einem erscheinen und wieder verschwinden. Da geht es vorbei an einer Art surrealem Badezimmer, in dem es vor drei Waschbecken in einem Sessel zur Sache geht. Vorbei an einem rot ausgekleideten Kaminzimmer, in dem ein angedeuteter Blowjob für Feuer sorgt. Dazwischen ein dunkler, roter Bordellflur mit kleinen, pittoresken Lämpchen an den Wänden und - in unerreichbarer Ferne - ein Exit Schild.
    Um den Drehschwindel der visuellen Eindrücke noch zu verstärken, werden all die kleinen, scheinbar willkürlich montierten Kabinettsstücke auch noch gefilmt und auf die Wände projiziert. Auch wenn man sich schon an der Szene vorbeigedreht hat, kann man das Geschehen so weiterverfolgen - und hören.
    Viel Technik, wenig Ertrag
    In den Szenen aus Schnitzlers "Reigen" führt das zu dem schönen Effekt, dass die Anbahnung des Liebesaktes live verfolgt werden kann, der Akt selber nur schemenhaft auf den Videobildern zu erahnen ist und nach der nächsten Umdrehung alles vorbei und die Figuren bereits am Abwickeln ihrer kurzen körperlichen Begegnungen sind.
    Dazwischen irrlichtern Szenen und Motive aus Godards Film, scheinbar zufällig und unsortiert. Und über weite Strecken auch völlig unverständlich. Denn der technische Aufwand, den diese Inszenierung betreibt, steht in keinerlei Verhältnis zum Ertrag. Da werden plötzlich Szenen aus einer "Jeanne d'Arc"-Verfilmung eingeblendet, die Godards Heldin in einem Pariser Kino ansieht, dann dreht die Bühne an seidenen Vorhängen vorbei, die in sich zusammenfallen und eine Reihe Kinostühle mit zwei Männern zum Vorschein kommen lassen. Die sprechen in Godards Setting Schnitzlers Texte, bevor sie in einem homosexuellen Akt zusammenfinden. Später taucht Godards Heldin verfünffacht auf der Bühne auf und muss sich von einer Art diabolischem Conferéncier über die Liebe und das Leben allgemein belehren lassen.
    Eine irgendwie geartete dramaturgische Klammer ist nirgends zu erkennen. Jenseits der Schauwerte, die diese Geisterbahnfahrt durch literarische Bordell-Welten von vorgestern mit sich bringt, ist der Abend eine einzige intellektuelle Unterforderung. Die am besten mit einem Bild aus der Inszenierung selber beschrieben ist: Ganz zum Ende öffnet sich der eiserne Vorhang zum Zuschauerraum, in dem ein Geisterpublikum nach dem Ende einer Aufführung den Saal verlässt. Eine raffinierte Projektion eines Videos lässt die völlig leeren Reihen gefüllt, die Menschen aus Licht lebendig erscheinen. Doch als die Projektion erlischt, ist dort niemand mehr, außer den sechs Schauspielern mit ihren schwarzen Perücken - gekleidet, wie die Heldin aus Godards Film. Ohne das technische Spektakel bleiben Zuschauer und Schauspieler an diesem konzeptionslosen Abend alleine zurück - alleine, in einem gähnend leeren Theater.